Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane)

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Weenderveen handelte. Die Zielautomatik visierte den Asteroiden an. Die Plasmakanonen spien zwei grelle Strahllanzen aus, die sich in den Koloss bohrten und ihn aus dem Innern heraus pulverisierten. Ein Hagel Tausender von Steinen prasselte auf die Schilde der Ikarus nieder.

»Frontschilde bei achtzig Prozent«, rief Sonja.

»Trooid, Asteroid auf drei Komma acht!«, tönte Weenderveens Stimme.

Trooid änderte den Kurs, doch im selben Moment kippte das Schiff einfach zur anderen Seite. Sentenza stellte beruhigt fest, dass die Künstliche Intelligenz in das Manöver des Droiden eingegriffen hatte. Aber im nächsten Moment glaubte er doch nicht mehr, dass sie das Richtige getan hatte. Auf dem Hauptschirm tauchte eine gigantische Felsenmasse auf: ein Asteroid so groß wie ein kleiner Mond – und die Ikarus jagte mit Volllast direkt darauf zu!

»Ausweichmanöver, Trooid!«

»Die Steuerung reagiert nicht, Sir!«

»Verflucht, die Kapsel!«, stieß Sonja erschrocken hervor. »Sie explodiert.«

Die Ikarus tauchte – noch immer gelenkt von der KI – in den Asteroidenschatten ab, jagte mit atemberaubender Geschwindigkeit dicht über die Oberfläche des Himmelskörpers hinweg. Fast Haken schlagend wand sich das Schiff um Felsformationen, scharfe Kanten und Scharten.

Dann wurde es schlagartig hell.

Das All stand in einem pulsierenden Atommeer, erstrahlte in einer unermesslichen Lichterflut, die jedes Lebewesen, das Zeuge dieses Ereignisses wurde, in einer Nanosekunde erblinden lassen würde. Selbst durch den sofort vor den Bildschirm geschalteten Filter schmerzte das Gleißen der Explosion in den Augen der Crew, als würde es ihnen jeden Moment das Gehirn herausbrennen. Sentenza kniff die Augen zusammen, doch das Licht stach durch seine Lider, malträtierte seine Netzhäute, bis ihm die Tränen ins Gesicht schossen. Dem gequälten Aufschreien der anderen entnahm er, dass es ihnen nicht besser erging.

Das grelle Licht musste nur wenige Sekundenbruchteile durch die Kommandozentrale der Ikarus geflutet sein, ehe Trooid geistesgegenwärtig den Schirm einfach abschaltete.

Dennoch fühlte sich Sentenza, als hätte er Ewigkeiten in dem Explosionsschein gebadet.

»Erreichen Asteroidenschatten«, verkündete Trooid. Nur kurz darauf traf die energetische Schockwelle das kleine Schiff. Die Ikarus schien von einer unsichtbaren Hand gepackt und durchgeschüttelt zu werden.

»Trägheitsdämpfer versagen!«

Ein Ruck ging durch den Kreuzer. Sentenza fühlte sich für Sekunden wie im freien Fall, wurde dann mit dem Mehrfachen seines Gewichts in den Sitz gepresst und keuchte vor Schmerz auf.

»Gravitationsverlust in Hangar zwei. Schildheckprojektoren auf zwanzig Prozent gefallen. Kritische Strahlungswerte im Maschinenraum. Leichte Beschädigungen an der Außenhülle im Triebwerkbereich.«

Die Schadenmeldungen hämmerten nur so auf Sentenza ein. Trooid, der Einzige, der noch aktionsfähig war, hatte die kompletten Anzeigen auf sein Pult geschaltet.

»Springen … Sie … Trooid!«, presste Roderick Sentenza unter Qualen hervor. Sie mussten dem Inferno durch den Hyperraum entkommen, ehe die Schockwelle sie vollends erwischte.

»Geht nicht, Captain«, antwortete der Droid tonlos. »Um uns sind überall gravimetrische Verzerrungen. Ich kann keinen Kurs berechnen.«

Sentenza fluchte und versuchte, die Lider zu heben. Vor seinen Augen tanzten Sterne und bunte Flecke, die so hell waren, dass er sie sofort wieder schloss. Die Vibrationen und Erschütterungen verebbten, dennoch sah sich der Captain außerstande, sich zu rühren.

