DDR aus der Schublade

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

17. 11. 66

Gerstein-Problematik: Um mehr über den Sumpf zu erfahren, muss ich mich ihm nähern. Kaum zu vermeiden, dass man dann dort seine Abdrücke hinterlässt. Derjenige, der die eigene Haut rein erhalten will, bleibt sauberer als der, der sich bei seinen Forschungen beschmutzt. Was man tut, ist einzig eine Frage des Temperaments (der Neugierde).

18. 11. 66

Filmen auf einem Schiff im Meer: Die Kamera (das Subjekt) schaukelt. Aber auch das Fotografierte (das Objekt) schaukelt. Aber beide schaukeln nicht unbedingt im Takt. Sondern unabhängig voneinander. Wenn auch auf Grund der gleichen Ursache. Der entstandene Film aber soll die Realität wahrheitsgemäß abbilden?

20. 11. 66

Dogmatiker warnen: Wir sollten Leute wie Peter Weiß nicht so aufwerten als Schon-Fast-Marxisten. Es ist nicht sicher, ob sie alle Maßnahmen verstehen werden, die „wir“ unter Umständen durchführen müssen.

21. 11. 66

Da sie mit ihrer „Gesellschaftswissenschaft“ nicht den Großteil der Jugend gewonnen haben, betonen sie seit vorigen Herbst (11.-Plenum-Zeit) den „Klasseninstinkt“ bzw. „klassenmäßige Emotionen“. Werden derart „Überzeugte“ einmal – schockartig – mit den wahren Tatsachen konfrontiert, ist der „Totalumfall“ die Folge (wie bei jenen Rot-Frontkämpfern, die nach 1933 hinter der SA hermarschierten, weil sie vordem nur den „Klassenhass“ gelernt hatten, und der für die Erklärung von KdF usw. nicht mehr ausreichte).

23. 11. 66

Prof. Basil Spiru soll zu Zeiten des Dialogvorschlags in einer Parteiversammlung geäußert haben: Wehner sei ihm in Moskau auch über den Weg gelaufen. Er wäre schon dort sehr barsch gewesen. Eine richtige Feldwebelnatur.

(Der „Dialogvorschlag“ war ein Vorschlag Ulbrichts zu öffentlichen Veranstaltungen in beiden „Deutschlands“ mit Rednern von SED und SPD)

24. 11. 66

Ein Bekannter: Ca. zehn Jahre ginge das nun schon mit China. 1960 habe noch niemand etwas gegen den „großen Sprung“ gesagt. Jetzt erst wäre man bei uns darauf gekommen, dass der schon 1957 falsch war.

Sich selbst beschädigt man mit einem Brett vor dem Kopf seltener.

30. 11. 66

Nach einundeinhalb Jahren wieder in den Havemann-Vorlesungen geblättert.

6. 12. 66

Eine Studentin: Warum ist Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ nicht bei uns erschienen? Der Professor antwortete mit langen Sätzen, das Buch schade, weil der Westen damit eine Analogie Faschismus-Kommunismus, die es nicht gäbe, zu beweisen versuche. Nach einer Pause mit feinem Lächeln: Im übrigen sei für manchen, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesen sei, der XX. Parteitag gar nicht so etwas Neues gewesen. Ein anderer Student: Ich habe aber ein Zitat von Lenin gefunden, dass man den Proletariern immer die ganze Wahrheit sagen solle. Der Professor, kein Lächeln mehr: Wo steht das? Das hat Lenin sicher in einem ganz bestimmten Zusammenhang, für einen ganz bestimmten Fall gesagt. So etwas darf man nicht aus dem Zusammenhang reißen. Und er brach das Thema ab.

Intelligenzangehörige aus nichtkommunistischen Familien glauben manchmal der Propaganda, weil sie es von einer Regierung gesagt bekommen.

