Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments

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Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments
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Dominic Blauth / Michael Rydryck / Michael Schneider

Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments

Eine Festschrift für Stefan Alkier zum 60. Geburtstag

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen


ISSN 1862-2666

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-7720-8734-9 (Print)

ISBN 978-3-7720-0144-4 (ePub)

Inhalt

  Stefan Alkier

  Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie

  Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments

 Hermeneutik der FreundschaftJesus und seine Freunde1 Freundschaft – enzyklopädische Annäherungen2 Freundschaft im Neuen TestamentLiteraturFreundschaft als Haltung und Praxis1 „Wem der große Wurf gelungen…“ – Freundschaft als mentales Modell2 „sine me nihil potestis facere“ – Freundschaft als Habitus und Agency3 „vos autem dixi amicos“ – Freundschaft in asymmetrischen Beziehungen4 „non vos me elegistis, sed ego elegi vos“ – Die Freundschaft des Kaisers5 „vos amici mei estis, si feceritis quae ego praecipio vobis“ – Die Freundschaft Jesu6 „obsecro te“ (per amicitiam) – Die Freundschaft des PaulusLiteratur„Freunde sind wie Sterne“1 Einleitung2 Zum Konzept der Konstellation3 Konstellation als hermeneutisches Konzept – Eine Skizze4 Konstellationen von Freundschaft in den johanneischen Schriften5 FazitLiteratur

 Entwürfe der FreundschaftZiemlich beste Freunde1 Theophilus als Erzähladressat und die Schaffung einer Kommunikationssituation2 Frohbotschaftliche Freundschaftsbande3 Ziemlich beste Freunde4 FazitLiteraturDer ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen TestamentLiteratur„An diesem Tag aber wurden Herodes und Pilatus Freunde“1 Rezeptionen im zweiten und frühen dritten Jahrhundert2 Spätere antike Rezeptionen3 FazitLiteraturDie Bedeutung der Freundschaft in der Philosophie Epikurs1234LiteraturGottesgebet und Freundesnot1 Einleitung2 Vom Beten und Erhörtwerden (Lk 11,1–13)3 What a friend we have in JesusLiteraturDas Recht der Freundschaft1 Zumutungen der Freundschaft: Unverfrorenheit2 Zumutungen der Freundschaft: Unverschämtheit3 Zumutungen der Freundschaft: Das Recht des Dritten4 Das Recht der Freundschaft im sozialphilosophischen KontextLiteratur

  Verzeichnis der Beitragenden

Stefan Alkier

in Freundschaft

zum 60. Geburtstag

Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie

Zum 30. Band der Reihe NET

Der hiermit vorliegende 30. Band von NET gibt – 20 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – Gelegenheit zum Rückblick und Ausblick.

Die NET-Reihe wurde im Jahre 2001 durch François Vouga (Bethel), Oda Wischmeyer (Erlangen) und Hanna Zapp (Darmstadt) begründet. Im Jahr 2004 kam Friedrich Wilhelm Horn (Mainz) in den Herausgeberkreis hinzu, im Jahr 2010 traten Jens Herzer (Leipzig) und Eve-Marie Becker (damals Aarhus) an die Stelle von François Vouga in den Herausgeberkreis ein. Von Band 21 bis 27 war Kathy Ehrensperger (damals Basel) Mitherausgeberin von NET. Bei dem hier vorliegenden Band 30 erfolgt ein erster Generationswechsel: An die Stelle von Oda Wischmeyer, Hanna Zapp und Friedrich Wilhelm Horn treten Angela Standhartinger (Marburg) und Florian Wilk (Göttingen) in den Herausgeberkreis ein.

Im ersten Band („Was ist ein Text?“, hg. v. Oda Wischmeyer/Eve-Marie Becker, 2001) wurde das Profil der Reihe durch deren Herausgeber und Herausgeberinnen seinerzeit u.a. wie folgt beschrieben (S. V):

„Wir Herausgeberinnen und Herausgeber denken, dass das Neue Testament für das Gespräch über die Bedeutung des Christentums in der Gesellschaft, über die zukünftigen Aufgaben der Kirchen und über die ethische Verantwortung in der europäischen Kultur auch in Zukunft von unbedingter Wichtigkeit ist. […] Wir sind der Meinung, wissenschaftliche Exegese sei eine theologische Kunst, wesentliche Aussagen neutestamentlicher Texte und Themen mit gegenwärtigen Fragen des Glaubens und Lebens ins Gespräch zu bringen.“