»Wir sind durch.«

Irrte er sich oder schwang in Trooids Stimme tatsächlich so etwas wie Erleichterung mit? Sentenza atmete tief durch und blinzelte. Das Bild hatte sich um keinen Deut gebessert. Er schaute nach rechts und glaubte, durch das leuchtende Sternenmeer auf seinen Netzhäuten die Gestalten Sonjas, Weenderveens und Thorpas auszumachen. Der Chief hockte vor einer Konsole und versuchte erfolglos, sich hochzuziehen. Weenderveen und der Pentakka lagen auf dem Boden – offensichtlich bewusstlos.

Das Brückenschott öffnete sich zischend. Sentenza hörte Schritte, dann ein leichtes Sirren und ein plötzliches, lautes Klacken, das von dem Injektor herrührte.

»Warten Sie zwei, drei Minuten«, sagte Dr. Anande neben ihm. »Ihre Sehkraft wird gleich zurückkehren.«

»Woher …?«

»Trooid hat mich informiert.« Dann ging Anande zu den anderen.

Sentenza vermochte nicht zu sagen, ob tatsächlich die vom Doktor angegebene Zeit verstrichen war, doch als ihm das Warten zu langweilig wurde, riss er die Augen einfach auf und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass er wieder halbwegs sehen konnte. Hier und da sprangen noch imaginäre Funken durch sein Blickfeld, doch er konnte die anderen erkennen und das genügte.

»Was zur Hölle ist da passiert, Trooid?« Noch ein wenig schwach stemmte er sich aus dem Sitz und ging zu Sonja hinüber.

»Nichts gebrochen«, sagte Anande, als er alle drei versorgt hatte. »Das hätte schlimmer kommen können.«

»Sagen Sie nicht, das war eine Selbstvernichtung, Trooid«, rief Sonja dem Droiden zu.

Dieser schwang in seinem Sessel herum und ließ mit keiner Miene erkennen, worüber er nachdachte, als er die Mannschaft schweigend musterte.

»Doch«, meinte er schließlich. »Allerdings keine gewöhnliche. Das Energiepotenzial des Maschinenkerns hat sich exponentiell erhöht. Wer immer diese Selbstzerstörung in die Fluchtkapsel integriert hat, wollte nicht nur, dass die Einheit in ihre Atome gesprengt wird, sondern auch noch eine möglichst verheerende Zerstörung im Umfeld der Kapsel erwirken.«

Die anderen starrten Trooid verständnislos an. Es war schon unfassbar genug, dass ein Rettungsfahrzeug mit einer derartigen Einrichtung versehen war. Aber die neue Erkenntnis schlug dem Fass den Boden aus.

Trooid wandte sich wieder den Kontrollen zu und projizierte eine ums Tausendfache verdunkelte Aufzeichnung der Außenbordkameras auf den Hauptschirm.

»Wir haben drei unserer vier Kameras achtern verloren«, sagte der Droid. »Die Linsen haben der Lichtintensität nicht widerstanden, anschließend sind die Gehäuse beim energetischen Schock einfach verdampft. Sehen Sie sich die Aufzeichnung an.«

Sentenza half Sonja beim Aufstehen. Sie stützte sich auf ihn und war dankbar, als er sie in seinen Kommandosessel bugsierte. Als die Trägheitsdämpfer versagt hatten, hatte sie am Pult gestanden und die volle Wucht der Gravitationsbelastung am eigenen Körper erfahren müssen. Ein Wunder, dass sie bereits wieder einigermaßen stehen konnte.

Auch Weenderveen und Thorpa waren nun wach. Der Doktor half ihnen, sich an ihre Stationen zu setzen. Gebannt starrten sie alle zum Schirm und verfolgten den Ablauf der Vernichtung.

Im Zentrum der sternförmigen Fluchtkapsel blähte sich ein gold schimmernder Ball aus Plasmaentladungen auf. Innerhalb von Sekundenbruchteilen brach das Inferno über das Asteroidenfeld herein. Unzählige der Trümmerstücke wurden einfach vaporisiert, größere zersplitterten, sprengten in den Raum hinaus, kollidierten mit anderen und setzten eine nicht aufzuhaltende Kettenreaktion in Gang, die den größten Teil des Asteroidenfeldes zersprengte. Dann schob sich der gewaltige Brocken ins Bild, hinter dem die KI-Steuerung der Ikarus Deckung gesucht hatte. Die Crew konnte sich vorstellen, warum sie überhaupt noch am Leben war. Der riesige Asteroid hatte einen immensen Anteil der Strahlungsenergie absorbiert und die davongeschleuderten Trümmer seiner Nachbarn abgefangen.