9. 12. 66

Der westliche Studentensender hier in Leipzig ist der NDR, bei der Freiwilligenarmee soll man stellenweise sogar noch den Rias gehört haben. In den Studentenheimen wird allerdings zunehmend nur noch Radio DDR angeschaltet. An den Wochenenden zuhause wird jedoch noch der Westen gehört und gesehen.

Schwejk: Über die erste Parteiversammlung, an der er teilgenommen hat: Ach, weißt du, da erzählt man sich gegenseitig, was in der Zeitung steht. Und wenn dann niemandem mehr etwas einfällt, was nicht schon ein anderer gesagt hat, wird die Veranstaltung beendet.

Über seine zweite Versammlung: Auf der wurde mir klar, wie wichtig es ist, dass ich jetzt in der Partei bin. Da wurde nämlich über das Bewusstsein der Kollegen gesprochen. Wie weit jeder bei der Bewusstseinsbildung gekommen sei. Und, weißt du, da ist es doch besser, ich rede über die anderen mit, als dass andere über mich reden.

18. 12. 66

Die Führung sollte sich endlich an die Existenz von zwei deutschen Staaten gewöhnen und ihre Partei umbenennen: SEderDDR.

Es gibt Leute, die darauf warten, dass Ulbricht stirbt, weil die Sowjetunion dann bestimmte Akten über Wehner veröffentlichen könnte, die sie jetzt noch in Schränken behält, weil auch Ulbricht damit belastet werden könnte.

19. 12. 66

Junge Ingenieure in der Straßenbahn. Gespräch über Arbeit, Plan, Termine: „Das schaffen die doch nicht.“ „Was die tun?“

21. 12. 66

Eine Studentin, der ich die Havemann-Vorlesungen gegeben hatte: Das muss jeder kennen! Sie wollte das Büchlein am liebsten ihren Genossen allen unter die Nase halten. Jetzt hält sie mich für einen Feigling, weil ich sie bat, das nicht zu tun.

28. 12. 66

Ihr Ziel ist nicht mehr das Erreichen der ökonomischen Überlegenheit, sondern die Schaffung eines „neuen Menschen“. Da sie den aber niemals zustande bringen werden, werden sie dessen „Formung“ niemals beenden können. Also niemals ihre Herrschaft aufgeben.

1967

21. 1. 67

„Ole Bienkopp“ gefällt einigen Funktionären überhaupt nicht. Er guckt dem System zu oft unter die Röcke. Die Schriftsteller sollen aber von oben schauen, aus der „Perspektive der Planer und Leiter“.

27. 1. 67

Der Künstler ist kein Abbildner der Wirklichkeit. Er reagiert auf sie mit seinem Kopf und seiner Emotion. In seinem Kopf baut er die Wirklichkeit neu auf. In unserer vulgärmaterialistischen Ästhetik ist der Künstler ein widerspiegelndes Wesen, bei Marx ist er jedoch ein schöpferisches Individuum.

28. 1. 67

Die Angst der Führung davor, von Wehner umarmt zu werden wie die CDU. Der neue Propaganda-Satz: „Nichts verbindet uns mit dem imperialistischen westdeutschen Staat.“ Ich zum Parteisekretär: „Uns verbindet doch etwas: die gleiche Sprache.“ Er zog ein Gesicht.

Die objektiven Grenzen des Sozialismus: die subjektiven Grenzen seiner Spitzenfunktionäre?

Januar 67

Ich habe etwas gegen Kollektive. In ihnen herrschen die lautesten Schreier. Und die Feiglinge sind ihre Verbündeten.

17. 2. 67

Die stärkste „Waffe“ des Westens hier ist „Panorama“ – eine im Westen sehr umstrittene Einrichtung.

18. 2. 67

Die (in Ostberlin sitzende ) KPD-Führung soll gegen den Versuch gewesen sein, Havemann nach Westdeutschland abzuschieben. Er würde dort unter den KPD-Mitgliedern zuviel „Verwirrung“ stiften.