Diesem Anspruch blieb NET in verschiedener Hinsicht verbunden: Neben der Veröffentlichung exegetischer Spezialmonographien und Aufsatzsammlungen sowie grundlegender Arbeiten zur neutestamentlichen Hermeneutik (zur Übersicht über die Einzeltitel s. die Verlagshomepage) hat die NET-Reihe regelmäßig auch den Brückenschlag zur Vermittlung neutestamentlicher Wissenschaft in die kirchliche, schulische und allgemein-gesellschaftliche Öffentlichkeit unternommen. Zu der Veröffentlichung deutschsprachiger Forschung trat ab 2018 (Band 28) auch die anglo-amerikanische Perspektive hinzu.

Der hiermit vorliegende 30. Band nimmt mit dem Titel „Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments“ wichtige Grundfragen auf, die die NET-Reihe seit ihrer Gründung motivierten. Zukünftige Veröffentlichungen werden u.a. noch einmal verstärkt die globale Bedeutung neutestamentlicher Exegese bedenken.

Als gegenwärtige Reihenherausgeberinnen und -herausgeber freuen wir uns, dass NET 30 als eine Festschrift für Stefan Alkier (Frankfurt) erscheint, einen mehrfachen Autor der NET-Reihe, und mit dem Thema „Freundschaft“ – einem wesentlichen Motor frühchristlicher Gruppen- und Gemeindebildung – kulturwissenschaftliche Fragen zur Erforschung der antiken Welt mit theologischer Exegese verbindet.

Zugleich möchten wir anlässlich des runden Geburtstags – 20 Jahre NET und 30 Bände – vielfachen Dank aussprechen: Wir danken den Gründungsvätern und -müttern der NET-Reihe, auf deren Schultern wir gewissermaßen stehen; wir danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern zur NET-Reihe in 20 Jahren, die NET konkrete Gesichter verliehen haben; und wir danken dem Francke Verlag (Tübingen/Basel) für die stets vertrauensvolle und produktive Zusammenarbeit.

Eve-Marie Becker, Jens Herzer, Angela Standhartinger, Florian Wilk

Münster, Leipzig, Marburg, Göttingen im März 2021

Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments

Vorwort der Herausgeber

Spannungen und Konflikte, Feindschaften und Antagonismen prägen Texte und Kontexte des Neuen Testaments. Mit den Konstellationen und Modalitäten dieser Gegensatzbeziehungen hat sich Stefan Alkier in den Jahrzehnten seines akademischen Wirkens in Forschung und Lehre intensiv auseinandergesetzt. Beginnend mit seiner Dissertation beschäftigten ihn differente und diverse, aber auch dialogische Konstellationen sowie deren produktive wie destruktive Implikationen in Literaturwissenschaft, Semiotik und Kirchengeschichte, in der neutestamentlichen Wissenschaft und der kirchlichen Praxis. Kurzum: Stefan Alkier ist mit seiner wissenschaftlichen Haltung und Praxis stets für eine relevante Theologie in Universität, Schule, Kirche und Gesellschaft eingetreten.

Was liegt also näher, als der Spannung die Symmetrie, dem Konflikt die reziproke Übereinstimmung, der Feindschaft die Freundschaft an die Seite zu stellen und genau diesen Fragestellungen einen Sammelband zu widmen? Wir freuen uns, dass im vorliegenden Band nunmehr sechs ganz unterschiedliche und zugleich dialogische Perspektiven auf das Thema Freundschaft eröffnet werden: Kristina Dronsch entfaltet das Thema der Gottesfreundschaft im Lukasevangelium und nimmt dabei die Figur des Theophilus in den Blick. Sylvia Usener fragt nach dem Idealbild des Freundes in der griechischen Tragödie und blickt aus dieser Perspektive auf die neutestamentlichen Texte. Tobias Nicklas beleuchtet die besondere Freundschaft zwischen Pilatus und Herodes Antipas im Lukasevangelium und der Rezeptionsgeschichte. Thomas Paulsen fragt nach der Bedeutung von Freundschaft in der Philosophie Epikurs. Der Beitrag von Werner Kahl betrachtet die Freundschaftsthematik ausgehend von Lukas 11 und seinen Parallelen. Eckart Reinmuth thematisiert im abschließenden Aufsatz Zumutungen der Freundschaft und das Recht der Freundschaft. Die drei Herausgeber führen mit ihren Beiträgen auf unterschiedliche Weise in die Konzepte, Praktiken und Konstellationen von Freundschaft in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments ein.

