DDR aus der Schublade

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16. 12. 67

Kleine Funktionäre haben keinen Anteil an den Entscheidungen der Macht. Aber sie dürfen die unter der Bevölkerung verbreiten, sie dürfen die Bevölkerung über sie „aufklären“, sie dürfen das Bewusstsein der Bevölkerung „formen“. Ihre faktische Machtlosigkeit wird ihnen gewürzt durch das fiktive Bewusstsein, zu den Mächtigen dazuzugehören. Sie sind die Spätgeborenen des „cuius regio, eius religio“.

1968

3. 2. 68

Kurzvariante der neuen DDR-Verfassung:

§1: Alle Macht geht vom Staatsrat aus.

§2: Dem Bürger ist alles erlaubt, was im Rahmen der Ziele des Staatsrates liegt.

11. 2. 68

„Studentenunruhen“ in Westdeutschland: Im Osten gelten die Oppositionellen als vom Westen, im Westen als vom Osten gesteuert.

16. 2. 68

Nachdem sich die Regierung, die sich über mich gesetzt hatte, sich vor möglichen unlauteren Absichten meinerseits, sie zu verlassen, schützte, indem sie ein teures Mauerwerk errichtete, trugen mich zwar nicht mehr meine Beine, aber doch meine Gedanken auch weiterhin nach Westen.

Seitdem die westdeutsche Regierung aus unruhigen Studenten Studentenunruhen fabriziert, haben sich meine Gedanken wieder mehr vom Westen abgewandt. Sie richten sich jetzt mehr nach dem Süden (Richtung Prag).

18. 2. 68

Ein Bekannter, 21 Jahre, vor zwei Jahren noch ein fanatisch Linientreuer, meint heute, die alte Generation von Oberen im Sozialismus solle abtreten. Sie leistete nichts mehr für den Sozialismus.

4. 4. 68

Der kommunistische Staat bisheriger Prägung ist – umgedreht – der Staat Platons: Die Regierenden beanspruchen, des Staates größte Philosophen zu sein.

13. 4. 68

Die ZK-Mitglieder vertreten soziale Stände: die NVA-Generäle die Armee, einige Schriftsteller die Kulturschaffenden, ein paar LPG-Vorsitzende die Bauern, Vertreter der „Wirtschaft“ sind einige Betriebsdirektoren. Sie sind nicht als Personen, Persönlichkeiten im ZK, sondern als Vertreter des Zweiges der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, dem sie angehören.

30. 4. 68

Am Krematorium eines fortschrittlichen Friedhofs soll das dortige sozialistische Leitungskollektiv die optimistische Losung befestigt haben:

Heraus zum 1. Mai.

Die Sache soll aber nicht auf dieses Kollektiv, sondern eine höhere Verteilungsstelle zurückgehen, die dem sozialistischen Friedhof in Unkenntnis oder auf Grund von Schlamperei die falsche Losung zugeteilt hatte. (Der Klassenfeind kann es in diesem Fall ja kaum gewesen sein, denn der hat bekanntlich nicht wenige überzeugte und tapfere Kommunisten vor ihrer Zeit auf diesen Friedhof befördert. Der wird deren Auferstehen ja wohl kaum gewollt haben.)

Zehn sozialistische Gebote für Bürger der DDR im Jahre 1968

(nach Verabschiedung der neuen Verfassung)

1. Du sollst glauben, was von oben kommt.Was ist das? Es gibt Menschen und Menschen. Die einen davon sind „führende Repräsentanten von Partei und Regierung“. Sie glauben, sie wüssten und machten alles besser als du es tun könntest. Du sollst darum deine „führenden Repräsentanten“ über alle Dinge lieben, fürchten und ihnen völlig vertrauen. Sie könnten sonst als „führende Repräsentanten“ nicht weiterexistieren. Und das wäre schlimm für sie.

2. Die „führenden Repräsentanten“ sind über dich gesetzt.Was ist das? Es steht dir nicht zu, auf die personelle Zusammensetzung der „führenden Repräsentanten“ deines Landes Einfluss nehmen zu wollen. Die „führenden Repräsentanten“ haben sich selber über dich gesetzt. Sollten die „führenden Repräsentanten“ der sozialistischen Länder in einigen Fragen unterschiedlicher Meinung sein, hast du die Meinungen der „führenden Repräsentanten“ des Landes zu teilen, in dem du zufälligerweise geboren wurdest und seitdem leben musst, weil die „führenden Repräsentanten“ deines Landes eine Auswanderung dir nicht gestatten. Vor allem, weil du sie nicht verlassen kannst, sind deine „führenden Repräsentanten“ deine „führenden Repräsentanten“.