Schwejk: Auf dem Bahnhof. Stellt sich vor eine Tafel mit Propaganda-Losungen und liest die mehrmals laut vor: Wenn er unten fertig ist, oben wieder beginnend. Einer: Was machst du da? Schwejk: Ich lese diese schönen Losungen. Der andere: Warum liest du sie aber mehrmals? Schwejk: Ich frage mich immer, wie viel Arbeit muss in solchen Losungen stecken, die niemand so richtig zur Kenntnis nimmt.

Weil sie glauben, so ziemlich alles begriffen und erkannt zu haben, pressen sie uns, ihre Menschen, in ihre Begriffe und Erkenntnisse. Und wir fühlen uns auch gepresst und wenig begriffen.

Weil sie wenig an sich selbst zweifeln, dürfen wir wenig an ihnen zweifeln.

Mitte Februar 67

Aus dem Westen hört man Stimmen, die hiesige Führung habe den SED-SPD-Dialog von vornherein auf Abbruch vorbereitet. Aber: Ein Historiker hier (Wehling) bekam für seine Habilitation in der „Dialog-Zeit“ von einem ZK-Professor eine schlechtere Benotung, weil er SPD-Materialien sehr oberflächlich beiseite gefegt hatte.

Schwejk: Arbeiter nimmt aus seinem Betrieb Bretter für seine Gartenlaube mit. Da aber auf denen noch ihre Herkunft zu lesen ist (VEB Drema), nimmt er zusätzlich auch noch Farbe mit, um diese Herkunftsangaben zu überstreichen. (Weil es im Land nicht alles für Geld gibt, nimmt man vieles unentgeltlich aus dem Staatsvermögen.)

27. 2. 67

Hörte von zwei farbigen US-Amerikanern, die wegen Fluchthilfe acht Monate in Bautzen gesessen haben sollen. Dort habe man ihnen Lenin zu lesen gegeben. Jetzt wollen sie nicht mehr in die USA zurück. Aber in der DDR wollen sie auch nicht bleiben.

28. 2. 67

Sie sagen, es gäbe keinen Dritten Weg. Sie sagen also: Entweder deren Eigennutz oder unsere Anmaßung.

2. 3. 67

Die Produktionsmittel wurden hier in die Hände des Volkes überführt, ohne dass das Volk sie wirklich in die Hände bekommen hat.

1. 5. 67

Diskussion zweier Kommilitonen. – Einer: „Es wäre schön, wenn Karl Marx noch leben würde. Dann hätten wir es leichter.“ Der zweite: „Was jammerst du. Hinter diesem Satz verbirgt sich Unglauben an die Politik der Partei. Zumindest kann man es dir so auslegen, wenn du an den falschen kommst.“

 

5. 5. 67

Diskussion. – Einer: „Wir brauchen ein permanentes Misstrauen gegenüber der Macht.“ Der andere: „Gegenüber welcher Macht?“ Der eine: „Na, gegenüber welcher? Das ist doch seit Stalin klar.“

11. 6. 67

Für die DDR sollen auf einer Leningrader Werft Schiffe gebaut worden sein. Als die Abnahmekommission die Schiffe nicht akzeptiert habe, soll von allerhöchster Stelle der Befehl gekommen sein: Nehmen. Dann sollen die Schiffe erst einmal auf eine schwedische Werft gegangen sein, um für Devisen brauchbar gemacht zu werden.

17. 6. 67

Schwejk in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Seine Ärztin sprach deutsch. Schwejk fragt nach Lektüre. Sie gab ihm Stalin und sowjetische Statistiken auf deutsch. Später fragte sie ihn die Statistiken ab. Da er die mangels anderer Lektüre mehrmals gelesen hatte, weiß er einiges. Danach fragt die Ärztin nach Vergleichszahlen zur Zarenzeit. Schwejk kennt inzwischen ein wenig das Land und zieht einfach 20% von den Sowjetzahlen ab. Die Ärztin – und ihre Vorgesetzten – sind mit Schwejk zufrieden, und er wird bald darauf aus der Gefangenschaft entlassen.