 

Der hier vorgelegte Sammelband erscheint im Kontext des vom LOEWE-Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkts „Religiöse Positionierung. Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ an der Goethe-Universität Frankfurt und der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dem Center Religionsforschung und Theologie (RuTh) der Goethe Research Academy For Early Career Researchers (GRADE) und dem Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität danken wir herzlich für die Unterstützung der Arbeit an diesem Band.

Wir danken den Herausgeberinnen und Herausgebern der Neutestamentlichen Entwürfe zur Theologie (NET) für die Aufnahme in die Reihe als doppelter Jubiläumsband im zwanzigsten Jahr des Bestehens und als dreißigster Beitrag zur Reihe. Unser besonderer Dank gilt Kristina Dronsch, Valeska Lembke und Corina Popp vom Verlag Narr Francke Attempto. Unserer langjährigen Weggefährtin Kristina Dronsch verdanken wir auch die Anregung für das Thema dieses Bandes. Zu Dank verpflichtet sind wir darüber hinaus Ricarda Bosse und Simon Dittmann für ihre Unterstützung bei den Korrekturarbeiten.

Der 60. Geburtstag und die wissenschaftliche Arbeit von Stefan Alkier haben den Anlass zu diesem Sammelband gegeben sowie die Auswahl der Thematik und der Beitragenden bestimmt. Ihm sei dieses Buch gewidmet.

Dominic Blauth, Michael Rydryck, Michael Schneider

Frankfurt am Main im März 2021

Hermeneutik der Freundschaft
Jesus und seine Freunde

Aspekte des Freundschaftsdiskurses im Neuen Testament

Michael Schneider

1 Freundschaft – enzyklopädische Annäherungen
1.1 Freundschaft in der Kultur der Gegenwart

Social Media, insbesondere Facebook, hat in der Gegenwartskultur zu einer Inflation der Freundschaften geführt.1 Die meisten Profile verzeichnen hunderte oder sogar mehr als tausend Freunde. Viele Freundschaften verweisen auf eine tatsächliche natürliche Person oder sogar eine ‚Person des Öffentlichen Lebens‘ hinter dem Account. Ein Konto mit sehr wenigen Freunden wird dagegen schnell als Fake Account entlarvt, der eine Freundschaft lediglich für bestimmte Zwecke – Veröffentlichung mehr oder weniger wirrer politischer Botschaften und Kommentare, Ausspähen anderer oder gar Verbreiten von Schadsoftware – missbraucht. Die große Zahl veranlasst Facebook wiederum zu einer Differenzierung, Strukturierung und Klassifizierung innerhalb der Freundschaften: Ich soll markieren, welche Freunde zur Familie gehören und welche Freunde der Kategorie ‚Enge Freunde‘ zuzurechnen sind. Diesen besonderen Freunden kann ich auch besondere Rechte zuweisen; ich kann entscheiden, welche Informationen welche Gruppe von Freunden sehen kann. Und verschiedene Algorithmen helfen mir dabei, neue Freunde zu finden – über möglichst viele Gemeinsamkeiten, den gleichen Wohn- oder Geburtsort, den gleichen Arbeitgeber oder die Zugehörigkeit zu den identischen Gruppen. Und natürlich bieten sich solche Personen als Freunde an, mit denen ich möglichst viele gemeinsame Freunde habe, also Freunde von Freunden. Und auch für den Prozess des Anfreundens hält das System bestimmte Mechanismen bereit und prägt seine ganz eigenen Neologismen wie ‚Freundschaftsanfrage‘ oder ‚Freundschaftsvorschlag‘. Und schließlich gibt es unterschiedliche Bewertungen dieser Freundschaften: Sind solche Facebook-Freunde überhaupt ‚richtige Freunde‘, ist eine Social Media-Freundschaft eine ‚echte Freundschaft‘? Hat sich im Vergleich zur Brieffreundschaft lediglich das Medium geändert oder setzt eine ‚echte Freundschaft‘ wie auch immer gearteten persönlichen Kontakt im ‚echten Leben‘ voraus?2 Die Pandemie-Situation im Jahr 2020 hat diese Fragen noch einmal zugespitzt: Welche Beziehungsebenen des analogen Lebens (Arbeit, Unterricht, Freizeit, Freundschaft) lassen sich überhaupt in die digitale Welt verlagern? Funktioniert diese Verlagerung ‚verlustfrei‘ oder verändern sich Arbeit, Unterricht, Freizeit und eben auch Freundschaft dadurch?