»Das war ja verdammt knapp«, kommentierte Darius Weenderveen. »Wo hast du denn so fliegen gelernt, Arthur?«

Trooid setzte zu einer Erwiderung an, doch Sonja DiMersi fiel ihm ins Wort. »Ha! Von wegen, Trooid!« Der Chief funkelte Sentenza wütend an. »Gibt es vielleicht irgendetwas, das ich als Chefingenieur dieses Schiffs wissen müsste, Captain

Sentenza sah Sonja beinahe flehend an. Warum musste sie das ausgerechnet jetzt zur Sprache bringen? Sein Blick wanderte zu den anderen, die ihn neugierig und erwartungsvoll musterten.

»Es gibt tatsächlich etwas, über das wir reden sollten«, sagte Sentenza schließlich. »Ich habe ohnehin schon überlegt, eine Besprechung mit der Crew einzuberufen, aber wir müssen uns jetzt vorrangig um das«, er deutete zum Schirm auf dem Trooid das Bild vom Beginn der Explosion der Fluchtkapsel eingefroren hatte, »dort kümmern. Nach Beendigung unseres Einsatzes werden wir uns über die Modifikationen an der Ikarus unterhalten.«

»Modifikationen?«, horchte Sonja auf und fragte gleich darauf eine Spur schärfer: »Welche Modifikationen?«

»Sonja, bitte …«

Der Chief hob einen Finger und zeigte fast schon anklagend auf den Captain. »Wir sprechen uns später.«

Sentenza seufzte und ließ die Schultern sinken. Nun machte er sich doch Vorwürfe, Sonja nicht vorher eingeweiht zu haben. Wahrscheinlich würde sie ihm das ewig vorhalten. »Trooid, lässt sich anhand der Daten, die wir gesammelt haben, der Ursprungskurs der Fluchtkapsel zurückberechnen? Der Doktor war so frei, unseren einzigen Zeugen zu betäuben.«

Anande fuhr hoch. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass der Mann nur knapp mit dem Leben davongekommen ist.«

Weenderveen deutete auf den Bildschirm. »Knapper, als wir es uns je vorgestellt haben. Nicht auszudenken, wenn wir nicht rechtzeitig hier gewesen wären. Aber wer baut thermonukleare Sprengsätze in eine Rettungskapsel?«

»Ich glaube, ich kann Ihnen mit der Antwort aushelfen.«

Fast synchron schwangen die Besatzungsmitglieder des Corps herum und sahen in das angespannte Gesicht des Priesters Joel Lemore, der im Rahmen der Brückentür stand.

 

»Was machen Sie auf meiner Brücke?«, blaffte Sentenza den Mann an und vergaß dabei ganz, dass er einen Würdenträger vor sich hatte.

»Warum sind Sie nicht in Ihrem Bett?«, kam Anandes Frage unmittelbar darauf.

Der Priester hob beschwichtigend die Hände. Er war noch schwach auf den Beinen und zitterte wie Espenlaub. Mit einer Hand tastete er sich an der Wand entlang, peinlich darauf bedacht, nicht zufällig eine der Tasten an den Steuerkonsolen zu berühren. Er zog sich bis zum ersten Sitz, der normalerweise unbesetzt und nur von An’ta bei einigen Missionen belegt worden war, und ließ sich darauf nieder.

»Nun«, sagte Lemore, wurde jedoch von dem Piepsen des Komlinks Anandes unterbrochen. Der Doktor drückte die Empfangstaste und vernahm die Meldung eines seiner Medoroboter, dass Patient Lemore sich unerlaubt aus der Station entfernt hatte. Anande wollte die Maschine gerade schelten, als er sich daran erinnerte, ihr nur aufgetragen zu haben, sich um Gundolf Johannsson zu kümmern.

»Geben Sie dem Robot nicht die Schuld«, meinte Lemore, als habe er Anandes Gedanken gelesen.

»Sie sagten, Sie hätten eine Erklärung für uns«, griff Roderick Sentenza das Gespräch wieder auf.

»Rettung bedeutet Erlösung, Erlösung den Übergang in eine neue Sphäre hin zum Göttlichen. Auf dass Ihr erstrahlen werdet in der Pracht der Sterne und eurem Schöpfer begegnet.«

Schweigen breitete sich auf der Brücke der Ikarus aus, als die Worte des Priesters verhallt waren. Thorpa gab ein verwirrtes Rascheln von sich, ehe die Stille zu bedrückend werden konnte. Anande räusperte sich und machte Anstalten, seinen Patienten wieder zur Krankenstation zu schicken, doch Sentenza trat dem Arzt in den Weg. »Ist es das, was ich glaube, dass es das ist?«

Joel Lemore nickte mit ernstem Blick, worauf Sentenza sich seufzend abwandte und den Bildschirm anstarrte, der die letzten flackernden Blitze explodierender Asteroidentrümmer zeigte, die miteinander kollidierten.