6. 7. 67

Ein Student aus Südamerika: „Che Guevara verlangt, wir müssen so viele Vietnams wie möglich schaffen, um Vietnam zu entlasten. Wir haben da eine andere Meinung als die europäischen kommunistischen Parteien. Nasser hat seine Generäle entlassen. Er hätte sie erschießen lassen müssen. Die Araber müssen zum revolutionären Krieg übergehen. Nur dann können sie gewinnen. In Kuba bekommt jeder Einwohner Guerillaausbildung, um den revolutionären Kampf zu unterstützen.“ Eine deutsche Studentin: „Unsere Aufgabe ist es, das System des Imperialismus zu Tode zu bringen. Aber die Sowjetunion macht jetzt Appeasement. Da gewinnen wir nie. Ich zweifle manchmal an der Sowjetunion: dass sie vielleicht zuviel Koexistenz macht.“

18. 8. 67

Wir Nach-Stalin-„Kommunisten“ wollen zur Demokratie zurück. Die Linken in Westdeutschland wollen in Richtung Sozialismus. Werden wir uns treffen?

28. 8. 67

Man muss immer beachten, dass die deutschen Kommunisten schlechtere Ausgangspositionen hatten und ihre Gegner mit ihnen nie zimperlich umgegangen waren. Vergessen werden darf aber auch nie die Anmaßung, mit der sie ihre Meinungen durchsetzten, wenn sie das konnten.

Karl Marx:

„Ihr verlangt nicht,

dass die Rose duften soll wie das Veilchen,

aber das Allerreichste, der Geist,

soll nur auf eine Art existieren dürfen.“

2.3 Absolvent

1967

20. 9. 67

Ich transportiere jedes Mal, wenn ich aus dem sozialistischen Ausland zurückkehre, Westdrucksachen mit in die „sozialistische Heimat“. Nicht, weil ich den Kapitalismus so sehr liebe, sondern, weil ich dieses System der Kontrollen und Verbote so sehr hasse.

21. 9. 67

Heute, nach der Erzählung eines alten Kommunisten über seine Familie, seine Jugend, die Weimarer Republik sind mir dessen Gründe für seine „Linientreue“ völlig verständlich geworden. Die Jugend dieser Leute war so, dass nur die Solidarität, die „Partei“, die Gewerkschaft, der Konsumverein ihnen eine gewisse Stärke geben konnten. Diese Stärke reichte aber den Aktivsten nicht, sie wollten eine neue Gesellschaft. Die aber war nur mit einem „festgefügten Kollektiv“ zu erreichen; allein war der Proletarier nichts gegen die Bürgerwelt.

Wir Jungen sehen die Ergebnisse dieser „Klassendisziplin“: die Missachtung unserer Rechte als Individuum.

22. 9. 67

Fortsetzung von gestern: Da der vorhandene Staatsapparat gegen ihr Streben nach einer neuen Gesellschaft war, gab es nur noch ein vordringliches Ziel für sie: die Macht. Und diese, einmal errungen, wird nun geschützt wie ein Kleinod. Alles, was die Macht „gefährden“ könnte, wird mit deren Mitteln zertreten. Die Macht geht ihnen über alles: das Gefühl, nicht mehr unten zu sein in der Gesellschaft, das Portemonnaie, das den Bauch füllt, und das Recht, nunmehr selber den gesellschaftlichen Reichtum verteilen zu dürfen.