Diese kurzen assoziativen Überlegungen ließen sich noch einmal vertiefen, indem man auf verschiedene Social Media-Dienste und deren jeweiliges System von Beziehungen schaut. Einige führen den Freundesbegriff direkt im Namen (wie z.B. Stayfriends), andere, wie die insbesondere bei Jugendlichen3 noch beliebtere Plattform Instagram sprechen statt von ‚Freunden‘ und ‚Freundschaft‘ von ‚Follower‘ und ‚Folgen‘. Wenn ich als Theologe von ‚Freundschaft‘ oder ‚Nachfolge‘ spreche, und auch wenn ich als Neutestamentler über die Semantik von φιλία oder ἀκολουθέω nachdenke, stehen diese enzyklopädischen Aspekte der Gegenwart im Hintergrund. Auch ohne dass Facebook einen Entwurf von Freundschaft offenlegt oder gar philosophisch diskutiert, lassen sich relativ schnell einige Merkmale des zugrundeliegenden Freundschaftskonzepts zusammenstellen. Zugleich zeigt sich, dass diese implizite Konzeption von Freundschaft einigermaßen typisch für unser gegenwärtiges Alltagsverständnis von Freundschaft insgesamt ist.

Ein solches Alltagsverständnis von Freundschaft lässt sich im Anschluss an Svenja Wiertz in fünf wesentlichen Aspekten umreißen.4 Zunächst einmal bezeichnen wir mit Freundschaft grundlegend ein gegenseitiges, reziprokes und in gewissem Sinne auch symmetrisches Verhältnis. Schon sprachlich ist offensichtlich, dass ‚befreundet sein‘ das gegenseitige Verhältnis von wenigstens zwei Personen bezeichnet. Ohne dass ein Gegenüber benannt (‚Ich bin befreundet.‘) ist, kann das Verb nicht sinnvoll gebraucht werden. Am Beispiel Facebook ist dieser Aspekt unmittelbar evident: Freundschaften bilden sich jeweils in zwei Freundeslisten ab – mein Freund hat für mich denselben Status wie ich für den Freund. Etwas umstrittener als die Gegenseitigkeit und die Reziprozität ist die Notwendigkeit einer Symmetrie innerhalb eines freundschaftlichen Verhältnisses. Wenn in der Alltagssprache auch die Begriffe Tierfreund oder Kunstfreund vorkommen, so ist unklar, ob damit eine reziproke Freundschaft gemeint sein kann. Problematisch ist dabei die Frage, ob ein Tier oder ein Kunstwerk eben auch umgekehrt den Tierfreund oder den Kunstfreund freundschaftlich zugewandt sein kann, die Beziehung also als symmetrisch und reziprok bezeichnet werden kann. Im theologischen Kontext stellt sich die Frage nach der Symmetrie insbesondere beim Topos der Gottesfreundschaft. Lässt sich in diesem Sinne von Freundschaft zwischen Gott und Mensch sprechen, ohne dass dies notwendigerweise zur Vermenschlichung Gottes bzw. der Aufhebung einer kategorialen Unterscheidung führt?

Zweitens beschreibt Freundschaft eine Beziehung, die prinzipiell positiv besetzt ist und auf Zuneigung basiert. Demgegenüber etabliert das Konzept der Feindschaft zwar auch eine Beziehung,5 die aber gerade auf einem Gegensatz bzw. auf Abneigung fußt. Sodann setzt Freundschaft eine Form der Vertrautheit, wenigstens aber die gegenseitige Kenntnis voraus; mit dem gänzlich Fremden und Unbekannten kann ich nicht befreundet sein.6 Gerade in der Gegenwart wird Freundschaft von anderen Verbindungen, etwa denen innerhalb der Familie, dadurch abgegrenzt, dass hier (vermeintlich) eine freiwillig gewählte Beziehung vorliegt – „Freunde kann man sich aussuchen“. Und schließlich geht es beim Phänomen der Freundschaft um eine Beziehung auf persönlicher Ebene. Es handelt sich also um „Beziehungen, die Personen untereinander als genau diese und nur diese Personen haben: nicht aufgrund bestimmter Rollen, die sie erfüllen.“ 7

Im Anschluss an diese alltagssprachlichen Beobachtungen schlägt Wiertz vor, den Begriff der Freundschaft in der Gegenwart nach Bindungsstil (eher vorläufig/eher verbindlich) und Praxisausrichtung (Spaß/Kommunikation/Nutzen) zu differenzieren. Im weiteren Verlauf ihrer Studie skizziert sie sodann drei stereotype Freundschaftsformen der „komplexen Spaßfreundschaft“, der „kommunikationsorientierten Anerkennungsbeziehung“ und der „quasi-familiären Beistandsgemeinschaft“8.