»Könnten Sie uns bitte auch aufklären, Captain?«, fragte Weenderveen.

»Ist Ihnen der Name Gemeinschaft der galaktischen Erlösung ein Begriff?«, fragte der Priester in die Runde.

Weenderveen und Thorpa sahen sich ratlos an. Sonja schüttelte den Kopf. Nur Trooid hob einen Arm, um sich zu Wort zu melden.

»Eine religiöse Gruppe, die im Volksmund unter dem Namen Die Erleuchteten bekannt geworden ist.«

»Von denen hab ich schon mal was gehört«, sagte Darius Weenderveen. »Ist das nicht eine Art Sekte?«

Joel Lemore nickte. Seine Miene hatte sich verfinstert. Anscheinend sprach er nicht gern über das Thema. Er berichtete den Besatzungsmitgliedern der Ikarus das, was er über die Erleuchteten wusste. Und als er endete, begriffen sie, warum die Rettungskapsel explodiert war.


Einige Trümmer lagen noch im Gang herum, doch die Reparaturmannschaft hatte bereits erstklassige Arbeit geleistet und die durch die Detonation aufgerissenen Wände zusammengeflickt. Hier und dort hingen lose Daten- und Energieleitungen von der Decke. Vereinzelt sprühten Funken aus verendeten Terminals oder Relaisschaltungen. Noch immer lag ein grauer Dunst in dem Korridorabschnitt, der von dem Unfall betroffen war, doch die Ausbesserungsarbeiten schritten schneller voran, als man gedacht hatte.

Der Guardian trat rasch beiseite, als er Richterin Dorothea gewahrte, die in den zerstörten Flur trat und sich selbst ein Bild über das Ausmaß der Schäden machen wollte. Ihre orangefarbene, weit geschnittene Robe leuchtete unnatürlich durch die finsteren Rauchschwaden. Mit Ausnahme des Guardians trugen alle Leute der Reparaturmannschaft die grauen Gewänder der Suchenden – sie standen auf der untersten Stufe der Hierarchie der Erlösung.

»Berichte!«, forderte Dorothea den Guardian mit ihrer sanften Stimme auf, während ihre Blicke durch den Korridor schweiften.

Der Mann straffte sich und präsentierte den Elektrospeer gemäß der Etikette des Erlösers. Richterin Dorothea sah ihn an. Zu gern hätte sie ihm in die Augen geblickt, doch die lagen unter dem verdunkelten Visier seines martialisch wirkenden Helmes verborgen.

»Die Reparaturen sollen in den nächsten zwei Stunden abgeschlossen sein, Euer Exzellenz. Die Energiezufuhr zum Tempelraum vier ist jedoch noch immer unterbrochen.«

Dorothea schloss für einige Sekunden die Augen und sandte ein stummes Stoßgebet zum Erlöser. Ihr behagte der Gedanke nicht, bereitete ihr nahezu körperliche Übelkeit, dass eine Handvoll Suchender und der Akolyth Prospero noch immer ohne funktionierende Lebenserhaltung in dem Tempelraum eingeschlossen waren.

Blasphemie, wisperte die Stimme ihres Gewissens. Sie würde sich der Erneuerung stellen müssen, wenn ihre Gedanken weiterhin diese Wege beschritten. Alles, was um sie herum geschah, war der Wille einer höheren Macht, der sie dienten, dessen Bote der Erlöser war.

Sie mussten sich dieser Macht bedingungslos fügen, nur dann würden sie aufgehen in den Reihen der Geläuterten und Erleuchteten.

Die Richterin nickte dem Wächter kurz zu. Sie wandte sich zum Gehen, dabei streifte ihr Blick das Portal zum vierten Tempelraum. Vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild der Suchenden auf, wie sie in Panik gegen die Wände hämmerten, um Hilfe schrien und dabei ihre letzte Atemluft verbrauchten. Dorothea schüttelte die lästerlichen Gedanken ab. Sie verließ den vom Unfall heimgesuchten Korridor und wandte sich in einem weniger frequentierten Gang einem Kommunikationsterminal zu.

Der Bildschirm flimmerte kurz, dann war das Gesicht eines Mannes in ebenfalls orangefarbener Robe zu sehen. Im Gegensatz zu Dorothea trug er jedoch eine schwarze statt einer blauen Schärpe – er war der Superior der Zuflucht.