23. 9. 67

Eine Bekannte. Als ich ihr sagte, dass es heutzutage Mikrofone gibt, mit denen man durch geschlossene Fenster hindurch Gespräche aufnehmen kann – wir standen neben dem Parteileitungsgebäude der Stadt – bat sie mich: „Gehen wir hier weg. Mir wird es direkt unheimlich.“

Schwejk im Sozialismus: „Der Sozialismus wird siegen. So schwer es ihm auch einige Funktionäre machen.“

Schwejk hat infolge einer Schlamperei auf der Behörde einen Pass für den Westen erhalten, kommt aber zurück: Man hat ihn im Westen für einen Kommunisten gehalten und dementsprechend schikaniert. Er wendet sich seitdem vehement gegen die bei uns populäre These, dass der Klassenfeind immer recht habe.

26. 9. 67

Sie haben mich nur verloren, weil sie mir soviel Vorschriften machen.

1. 10. 67

Schwejk im Sozialismus: „Die Vorbereitungen für einen würdigen Empfang des Ministers laufen auf Hochtouren …“

2. 10. 67

Schwejk: Er habe sich ein Lehrbuch der „Grundlagen des Marxismus-Leninismus“ gekauft, und seitdem er abends darin lese, schlafe er besser ein. Und Träume habe er seitdem auch nicht mehr.

7. 10. 67

Ich habe eigentlich wenig Grund, mich über die Funktionäre zu beschweren. Sie haben es immer gut mit mir gemeint. Sie haben sich immer bemüht, mich auf den „richtigen Weg“ zu bringen. Meldete ich meine Zweifel an im privaten Gespräch, schlugen sie mir auf die Schulter und sagten: „Beherrsche deine Zweifel. Und gehe deinen Weg.“

12. 10. 67

Ein älterer Funktionär aus Berlin: Als er noch in Leipzig tätig gewesen sei, habe er einmal eine Veranstaltung zu organisieren gehabt. Und da habe er den zuständigen 1. Sekretär gefragt: „Wer nimmt denn an der Schaffe teil? Ich muss die Figuren doch platzieren.“ Die Reaktion soll entsprechend gewesen sein: „Figuren? Da bin ich wohl für dich auch nur eine Figur?“

21. 10. 67

Die Deutschen verwenden wieder einen Großteil ihrer Kraft für den Kampf gegeneinander. Was wird, wenn sie dieses Spiels müde werden? Zwar wird die Hitler’sche Konstellation nicht wiederkehren, also Eroberungskriege, aber es könnte sich doch wieder die Kontrastellung eines neuen Gesamtdeutschland gegen seine Nachbarn ergeben.

25. 10. 67

Weil sie unter fremder so gelitten haben, gibt es für viele alte Kommunisten nur eines: die Macht. Die Macht.

Jetzt, in den letzten Jahren der Ära Ulbricht hat sich bei einem Großteil der Bevölkerung eine eigenartige Haltung herausgebildet: Gebt des Tags dem Ulbricht, was des Ulbrichts ist. Aber lasst uns des Abends nach dem Westen (fern-)sehen. Es ist ein merkwürdiger Anpassungsprozess von Seiten derjenigen, die nicht mehr auf eine Änderung hoffen, aber einigermaßen noch eigene Wünsche haben. Niemand engagiert sich allzu sehr: Weder die, die zur herrschenden Partei gehören, noch die Beherrschten (von einigen Funktionären und jungen Fanatikern abgesehen). Jeder liefert das Maß an „Bewusstsein“ ab, das seinem Einkommen entspricht. Daher wohl auch die geistige Öde.

3. 11. 67

Schwejk: Wandzeitung mit der Überschrift: Hier spricht die Partei. Nichts drauf. Schwejk: Die Partei hier hat nichts zu sagen? Anderntags befinden sich Neues-Deutschland-Ausschnitte auf der Wandzeitung. Schwejk: In der Partei hat nur das Neue Deutschland etwas zu sagen?

29. 11. 67

Mein Betriebsparteisekretär: Natürlich habe Chruschtschow seine Verdienste. Aber man könne ihm heute nicht mehr vertrauen.