1.2 Freundschaft im griechischen und lateinischen Diskurs

Das Beispiel aus dem Bereich Social Media sowie der kurze Blick auf einen Alltagsbegriff von Freundschaft sollen genügen, um den enzyklopädischen Rahmen abzustecken, der auch für eine gegenwärtige Lektüre biblischer Texte gilt.1 Bleibt dieses gegenwärtige Verständnis von Freundschaft bei der theologischen Betrachtung von Freundschaft in den biblischen Texten unberücksichtigt, werden diese zu historischen Dokumenten einer längst vergangenen Zeit.2 Natürlich sind die biblischen Texte aber in einem bestimmten zeitlichen und kulturellen Kontext entstanden und erhalten durch die dort wirkmächtigen Texte einen bestimmten intertextuellen Deutungsraum.

Der relativ umfangreiche Freundschaftsdiskurs im antiken Griechenland wurde geprägt von den philosophischen Überlegungen des Aristoteles. Umfangreiche Diskussionen zur φιλία finden sich insbesondere in der Nikomachischen Ethik, wo er Freundschaft als „Wohlwollen, das auf Gegenseitigkeit beruht / εὔνοιαν γὰρ ἐν ἀντιπεπονθόσι“ (1155b) bezeichnet. Auf den immer wieder zur Bestimmung des aristotelischen Freundschaftsbegriffs herangezogenen Abschnitt 1168b sei auch hier verwiesen:

οἷς ὁ φίλος ὁρίζεται: εἴρηται γὰρ ὅτι ἀπ᾽ αὐτοῦ πάντα τὰ φιλικὰ καὶ πρὸς τοὺς ἄλλους διήκει. καὶ αἱ παροιμίαι δὲ πᾶσαι ὁμογνωμονοῦσιν, οἷον τὸ μία ψυχὴ καὶ κοινὰ τὰ φίλων καὶ ἰσότης φιλότης3

Für Aristoteles sind die hier genannten drei Aspekte von Freundschaft Allgemeingut, das sich bereits in festen Redewendungen bzw. Sprichwörtern (παροιμίαι) wiederfindet:

 Freunde sind „ein Herz und eine Seele“ (μία ψυχή),

 Freunde teilen gemeinsamen Besitz (κοινὰ τὰ φίλων) und

 Freundschaft drückt sich durch Gleichheit (ỉσότης φιλότης) aus.

Während verschiedene Arbeiten, die die aristotelische Bestimmung des Freundschaftsbegriffs für die Auslegung biblischer Texte heranziehen, auf diese Eigenschaften von Freundschaft verweisen, bleibt der Kontext von Abschnitt 1168a/b häufig unbeachtet. Aristoteles nimmt nämlich die φιλία hier unter einer ganz bestimmten Leitfrage in den Blick:

ἀπορεῖται δὲ καὶ πότερον δεῖ φιλεῖν ἑαυτὸν μάλιστα ἢ ἄλλον τινά.

Es geht zunächst also einmal um eine Klärung, inwieweit sich φιλία auf die eigene Person erstrecken kann und wie dann das Verhältnis dieser Selbst-Freundschaft zur Freundschaft mit anderen bestimmt ist. Deshalb fügt Aristoteles den drei Redewendungen eine weitere hinzu (καὶ γόνυ κνήμης ἔγγιον·) und schreibt resümierend:

πάντα γὰρ ταῦτα πρὸς αὑτὸν μάλιστ' ἂν ὑπάρχοι· μάλιστα γὰρ φίλος αὑτῷ· καὶ φιλητέον δὴ μάλισθ' ἑαυτόν.

Somit ist der Einzelne nach Aristoteles sich selbst am meisten Freund (μάλιστα γὰρ φίλος αὑτῷ) und muss sich daher selbst am meisten lieben (φιλητέον μάλισθ' ἑαυτόν). Dieser grundlegende Gedanke ist bereits zu Beginn des Abschnitts 1166a angelegt:

τὰ φιλικὰ δὲ τὰ πρὸς τοὺς πέλας, καὶ οἷς αἱ φιλίαι ὁρίζονται, ἔοικεν ἐκ τῶν πρὸς ἑαυτὸν ἐληλυθέναι. τιθέασι γὰρ φίλον τὸν βουλόμενον καὶ πράττοντα τἀγαθὰ ἢ τὰ φαινόμενα ἐκείνου ἕνεκα, ἢ τὸν βουλόμενον εἶναι καὶ ζῆν τὸν φίλον αὐτοῦ χάριν· ὅπερ αἱ μητέρες πρὸς τὰ τέκνα πεπόνθασι, καὶ τῶν φίλων οἱ προσκεκρουκότες.