»Euer Eminenz«, sprach Dorothea ihn förmlich an und gab dann den Kurzbericht über die Reparaturen weiter. Als sie danach zögerte, sich gemäß der Etikette zu verabschieden, deutete der Superior ihr Benehmen richtig.

»Was liegt dir auf dem Herzen, Tochter?«

»Ich muss an die Gebetsrunde im Tempelraum vier denken«, gestand sie schleppend. »Ständig sehe ich ihre Gesichter vor mir und male mir ihre Qualen aus. Ich frage mich, ob …«

»Zweifelst du an den Lehren des Erlösers, Tochter?«, unterbrach Superior Saladin die Richterin.

»Nein«, beeilte sie sich zu sagen, doch es kam eine Spur zu rasch, als dass Saladin ihr Glauben schenken konnte. »Ich … ich dachte nur, dass sie allein sind, jetzt da die Energiezufuhr unterbrochen wurde.«

»Sie sind niemals allein«, warf Saladin ein. »Der Erlöser und die Flamme in ihrem Herzen auf dem beschwerlichen Weg der Erleuchtung werden immer bei ihnen sein.«

»O wenn sie den Erlöser doch nur sehen könnten«, sagte Dorothea. »Seine Milde und Gnade spüren könnten. Es würde sie bestimmt auf den rechten Weg führen und ihnen den Pfad der Erleuchtung zeigen.«

Superior Saladin schwieg eine Weile. Natürlich ergaben die Worte der Richterin Sinn. Die Isolation der Suchenden in Tempelraum vier konnte dazu führen, dass sie von ihrem Glauben abkamen und das Vertrauen in den Erlöser verloren. Er fragte sich, ob es Möglichkeiten gab, in dieser Richtung etwas zu unternehmen.

Schließlich sagte Saladin: »Deine Gedanken werden den Erlöser erreichen, Tochter Dorothea. Nun begib dich ins Cernum und erneuere dich. Deine Aufgabe ist der dreiundzwanzigste Stern des Rashetts. Mögest du Erleuchtung finden.«

Der Superior unterbrach die Verbindung. Sie ahnte, dass die Erneuerung längst fällig war. Einmal mehr aktivierte sie das Terminal und wartete, bis einer ihrer Akolythen sich meldete. Es war Oswin, der ihren Ruf beantwortete. Sein vernarbtes Gesicht füllte den gesamten Schirm aus. Sicher war er einmal ein hübscher Anblick gewesen, doch der Unfall vor zwei Jahren hatte ihn derartig verunstaltet, dass ihn seither keine Frau mehr angeblickt hatte. Mit Ausnahme Dorotheas. Sie dankte dem Erlöser, dass er das Zölibat auf dem Weg der Erleuchtung schon vor Äonen aufgehoben hatte.

»Euer Exzellenz«, begrüßte Oswin seine ihm vorgesetzte klerikale Mentorin.

»Wir halten einen Gottesdienst in Tempelraum sechs ab. In einer Stunde. Bitte bereite alles vor und lade die Suchenden und Adepten der ersten beiden Ebenen ein. Jeder, der momentan dienstfrei hat, soll anwesend sein. Gib auch Dinah Bescheid. Sie soll das Ritual der Erneuerung vorbereiten. Stern dreiundzwanzig.«

Oswin nickte und wartete, bis Dorothea abschaltete. Die Richterin atmete tief durch. Sie ertappte sich dabei, wie ihre Gedanken abermals zu den Eingeschlossenen in Tempelraum vier wanderte. Beinahe schon krampfhaft schüttelte sie sie ab und versuchte, sich auf den einberufenen Gottesdienst zu konzentrieren.


Es duftete nach Holunder. Der Geruch von Kirsche und Flieder lag ebenfalls in der Luft. Unter Saladins Füßen knirschte das Gras. Er war bereits zweimal stehen geblieben und hatte die frische, warme Luft in sich eingesogen. Es war stets eine Wohltat, die unteren Ebenen der Zuflucht zu verlassen und hierher ins Freie zu kommen. Der Sauerstoff ging nicht durch die Wiederaufbereitungsanlagen, sondern wurde direkt durch die verschwenderisch angelegte Flora des Gartens produziert.

Saladin breitete die Arme aus und schloss die Augen. Er spürte den sanften Wind auf seiner Haut, die Wärme des Lichtrings, der Sonnenhelle auch in die letzten Winkel des Gartens der Zuflucht brachte.