3. Du sollst deine „führenden Repräsentanten“ loben, ehren und ihnen immer wieder für ihre Politik danken, auf dass es dir wohl ergehe und du lange lebest eingesperrt in ihrem Lande.Was ist das? Die Autorität deiner „führenden Repräsentanten“ verträgt keine Zweifel und keine Kritik. Solltest du sie jedoch öffentlich und beharrlich anzweifeln, verfügen deine „führenden Repräsentanten“ über ausreichend administrative Mittel, diesen Zustand zu ändern. Preist du dagegen deine „führenden Repräsentanten“ lauter und beharrlicher als deine Mitbürger, kann es dir auch persönlich besser ergehen als deinen Mitbürgern.

4. Du hast diejenigen unter deinen Mitmenschen fern zu halten von dir, die deine jeweiligen „führenden Repräsentanten“ ablehnen oder gar als überflüssig bezeichnen.Was ist das? Auch „führende Repräsentanten“ sind nur Menschen. Hältst du ihre Gegner auch für deine Gegner, fällt es deinen „führenden Repräsentanten“ leichter, deine „führenden Repräsentanten“ zu bleiben.

5. Du sollst regelmäßig Versammlungen und Veranstaltungen besuchen, auf denen dir die Politik deiner „führenden Repräsentanten“ wiederholt und erläutert wird.Was ist das? Du sollst nicht auf Nachrichten und Meldungen hören oder diese gar verbreiten, die deinen „führenden Repräsentanten“ und ihren lokalen Stellvertretern nicht gefallen. Du sollst ihnen, wenn sie dir etwas erklären, nicht lauthals widersprechen und etwa sagen, du hättest Karl Marx selber gelesen und da auch anderes gefunden, als sie dir erzählten. Marxistisch sind nicht einfach Äußerungen von Karl Marx, sondern nur solche Auslassungen von ihm, die deine jeweiligen „führenden Repräsentanten“ zitieren und das, was sie zu ihnen jeweils hinzutun. Du hast dir immer wieder einreden zu lassen und auch selber einzureden, dass deine „führenden Repräsentanten“ für dich nur das richtige tun. Du sollst dir ihre Politik deshalb regelmäßig geduldig erläutern und erklären lassen und niemals einen diese Politik begutachten wollenden Standpunkt einnehmen. Du hast ihre Politik zu ertragen, nicht zu begutachten.

6. Die „führenden Repräsentanten“ haben den Standpunkt des „Planers und Leiters“ inne.Was ist das? Du wirst geplant und geleitet. Du kannst durchaus auch falsch geplant und geleitet werden. Wann dies geschehen ist, werden dir spätere Planer und Leiter mitteilen.

7. Du hast zutiefst davon überzeugt zu sein, dass deine Gesellschaft, so wie sie von deinen „führenden Repräsentanten“ errichtet wird, die beste aller möglichen Gesellschaften ist.

8. Wenn du beim besten Willen nicht so denken kannst, wie es deine „führenden Repräsentanten“ von dir erwarten, dann tue wenigstens, als wärst du zufrieden und einverstanden mit allem, was deine „führenden Repräsentanten“ sagen und beginnen.Was ist das? Da deine „führenden Repräsentanten“ dein Bewusstsein nach ihrem Bilde formen wollen, aber keinesfalls ihres nach deinem, und sie über die Mittel verfügen, dir dein Leben höchst unangenehm zu gestalten, musst du wohl oder übel mit ihrem Tun einverstanden sein. Zumindest aber solltest du dieses Einverständnis vortäuschen.

9. Du sollst nicht begehren deines Staates Pass.Was ist das? Weil es deinen „führenden Repräsentanten“ nirgendwo besser ergehen würde als hier, brauchst auch du nicht in Länder zu fahren, in denen es ihnen schlechter erginge als zuhause.

10. Du sollst nicht begehren deiner „führenden Repräsentanten“ Lebensqualität.Was ist das? In allen Gesellschaften, die auf Herrschaft und Unterdrückung beruhen, haben die Herrschenden eine höhere Lebensqualität als die Unterdrückten. Deine „führenden Repräsentanten“ begründen ihre die deine übersteigende Lebensqualität damit, dass sie mehr leisten würden als du. Und damit haben sie auch Recht: Sie machen dir deine Arbeit schwerer als du ihnen die ihrige.

28. 5. 68

Da intelligentere Parteimitglieder selten übermäßig gern einer vorgegebenen „Linie“ folgen, Berichte über die Erfüllung der vorgegebenen Aufgaben schreiben, ist der „Apparat“ weithin ein Sammelbecken von weniger begabten Leuten. Das ist das Dilemma der „führenden Rolle“ der „marxistisch-leninistischen Partei“.