Über zehn Jahre lebe ich nun unter in der Mehrzahl linientreuen Genossen. Ich kann mich aber immer weniger in ihr Denken hineinversetzen. Und wenn ich ihre Welt sehe, nackt und ungeschminkt, bricht immer Galle aus mir heraus. Allerdings nutzlos.

Aber wie viele anständige und sogar verehrungswürdige Menschen in Westeuropa sind immer noch Kommunisten.

1. 12. 67

Ein mittlerer Gewerkschaftsfunktionär: Wenn ich dir mein Leben erzählen würde, könntest du einen Roman daraus machen. Was sich schon für Funktionen hatte. Ich war z.B. schon einmal 1. Kreissekretär der Partei. Aber da war ich zu kühn. Einige Leute ließen mich aus der Funktion wieder raustreiben. Zur Strafe machte man mich zum Arbeiter. Ich fragte, wie das denn wäre, im Arbeiter-und-Bauern-Staat würde man zur Strafe Arbeiter. Später kamen sie wieder und wollten Rat in ihren Schwierigkeiten, die sie inzwischen hatten. Aber ich habe sie fortgeschickt: Ihr wusstet doch vor einigen Monaten noch alles besser. Auf Dauer befriedigte es mich aber nicht, als Studierter an der Drehbank, und so ließ ich mich doch wieder holen.

5. 12. 67

Ein Professor: Seine zehn zur Zeit in der Schublade befindlichen Aufsätze seien in fünf Jahren doch veröffentlichbar.

7. 12. 67

Die leitenden Lichtspielangestellten, meine Kolleginnen und Kollegen, müssen Betrieben Kinokarten für den Defa-Film „Die Fahne von Kriwoi Rog“ verkaufen. Einer: „Tausend Karten habe ich so verkauft. Aber im Kino saß kein Schwein.“

Aber ist damit nicht alles zufrieden: Die ganz oben haben ihre Erfolgsmeldungen, die in der Mitte haben ihren Auftrag erfüllt, den Betrieben die Kinokarten zu verkaufen, und die ganz unten, die die sozialistische Ideologie konsumieren sollen, wurden dazu nicht gezwungen.

8. 12. 67

Demokratischer Zentralismus ist, wenn die Zentrale steuert, wie weit die Demokratie gehen darf.

9. 12. 67

Ein ehemaliger Mit-Student ist jetzt im Staatsapparat tätig. Er bekam vor einer Festlichkeit (Tag der Republik?) den Auftrag, Erkundigungen einzuziehen, wie viele Blumen die SED-Kreisleitung für ihr aus Anlass der Festlichkeiten anzufertigendes Blumengebinde eingeplant habe. Das Blumengebinde der Partei durfte keinesfalls durch das Staatsapparats-Blumengebinde an Größe und Pracht überboten werden.

12. 12. 67

Warum liebt die Bevölkerung diesen Sozialismus nicht?

Wenn in einer größeren Messestadt der DDR die Architekten Balkonen von Neubauten in der Innenstadt die Farbe schwarz geben und der 1. Bezirkssekretär der SED, nachdem er sich die Häuser angesehen hat, die schwarzen Balkons auf gelb umstreichen lässt, weil schwarz nicht optimistisch aussehe und somit nicht das Lebensgefühl des Sozialismus verkörpere, dann werden Kommunisten in Westeuropa (wie sie es zu Stalins Zeiten taten) dies wohl als böswillige, aber primitive Propaganda abtun. Bevölkerung und 1. Sekretär hier wissen allerdings, dass so etwas Tatsache ist. Und weil solche Dinge Tatsachen sind, musste in Berlin eine Mauer gebaut werden, die auch in ihrer äußeren Gestaltung den Optimismus dieses Sozialismus so überzeugend verkörpert.

Wenn der kleine Arbeiter Ausschuss produziert, wird er „materiell zur Verantwortung gezogen“, wenn der hohe Funktionär mit einem Federstrich Unsummen vergeudet, kann man nur auf die nächste ähnliche Tat warten.