Das freundschaftliche Verhalten zu den Menschen, die uns nahestehen, und das, was für die Arten der Freundschaft bestimmend ist, scheint sich aus dem Verhalten zu uns selbst zu ergeben. Denn als Freund gilt, wer das Gute oder was ihm als solches erscheint, um des anderen willen wünscht und tut, oder wer um des Freundes willen wünscht, dass es diesen gibt und dieser lebt. So geht es Müttern mit ihren Kindern und Freunden, die sich zerstritten haben.

[…]

τούτων δέ τινι καὶ τὴν φιλίαν ὁρίζονται. πρὸς ἑαυτὸν δὲ τούτων ἕκαστον τῷ ἐπιεικεῖ ὑπάρχει

Durch eines dieser Merkmale bestimmt man auch die Freundschaft. Jedes davon findet sich beim Guten in Bezug auf sich selbst.

Genauso wie unser Verhalten im Verhältnis zu uns selbst nach dem Guten strebt,4 sieht Aristoteles also Freundschaft als Grundlage für das Handeln für andere. Umgekehrt ist das persönliche Glück auch abhängig vom Schicksal der Freunde.

Für das Verständnis der aristotelischen Freundschaftskonzeption, und damit auch einer enzyklopädischen Voraussetzung von Leserinnen und Lesern der neutestamentlichen Schriften im 1.Jahrhundert, lohnt sich ein weiterer Blick in Buch 8 und 9 der Nikomachischen Ethik. In dem auf den eben zitierten Textabschnitt folgenden (1169a) wird noch offensichtlicher, dass Freundschaft hier als Topos einer nach dem Guten strebenden Tugendethik verstanden wird:

 

 Der Gute soll sich selbst lieben (τὸν μὲν ἀγαθὸν δεῖ φίλαυτον εἶναι).

 Für den Schlechten besteht ein Zwiespalt zwischen dem, was er tun soll und dem, was er tatsächlich tut (τῷ μοχθηρῷ μὲν οὖν διαφωνεῖ ἃ δεῖ πράττειν καὶ ἃ πράττει·), während für den Guten Tun und Sollen zusammenfällt (ὁ δ' ἐπιεικής, ἃ δεῖ, ταῦτα καὶ πράττει·).

 Die Vernunft eines jeden Menschen wählt das für sie Beste (πᾶς γὰρ νοῦς αἱρεῖται τὸ βέλτιστον ἑαυτῷ) und der Gute gehorcht eben dieser Vernunft (ὁ δ' ἐπιεικὴς πειθαρχεῖ τῷ νῷ.).

 Der gute Mensch tut vieles für die Freunde und das Vaterland (καὶ τὸ τῶν φίλων ἕνεκα πολλὰ πράττειν καὶ τῆς πατρίδος) bis hin zur Inkaufnahme des eigenen Todes (κἂν δέῃ ὑπεραποθνήσκειν·).

Obwohl es für Aristoteles im Allgemeinen erstrebenswert scheint, Freundschaften aufzubauen und zu pflegen, bleibt für ihn zunächst offene Frage, ob glückliche bzw. selige und autarke Menschen der Freundschaft bedürfen:

ἀμφισβητεῖται δὲ καὶ περὶ τὸν εὐδαίμονα, εἰ δεήσεται φίλων ἢ μή. οὐθὲν γάρ φασι δεῖν φίλων τοῖς μακαρίοις καὶ αὐτάρκεσιν· ὑπάρχειν γὰρ αὐτοῖς τἀγαθά· αὐτάρκεις οὖν ὄντας οὐδενὸς προσδεῖσθαι, τὸν δὲ φίλον, ἕτερον αὐτὸν ὄντα, πορίζειν ἃ δι' αὑτοῦ ἀδυνατεῖ· ὅθεν ὅταν ὁ δαίμων εὖ διδῷ, τί δεῖ φίλων;