Das Paradies, dachte er und schlug die Lider auf. Er blickte nach Norden und vermochte von seinem jetzigen Standpunkt aus nicht einmal das Ende des Gartens zu sehen. Die ganze Anlage besaß einen Durchmesser von zweihundert Metern und war weit mehr als ein gewöhnlicher Garten.

Saladin wandte sich zu den beiden Guardians um, die ihn ständig begleiteten. Sie waren an der Nordschleuse des Turms verharrt und erwarteten seine Befehle oder würden ihm überallhin folgen.

Sie schützten ihn mit ihrem eigenen Leben.

»Ihr wartet hier!«, sagte Saladin.

»Wie Ihr wünscht, Eminenz«, erwiderte einer der beiden.

Saladin setzte sich nach Norden in Bewegung. Es gab einen mit Kies bedeckten Pfad, doch der Superior zog es vor, querfeldein zu gehen, auch wenn dies bedeutete, hin und wieder dichten Sträuchern oder Hecken auszuweichen. Er gelangte zur Waldzone. Laubbäume wuchsen hier zwischen Tannen und Palmen. Die gezielte Klimasteuerung von einzelnen Bereichen der Zuflucht machte es möglich, ausreichende Verhältnisse für fast jede erdenkliche Pflanzenart zu schaffen. Inmitten einer Schar von Palmwedeln lag die Blockhütte des Erlösers. Das kleine Holzgebäude war zwar nur undeutlich im Grün der Gewächse zu erkennen, doch die vier Guardians, die in unmittelbarer Nähe davor postiert waren, machten es umso einfacher, es aufzuspüren.

Der Lauf des Südbachs mündete in einem etwa zehn Meter durchmessenden Teich, der den direkten Zugang zum Heim des Erlösers verwehrte. Darüber führte eine hölzerne Brücke, vor der sich zwei der Guardians aufgestellt hatten. Als sie Saladin gewahrten, verneigten sie sich und ließen ihn passieren, doch er wurde von den beiden Wächtern auf der anderen Seite aufgehalten.

»Wartet bitte, Euer Eminenz«, zischte der eine unter seinem Helm hervor. Gleichzeitig drückte er eine unscheinbare Taste am Handgelenk des gepanzerten Handschuhs und wartete auf den Bestätigungston. Erst dann durfte Saladin seinen Weg fortsetzen.

Der Pfad zur Hütte wurde flankiert von kleineren Büschen und Heckenabschnitten. Neben dem Heim war eine Senke ausgehoben worden. Ein Teil des Teichwassers wurde hierher umgeleitet und unterirdisch erhitzt. Saladin sah die blubbernden Wasserblasen aus dem heißen Bad aufsteigen. Ein Luxus, der auch ihm und den Richtern der Zuflucht zuteilwurde. Zwar besaßen sie nicht Hütten von der Größe des Erlöserheims, doch sie alle wussten die Annehmlichkeiten des Gartens zu schätzen. Saladins eigenes Heim befand sich nur fünfzig Meter von dem des Erlösers entfernt, allerdings versperrten die Bäume die Sicht. Jeder Bewohner des Gartens genoss seine Privatsphäre.

Die Tür der Hütte wurde geöffnet. Eine junge Frau mit blondem Haar lugte aus dem Spalt hervor. Ihre Augen waren stark gerötet. Sie selbst wirkte wie gerädert. Sie blinzelte ins Tageslicht und brachte ein kaum verständliches »Ja?« hervor.

 

Saladin seufzte innerlich. Eine weitere Konkubine des Erlösers. Er wechselte sie wie die Akolythen ihre Roben zum täglichen Reinigungsritual.

Das Feuer der fleischlichen Lust entfacht das Licht der Seele und führt uns der Erleuchtung einen Schritt näher.

Die Worte des Erlösers hallten in seinem Bewusstsein nach. Natürlich ergab es Sinn, so oft wie möglich die Zuneigung anderer zu suchen. Und der Bevölkerungserhalt und -zuwachs waren auf diese Art auch gesichert. Jedes zweite Mädchen, das der Erlöser zu sich holte, wurde gleich in der ersten Nacht schwanger.

Saladin beneidete den Führer um seine Potenz. Ihm selbst war es schon seit vielen Jahren nicht mehr vergönnt gewesen, sich zu einer Frau zu legen. Ein Unfall auf Angelus Prime hatte ihn nicht nur sterilisiert, sondern auch jegliche Lust in ihm erstickt.