Da diese Partei mit diesen Leuten nicht zu überzeugen vermag, fühlt sie sich von „Gegnern“ umgeben.

Da aber der „Apparat“ die einzigen Leute sind, auf die sich die Führung – wegen deren materieller Interessiertheit an ihrer Funktion – vollständig verlassen kann, kann die Führung diese Leute auch nicht vor den Kopf stoßen, so dass ihre innenpolitische Misere immer wieder reproduziert wird.

14. 6. 68

Die neuen Monumentalstatuen von Lenin und Marx. Mit ihnen soll die Größe der Zeit ausgedrückt werden. Der Monumentalismus in der Kunst ist der Abgesang der Ära Ulbricht. Denken findet nur noch im Quantitativen statt.

15. 6. 68

Endlich das neue Aktionsprogramm der KPTsch gelesen.

28. 6. 68

Ein – wohl höherer – Leipziger VP-Angehöriger in Zivil in einem Gespräch zu zweit bei einem zufälligen Zusammentreffen: „Einen Geschäftsführer, der Unterschlagungen begeht, den können wir wegen Schädigung des Volkseigentums einsperren. Aber die, die bei unserer Wohnungsnot Gebäude, die noch in gutem Zustand sind, abbrechen lassen, gegen die können wir nicht vorgehen.“ – Die neue Städtebaupolitik scheint viele Genossen innerlich aufzuregen, gleich ob in Leipzig oder Potsdam, Berlin oder Weimar.

 

2. 7. 68

Die Appelle Ulbrichts, die Leitungen von Betrieben sollten vor ihren Werktätigen Rechenschaft ablegen, bleiben ohne politische Demokratisierung letztlich doch nur platonische Absicht. Ohne wirkliche Demokratie, allseitige Möglichkeit des Druckes der Volksmassen auf die Führung(en), werden sich die Führungen von „Teilsystemen“ immer auf die Forderung von ideologischer „Treue“ versteifen und diejenigen, die sie kritisieren, als politisch-ideologisch „unsicher“ denunzieren; und dann sind die Kritiker geliefert. Andere Betriebsleitungen werden versuchen, die Kritiker ins Betriebs-Establishment aufzunehmen, sie mit einträglichen, aber arbeitsarmen (Büro-) Funktionen zu korrumpieren – unter der Devise: Zeige deine Fähigkeiten an leitender Stelle. Langsam werden dann die einstigen Kritiker „Leiter“ wie die anderen auch und die „Werktätigen“ sagen: Auch der war einmal einer von uns.

3. 7. 68

Ihr Monopol auf das Recht haben: Ihre Fehler sind erst dann Fehler, wenn sie selbst diese als Fehler denunziert haben. Aber auch dann legen noch sie Ausmaß und Gründe der Fehler fest, ebenso wie das Ausmaß und Vokabular der erlaubten Kritik.

4. 7. 68

Ein braver kleiner Genosse wurde, als er auf einer ein wenig offiziellen, mit sowjetischen Gästen angereicherten Veranstaltung, in öffentlicher Rede sich wünschte, dass alles aus der Sowjetunion Kommende von bester Qualität sei, um unserer Bevölkerung zu beweisen, dass sozialistische Produkte nicht schlechter seien als kapitalistische, von anwesenden DDR-Funktionären sofort unterbrochen und scharf angegriffen. Jetzt, da sein bescheidenes Stühlchen wackelt, meint er, er wolle künftig auch nur noch lobhudeln und nicht mehr seine eigene Meinung sagen. – Auf die DDR der letzten Jahre der Ära Ulbricht passt so ganz das Andersen-Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Ein Kommilitone, der in Berlin arbeitet (Hannes Schmidt), berichtet, viele mittlere oder dreiviertelhohe Funktionäre in der Hauptstadt wagen keine bedeutenden Entscheidungen mehr zu fällen. Sie entscheiden häufig nur noch für die nächsten drei Jahre. Man wartet in dieser Leitungsebene schon auf die „Linie“ der Nachfolger.

5. 7. 68

Der Mythos des allgegenwärtigen Gegners. Sie, die an einer bestimmten Form des Sozialismus materiell interessiert sind, glauben an diesen Sozialismus – als Begründung ihres Tuns.