Eine Streitfrage ist es auch, ob der Glückliche Freunde braucht oder nicht. Man sagt nämlich, dass die glückseligen und autarken Menschen keiner Freunde bedürften, da sie ja schon alle Güter hätten; weil sie also autark wären, bräuchten sie zusätzlich nichts mehr, der Freund aber, der ein anderes Ich sei, verschaffe einem, was man von sich aus nicht erreichen kann. Daher auch das Sprichwort: ‚Wenn die Gottheit Gutes gibt, was bedarf es der Freunde?‘

Gleichzeitig möchte Aristoteles auch den Glückseligen das Glück der Freundschaft nicht vorenthalten:

ἔοικε δ' ἀτόπῳ τὸ πάντ' ἀπονέμοντας τἀγαθὰ τῷ εὐδαίμονι φίλους μὴ ἀποδιδόναι, ὃ δοκεῖ τῶν ἐκτὸς ἀγαθῶν μέγιστον εἶναι.

Andererseits erscheint es unlogisch, dass man dem Glücklichen, wenn man ihm schon an allen Gütern Anteil gibt, Freunde vorenthält, was doch als das größte unter den äußeren Gütern gilt.

Neben dieser grundlegenden Bestimmung von Freundschaft bietet die Nikomachische Ethik (jeweils in Abschnitt 1156a) unterschiedliche Differenzierungen der φιλία. Neben der tugendhaften Freundschaft, die auf das Gute zielt und somit als wahre φιλία bezeichnet werden kann, grenzt Aristoteles die Nutz- und die Lustfreundschaft ab:

οἱ μὲν οὖν διὰ τὸ χρήσιμον φιλοῦντες ἀλλήλους οὐ καθ' αὑτοὺς φιλοῦσιν, ἀλλ' ᾗ γίνεταί τι αὐτοῖς παρ' ἀλλήλων ἀγαθόν.

Diejenigen, die einander wegen des Nutzens lieben, lieben einander nicht als solche, sondern nur sofern ihnen Gutes vom anderen zuteilwird.

ὁμοίως δὲ καὶ οἱ δι' ἡδονήν· οὐ γὰρ τῷ ποιούς τινας εἶναι ἀγαπῶσι τοὺς εὐτραπέλους, ἀλλ' ὅτι ἡδεῖς αὑτοῖς.

Dasselbe gilt für jene, die wegen ihrer Lust lieben; denn sie lieben die Umgänglichen nicht wegen ihrer persönlichen Eigenschaften, sondern weil sie ihnen angenehm sind.

Explizit grenzt Aristoteles noch einmal diese Freundschaftsformen um der Lust bzw. des persönlichen Nutzens wegen von der tugendhaften Freundschaft ab. Diese kann als vollkommen gelten, da die Freunde am Guten teilhaben (1156b):

τελεία δ' ἐστὶν ἡ τῶν ἀγαθῶν φιλία καὶ κατ' ἀρετὴν ὁμοίων·

Vollkommen ist die Freundschaft zwischen Menschen, die gut sind und in ihrer Tugend einander gleichen.

Die wenigen Abschnitte aus der Nikomachischen Ethik ordnen den Freundschaftsdiskurs in eine Anthropologie ein, deren Ideale die großen Konzepte des Guten, des Vollkommenen, des Tugendhaften sind. Nicht umsonst betont der Text abschließend (Abschnitt 1177a), dass diese Ideale im Besonderen durch eine philosophische Existenz und weniger in anderen Lebensbereichen wie der Politik erreicht werden können.5 Insbesondere ist in der theoretischen bzw. philosophischen Existenz die o.g. Autarkie, die nicht mehr auf Freundschaft angewiesen ist, zu erreichen. Sieht man aber von dieser besonderen, nur von wenigen erreichten Lebensform ab, prägt Aristoteles die Vorstellung, dass Freundschaften gut und erstrebenswert sind und gibt in der φιλία zugleich ein Idealbild der zwischenmenschlichen Beziehung vor. Freundschaften sind idealerweise auf Dauer angelegt und dienen nicht in erster Linie dem persönlichen Nutzen oder der Lust, sondern der Tugendhaftigkeit. Freundschaften sind Ziel und zugleich Ausdruck eines Lebens in εὐδαιμονία. Freundschaft bezeichnet somit eine Haltung und ein bestimmtes Verhalten gegenüber den Anderen, aber auch gegenüber sich selbst.

Näher an der Entstehungszeit der neutestamentlichen Schriften ist Ciceros Laelius. De amicitia6 zu verorten. Dieser Text formuliert grundlegend thetisch in Abschnitt 20:

Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benivolentia et caritate consensio.

Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen, verbunden mit Sympathie und Liebe.

Das Streben nach Gutem, nach Vollkommenem und die Vorstellung der Freundschaft als eine Form der Liebe wie bei Aristoteles tritt hier zugunsten eines weitgehenden consensio in nahezu allen vorstellbaren Lebensbereichen zurück. Allerdings schließt diese Übereinstimmung innerhalb des Freundschaftsverhältnisses nicht aus, dass differente Positionen kritisiert werden und auch der Freund selbst kritisiert werden kann.

Haec igitur prima lex amicitiae sanciatur, ut ab amicis honesta petamus, amicorum causa honesta faciamus, ne exspectemus quidem, dum rogemur; studium semper adsit, cunctatio absit; consilium vero dare audeamus libere. Plurimum in amicitia amicorum bene suadentium valeat auctoritas, eaque et adhibeatur ad monendum non modo aperte sed etiam acriter, si res postulabit, et adhibitae pareatur.

Das also soll als oberstes Gesetz der Freundschaft gelten, dass wir von Freunden nur Ehrenhaftes fordern, nur Ehrenhaftes Freunden zuliebe tun, ja dass wir damit gar nicht abwarten, bis wir darum gebeten werden. Wir halten uns stets bereit, da gibt es kein Zögern; auch freimütig unseren Rat zu erteilen sollen wir uns keineswegs scheuen. Größtes Gewicht soll in einer Freundschaft das Ansehen wohlmeinender Freunde haben, dieses Ansehen soll eingesetzt werden, um nicht nur offen, sondern auch, wenn es sein muss, mit Nachdruck zu ermahnen, und wo es geltend gemacht wird, soll man ihm auch gehorchen. (Abschnitt 44)

Überhaupt scheint es bei Cicero ein wesentliches Merkmal der Freundschaft zu sein, sich gegenseitig auf Fehler hinzuweisen, dort die Wahrheit zu sagen, wo der Freund im Irrtum ist (Abschnitte 88f.):

nam et monendi amici saepe sunt et obiurgandi, et haec accipienda amice, cum benevole fiunt. […] Molesta veritas, siquidem ex ea nascitur odium, quod est venenum amicitiae, sed obsequium multo molestius, quod peccatis indulgens praecipitem amicum ferri sinit; maxima autem culpa in eo, qui et veritatem aspernatur et in fraudem obsequio impellitur.

Freunde müssen öfter ermahnt und auch zurechtgewiesen werden, und das hat man freundschaftlich hinzunehmen, wenn es in wohlwollender Absicht geschieht. […] Unangenehm ist die Wahrheit, zumal wenn aus ihr Hass entsteht, ein wahres Gift für die Freundschaft, doch Nachgiebigkeit ist noch unangenehmer, weil sie durch Nachsicht mit Verfehlungen den Freund in sein Unglück rennen lässt. Die meiste Schuld aber liegt bei dem, der zuerst die Wahrheit nicht hören will und sich dann durch die Nachgiebigkeit zum Selbstbetrug verleiten lässt.

Ciceros Position zur Freundschaft umfasst also durchaus das Aussprechen ‚unangenehmer Wahrheiten‘. Innerhalb der Freundschaftsbeziehung besteht sogar die Pflicht, Kritik offen zu verbalisieren, um eine Meinungs- oder Verhaltensänderung zu erreichen und somit vor einem noch größeren Unglück zu bewahren. Eine solche Kritik scheint Cicero insbesondere dann angebracht, wenn sich die Pflichten gegenüber Freunden und die Pflichten gegenüber dem Staat widersprechen. Durchaus in Unterscheidung zu Aristoteles ist der Freundschaftsdiskurs klar im Politischen angesiedelt (Abschnitt 40):

Haec igitur lex in amicitia sanciatur, ut neque rogemus res turpes nec faciamus rogati. Turpis enim excusatio est et minime accipienda cum in ceteris peccatis, tum si quis contra rem publicam se amici causa fecisse fateatur.

Das soll uns also als unverbrüchliches Gesetz in der Freundschaft gelten, dass wir etwas Unehrenhaftes weder erbitten noch es auf Bitten hin tun. Schändlich und keineswegs annehmbar ist nämlich die Entschuldigung – schon bei anderen Verfehlungen, besonders aber bei solchen gegen den Staat –, wenn jemand erklärt, er habe um des Freundes willen so gehandelt.