»Ja?«, wiederholte das Mädchen, sichtlich schlaftrunken, vielleicht auch noch im Rausch der Triebe gefangen, die der Erlöser in ihr entfacht hatte.

»Ich bin Superior Saladin«, sagte Saladin. »Erkennst du mich denn nicht, Tochter?«

Sie versuchte, die Lider ein wenig mehr als einen Spaltbreit zu öffnen, was ihr allerdings kläglich misslang. Stattdessen gab sie den Weg frei. Als Saladin auf der Schwelle stand, zwängte sie sich an ihm vorbei, schlüpfte aus ihrem Leibchen und glitt in das sprudelnde Nass des Whirlpools. Saladin beachtete sie nicht weiter und setzte seinen Weg durch den schmalen Korridor der Hütte fort. Außenstehende hätten den Wohnsitz des Erlösers vielleicht in einem prunkvollen Palast vermutet, doch die Abgeschiedenheit des Gartens war ihm Luxus genug.

Saladin durchmaß den Wohnraum. Er wirkte unbenutzt. Anscheinend hatte sich noch niemand bequemt, für Frühstück zu sorgen. Der Superior warf einen Blick auf das Wandchrono. Es war fast Mittag und Zeit für die Gebete.

»Euer Heiligkeit?«, rief Saladin aus.

»Ich bin hier, Saladin«, ertönte eine sonore Stimme aus dem Schlafraum nebenan. Die Tür wurde aufgedrückt und ein hochgewachsener Mann mit langem, dunklem Haar und einem gepflegten Bart trat in das Wohnzimmer. Er raffte seine weiße Robe zusammen und schlug die goldene Schärpe darum. Dann schlenderte er zu der Wohnlandschaft hinüber und ließ sich in die weichen Polster fallen.

Saladin erhaschte einen Blick in die Gemächer des Erlösers und sah, wie sich in den Laken des Dreimeterbetts ein nackter Mann rekelte. Der Erlöser machte keinen Unterschied, wen er sich für die Entfachung des Lichtes seiner Seele ins Bett holte.

Saladin wandte sich zu seinem Führer um, der es sich in den Polstern bequem gemacht hatte.

»Euer Heiligkeit …«, begann der Superior, aber der andere winkte mit einem Lächeln ab.

»Wir sind unter uns, Saladin.«

»Asiano«, kam es zitternd über die Lippen des Superiors. Er fühlte sich stets unwohl dabei, den Namen des Erlösers auszusprechen, obwohl er wusste, dass ihm damit eine große Ehre zuteilwurde. Nicht einmal die beiden anderen Superioren auf Angelus Prime oder der Kelleson-Minenkolonie pflegten ein derart tiefes Verhältnis zu ihrem religiösen Führer. Einer der Vorteile, wenn man sich in der Zuflucht befand.

»Wie ist unser Status?«, fragte Asiano und drückte beiläufig eine Taste eines in die Armlehnen des Sofas eingelassenen Paneels. Auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnzimmers schob sich eine Tür seitwärts in die Fugen. Dahinter wartete ein relativ junges Mädchen in knapper Tunika im Grau der Suchenden. In seinen Händen hielt es ein Tablett mit zwei Bechern, aus denen kräftig Kohlensäurebläschen perlten.

Die Bedienstete verneigte sich vor Asiano und bot ihm eines der Gefäße dar, anschließend wandte sie sich Saladin zu, der jedoch dankend verneinte. Das Mädchen verschwand im Nebenraum.

Zu Beginn seines Eintritts in Asianos Glaubensgemeinschaft, hatte er sich gefragt, warum die niederen Arbeiten nicht von Dienstrobotern oder Servicedroiden ausgeführt wurden. Asiano duldete keine unbeseelten Kreaturen in seiner Nähe. Zumindest keine, die der menschlichen Gestalt nachempfunden worden waren.

»Der Antrieb ist noch immer durch die Rückkopplung beschädigt«, berichtete Saladin auf Asianos Frage hin. »Unsere Reparaturteams benötigen mindestens noch zwei Tage, ehe wir wieder hyperraumtauglich sind.«

»Das ist bedauerlich«, murmelte Asiano. »Was liegt hier in der Nähe?«

»Wir sind im Albira-System aus dem Hyperraum geschleudert worden. Allerdings besitzt man hier kein Sprungtor. Die Bewohner von Albira II haben auch schon mit dem Turm Kontakt aufgenommen und verlangt, dass wir das System schnellstmöglich wieder verlassen.«

»Wie ungastlich«, kommentierte Asiano und nippte an seinem Getränk.