9. 7. 68

Ein SED-Mitglied, das in der ČSSR war: „Die sehen jetzt auch schon, dass es nicht gut ist, wenn jeder seine Meinung in der Zeitung schreiben kann.“

11. 7. 68

Als Havemann seine Uni-Professur verlor, verlor der damalige Parteisekretär an der Humboldt-Uni seine Stelle mit. Er wurde zum Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte gemacht. Als dieses Institut eine Betriebsfeier veranstaltete, wurde der ehemalige Uni-Parteisekretär auch eingeladen, aber es setzte sich keiner der Institutswissenschaftler zu ihm an den Tisch. Die mieden alle den leibhaftigen Revisionismus: Jeder für jeden sichtbar.

6. 8. 68

Betrachtet man den Weg der Verdrängung Novotnys von der Macht – kommunistische Führer müssen bis zum Tod im Amt bleiben oder können nur durch eine Palastrevolte gestürzt werden. Warum ist das so? Man hat nach einem zu ausgiebigen Machtgebrauch die Nachfolger zu fürchten: die ihr eigenes politisches Image auf Kosten des Vorgängers erst einmal gesund stoßen.

7. 8. 68

Nicht Beobachter soll ich sein. Sondern Akteur. Aber der einzige Akteur, den sie sich wünschen, ist der Claqueur. Ich bin aber nicht interessiert, Claqueur zu sein.

12. 8. 68

Eine junge Frau muss, weil Mitarbeiterin im Staatsapparat, drei Meinungen aus der Bevölkerung zur Bratislavaer Erklärung liefern. Es sollen natürlich zustimmende Meinungen sein. Ich liefere ihr eine: Wenn die Sowjetunion in die ČSSR einmarschiert wäre, hätten die USA das dafür benutzt, von ihrem Vietnam-Krieg abzulenken.

(Bratislavaer Erklärung = Abkommen zwischen KPdSU- und KPTsch-Führung kurz vor dem sowjetischen Einmarsch in die ČSSR, das letzteren eigentlich verhindern sollte.)

20. 8. 68

Verrückter Gedanke: Keine Karl-Marx-Werke mehr nach dem Westen senden dürfen, weil sie dort „Verfälschern“ in die Hände fallen können.

21. 8. 58

Ein älterer Arbeiter kommentiert den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei so: „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“

(Der Einmarsch wurde von sowjetischer Seite „brüderliche Hilfsaktion“ genannt.)

22. 8. 68

Dieser Einmarsch in die ČSSR muss wirklich ein überraschender Entschluss gewesen sein. Nicht einmal die SED-Kreisleitungen scheinen in irgendeiner Weise darauf vorbereitet gewesen zu sein. Im Gegensatz zu der Woche vor dem Treffen in Cierna nad Tisou, als alle Kreisleitungen auf die Möglichkeit eines baldigen Einmarsches „orientierten“: Der Entwicklung dort können wir nicht mehr zusehen.

(Cierna nad Tisou = Ort des Treffens der KPdSU- und KPTsch-Führungen vor der „Bratislavaer Erklärung“)

Ein Bekannter: Wer wird schon zugeben, dass dieser Einmarsch falsch war? Ich: Breshnews Nachfolger.

Djilas nach dem XX. Parteitag: Das war der Anfang vom Ende. – Es wird wohl ein langes Ende. Noch voller Schrecken.

ČSSR-Diskussion. – Er: „Ja. Aber wenn die im Westen den Dubček loben.“ Ich: „In den USA hatten die rechts außen den Kennedy auch zum Kommunisten erklärt, obwohl er gar keiner war.“

23. 8. 68

Da ihre Praxis bzw. ihr praktisches Handeln – aus objektiven Gründen – über Jahrzehnte an die gleichen politisch-materiellen und politisch-ideologischen Grenzen stieß, musste eine Versteinerung der Theorie stattfinden. Die Theorie und damit die Praxis können aber solange nicht wieder revolutionär werden, solange nicht neue Leute mit neuen, historisch bedingten, heute notwendigen Ideen aus den Zentren des so ungeheuer zentralisierten Machtapparates herauskommen. Die Alten lassen die Neuen aber nicht an die Macht heran, weil die Neuen gegen ihre Vorstellungen verstoßen, die sich aus ihren Lebenserfahrungen ergeben: den Erfahrungen, wie man in einer Welt von „Gegnern“ überlebt. Weil diese „alte“ Praxis aber nicht den sozialistischen Idealen entspricht und ab einem bestimmten Punkt auch keine rationalen-rationellen Folgen für die Entwicklung der eigenen Gesellschaft hat, wendet sich die „Jugend“ vom Sozialismus der „Alten“ und vom Sozialismus überhaupt ab.