»Sie gehen wohl nicht ganz mit unseren … Glaubensgrundsätzen konform.«

»Sie haben Angst«, behauptete der Erlöser. »Sie fürchten sich davor, ihre Schäfchen könnten zu uns überlaufen, wenn wir erst einmal Fuß auf ihrer Welt gefasst haben. Vielleicht sollten wir tatsächlich über eine Mission nach Albira II nachdenken, aber vorrangig gibt es andere Ziele. Gut, wir sitzen also zwei Tage hier fest. Na schön, dann lass zusätzliche Gebetsstunden und Messen anberaumen, damit sich unsere Jünger nicht langweilen.«

»Das habe ich bereits veranlasst«, sagte Saladin.

»Gut«, nickte Asiano und leerte den Becher in einem Zug. Dann klatschte er in die Hände, erhob sich und schickte sich an, das Bad aufzusuchen, doch als er registrierte, dass Saladin keinerlei Anstalten machte, sich zurückzuziehen, blieb er stehen.

»Ist noch etwas?«

»Nun«, druckste der Superior ein wenig herum. »Richterin Dorothea äußerte sich besorgt über die Moral der im Tempelraum eingeschlossenen Suchenden.«

»Wer ist bei ihnen?«

»Akolyth Prospero. Er untersteht Richter Oberon.«

»Und teilst du Dorotheas Besorgnis?«

Saladin zuckte die Achseln. Prospero galt als strenggläubig, doch er war labil und der Situation womöglich nicht gewachsen. Diese Bedenken teilte er auch dem Erlöser mit.

»Machen wir uns nichts vor«, sagte Asiano dann. »Die Suchenden haben ihr Schicksal gefunden und werden erlöst. Die Lebenserhaltung in diesem Sektor kann erst wiederhergestellt werden, wenn die Zuleitung zum Energieemitter ausgewechselt sind.«

»Ja«, sagte Saladin. Eine körperliche Rettung der Eingeschlossen kam nicht infrage, denn dies hätte bedeutet, den Tempelraum gewaltsam von außen zu öffnen – ein Sakrileg gegen die obersten Regeln der Glaubensgemeinschaft. Undenkbar.

»Aber«, gab der Superior zu bedenken, »man könnte ihren Weg der Erlösung sicherlich angenehmer gestalten und sie in ihrem Glauben bekräftigen.«

»Was schlägst du vor?«

»Wenn sie wenigstens das Gefühl haben, dass Ihr bei ihnen seid, Asiano. Der Schrein mit Eurem Hologramm muss wieder aktiviert werden.«

»Der Tempelraum ist ohne Energie«, warf Asiano ein. »Wie stellst du dir das vor?«

»Wir …«, begann Saladin und überlegte. »Wir könnten versuchen, einen mobilen Emitter unter den Schrein zu platzieren. Es gibt doch einen Wartungsschacht unter der Kammer.«

Asiano runzelte die Stirn. In seinen Augen spiegelte sich für einen Moment nur Leere wider. Schließlich kehrte das scheinbar Gutmütige in seinen Blick zurück.

»Du stellst mich vor eine schwierige Entscheidung, Superior.«

Saladin schluckte und bereute seinen Vorschlag schon wieder. Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit der Anmaßung, Entscheidungen für den Erlöser zu treffen, bewusst. Er merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Mit einem Mal fühlte er sich unwohl in seiner Haut.

»Während der Gebetsstunde darf der Wartungsschacht nicht betreten werden«, sagte Asiano. »Allerdings ist diese vor einer halben Stunde abgelaufen und uns steht nur noch das Verbot im Wege, das Portal gewaltsam zu öffnen …«

Saladin atmete innerlich auf. Er hatte befürchtet, gemaßregelt zu werden, doch Asiano schien sehr daran gelegen, seine eingeschlossenen Jünger zu beruhigen und sie auf diese Art zum Licht zu führen. Für eine Schrecksekunde jedoch grübelte Saladin darüber nach, ob man die Gefangenen nicht auch durch den Wartungsschacht evakuieren konnte. Erschrocken über seine eigenen Gedanken zuckte der Superior zusammen und vergewisserte sich rasch, dass Asiano nichts bemerkt hatte. Der Wartungstunnel führte bis zum Schrein. Diesen zu öffnen, wurde als noch höheres Sakrileg eingestuft, als sich an dem Portal zu vergehen. Wie konnte er auch nur entfernt daran denken? Er würde sich einer persönlichen Erneuerung unterziehen müssen.