Selbst auf Aufmarschplätzen, wohin man sie führt, bewegen sich die Gedanken und Gespräche der Jugendlichen umgehend fort von dem, was da per Lautsprecher auf sie hernieder schallt.

Die Angst der Führung scheint riesengroß zu sein. Alle Offiziere tragen ständig einen Revolver am Hintern. Bei uns in Sachsen traf ich auf Straßenkontrollen in der Provinz. Vor einem Volkspolizei-Kreisamt sah ich am Mittwoch sogar einen bewaffneten Posten aufgezogen.

Ich glaubte nach Bratislava, nachdem man sich wieder abgeküsst hatte, nicht mehr, dass die sowjetische Führung Dubček kidnappen könnte. Ich habe ihren Anspruch, „Herr im Hause“ bleiben zu wollen, unterschätzt.

24. 8. 68

Ein Freund: „Ich unterschreibe ihnen alles, was sie von mir verlangen, dass ich es ihnen unterschreibe. Aber ich vergesse ihnen keine dieser Unterschriften.“

26. 8. 68

Ich fragte einen Genossen, ob die NVA auch in die Sowjetunion einmarschiert, wenn dort eine „opportunistische Führung“ à la Dubček an die Macht kommt.

27. 8. 68

Mein Betriebsparteisekretär: „In Rumänien werden wir nicht einmarschieren. Die Rumänen sind nur von sozialistischen Ländern umgeben. Die können keine Dummheiten machen.“

Ende August 68:

Ich bekam den Auftrag, eine Zustimmungserklärung zum Einmarsch zu verfassen. Mein Text:

„Erklärung

Der Sozialismus kann nur siegen im unversöhnlichen Kampf gegen seine Gegner. Das gilt auch für das ideologische Gebiet, wo ein harter Kampf gegen die unterschiedlichen Spielarten der bürgerlichen Ideologie zu führen ist.

Hauptaufgabe jeder kommunistischen Partei in einem sozialistischen Land ist es, die sozialistische Staatsmacht zu sichern, die Menschen von den richtigen Ideen des Marxismus-Leninismus zu überzeugen und prinzipienfest und mit klarem Kopf den Sozialismus aufzubauen.

Wir … begrüßen alle Maßnahmen, die von den sozialistischen Bruderländern durchgeführt wurden und werden, die auf die Stärkung des Sozialismus in der ČSSR hinauslaufen und die die führende Rolle der KPTsch, der Partei der Arbeiterklasse, die die revolutionäre Kraft ist, sichern helfen.“

Wie salomonisch war ich?

1. 9. 68

Junge Dubček-Anhänger werden von ihren Funktionärs-Eltern zuhause „Konterrevolutionäre“ genannt.

3. 9. 68

Wo lag in diesem Sommer die größere Gefahr für die Sowjetunion: in der Situation in der ČSSR oder in der Situation in der DDR? Ein Kompromiss ČSSR-BRD hätte die Lage in der (Ulbricht)- DDR prekär gemacht. Zwar wäre auch die neue ČSSR-Führung, trotz aller Gegnerschaft zu dem Oberlehrer Ulbricht nicht an einer Rekapitalisierung der DDR interessiert gewesen, da ja auch diese Führung aus Kommunisten besteht, aber die KPdSU-Führung war offenbar felsenfest überzeugt, dass jedes „revisionistische Abweichen“ von ihrem Sozialismus-Modell zu „Zugeständnissen an den Klassenfeind“ führt, letzten Endes zum Kapitalismus selbst. Und in der DDR gibt es keinen Dubček, der die Massen noch einmal für den Sozialismus begeistern kann.

5. 9. 68

Die Führung der Sowjetunion ist überzeugt, dass die nationalen staatlichen Interessen der Tschechoslowakei nicht mit denen der Sowjetunion übereinstimmen. (Sie hält alle diesbezüglichen Worte Dubčeks nur für Worte.) Sie weiß, wenn die KPTsch-Führung nicht über ihrem Volk stehen will, sondern inmitten der eigenen Staatsbürger, dann muss sie auf deren Wünsche reagieren, positiv reagieren, und diese Wünsche gehen nun einmal in Richtung Lösung vom sowjetischen „Vorbild“. Die KPdSU-Führung ist überzeugt, jede Veränderung in Osteuropa kann nur eine Veränderung gegen sie sein. Und damit hat sie zweifellos Recht. Sie opfert darum wieder einmal die „Interessen des Sozialismus in der Welt“ den eigenen Gruppeninteressen. (Die größere Gefahr für sie wäre nicht ein Ausscheren der reformierten ČSSR in Richtung Nichtpaktgebundenheit gewesen, sondern deren Vorbildwirkung nach Osten.)

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