Ein feiner Zug

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Ein feiner Zug
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Dieter Teichmann

Ein feiner Zug

Mit der Bahn durch Europa

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Schweiz und Norditalien

Rund um Spanien

Durch Tschechien in den Harz

Impressum neobooks

Schweiz und Norditalien
Ein Onkel in der Schweiz

IC ab Hamburg 8:24

IC ab Zürich 17:10

RB ab Ziegelbrücke 18:04

Lautlos setzt sich der ICE im Hamburger Hauptbahnhof in Bewegung. Von einem bequemen Fensterplatz aus blicke ich auf die vorbeiziehende Stadt: Industriebrachen, die Kirchtürme der City, gläserne Bürohäuser, der Gemüsegroßmarkt. Nach wenigen Minuten erreichen wir die Elbbrücke, die mit drei Stahlbögen den Strom überspannt, und nun geht es gen Süden! Meine Eisenbahntour hat begonnen und das Reisefieber, das mich schon gestern Abend packte, legt sich allmählich. Über mir ruht mein Koffer im Gepäckfach und alles, was jetzt nicht eingepackt ist, hat Pech gehabt. Ich war rechtzeitig am Bahnhof und wartete auf dem richtigen Bahnsteig, der Zug kam pünktlich und mein reservierter Sitzplatz war auch noch frei, und nun bin ich unterwegs und atme durch. Aber ich bin nicht der einzige mit erhöhtem Pulsschlag, viele Menschen kämpfen noch mit ihrem Gepäck, suchen ihre Plätze, manche sogar noch den richtigen Wagen, und bis endlich Ruhe einkehrt, stoppen wir in Hamburg-Harburg. Das ist der südliche Vorort von Hamburg, in dem fast alle Züge halten. Vor einem Jahrhundert gehörte Harburg zum Königreich Hannover und die Bahnlinie aus Hannover endete da, weil der König Ernst August die Elbe als Grenze schätzte und sich lange weigerte, mittels einer Brücke den Anschluss nach Norden herzustellen. Nun, die Zeiten sind vorbei, wir rucken wieder an und sind auf dem Weg nach Hannover. Ich studiere den „Reisebegleiter“, das Faltblatt mit dem Fahrplan des Zuges, das auf den Sitzen ausliegt. Zusätzlich habe ich eine Landkarte dabei, damit ich weiß, wo ich gerade bin. Die Mitreisenden im Großraumwagen haben sich mittlerweile eingerichtet: Einige packen Brot und Thermoskannen mit Kaffee aus und frühstücken erst einmal, andere lesen, Kinder füllen ihre Malbücher mit Buntstiften aus, und die fidelen Mitglieder eines Kegelclubs lassen die Schnapsflasche kreisen. Ist es nicht herrlich, so zu fahren? Das Land draußen ist flach, Fichtenwälder ziehen vorbei, gelegentlich eine kleine Ortschaft, aber inzwischen ist unsere Geschwindigkeit so hoch, dass sich das Bahnhofsschild nicht mehr lesen lässt. Ich blicke ins Grüne und träume.

Schon als Kind liebte ich das Bahnfahren. Leider hatte ich nur selten Gelegenheit dazu, und so genoss ich es umso mehr, wenn doch einmal ein Ausflug an stand. Ab und zu besuchten meine Eltern mit ihren Kindern Verwandte in Barmstedt, einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein. Um dahin zu kommen, fuhren wir zunächst mit Bus und S-Bahn zum Bahnhof Altona. Dort standen dann richtige Züge, gezogen von Dampflokomotiven, und mit einem davon ging es weiter bis nach Elmshorn. Die Lokomotive stieß weißen Dampf und schwarzen Rauch aus, und das sich beschleunigende „tsch-tsch-tsch“-Geräusch hat wohl jeder im Ohr, der einmal unter Dampf Zug gefahren ist. In Elmshorn hieß es umsteigen. Eine enge, steile Treppe führte in die Höhe zu einer Brücke über die Gleise. Auf der anderen Seite ging es genauso steil wieder hinunter zu einem weiteren Gleis, wo „Kuddel Barmstedt“ auf uns wartete. So nennen Einheimische heute noch die Bahn zwischen Elmshorn und Barmstedt. In meiner Kindheit fuhren blaue Triebwagen auf eingleisiger Strecke, in denen man neben dem Fahrer stehen und nach vorne gucken konnte.. Die Bahnübergänge waren unbeschrankt, bei jeder Annäherung wurde mit einem tiefen Hupton gewarnt. Später wurden rote Wagen eingeführt, die hupten mit einem sehr hohen, hellen Ton, der vermutlich besser zu hören war, mir persönlich aber gar nicht gefiel, und nach vorne schauen konnte man auch nicht mehr. Endlich kamen wir an, es gab Kaffee und Kuchen, und dann den unvermeidlichen Spaziergang durch das Dorf. Dabei wurden wir Kinder auf die Verwandtschaft hingewiesen: „Hier wohnt dieser Onkel, da wohnte mal jene Tante, und das ist der Schlachter, wo alle Barmstedter ihr Fleisch kaufen.“ Und dann kam der Satz: „Ihr habt ja auch noch den Onkel Werner in der Schweiz. Nach dem Krieg ist er dahin gezogen.“ Ein Onkel in der Schweiz! So richtig vorstellbar war das nicht. Die Schweiz war weit weg, im Atlas da, wo das Land nicht mehr wie bei uns im Norden grün, sondern braun war. Schlaue Menschen erklärten, dass die Farbe ja nur die Höhe symbolisiere und die Schweiz eben bergig sei, aber da ich noch nie Berge gesehen hatte, blieb mir der unbekannte Onkel genauso rätselhaft wie das Land, in dem er wohnte. Später in der Schule gab es Wandertage, dazu erhielt jeder Schüler einen gelben Fahrschein, mit dem man den ganzen Tag in Hamburg herum fahren konnte. Nachmittags am Ende des Ausflugs durften wir alleine nach Hause fahren, das tat ich dann aber nicht direkt, sondern nutzte die Gelegenheit, und fuhr einmal die Ringlinie ab. Als Ring bezeichnete man eine U-Bahn-Linie, die überwiegend oberirdisch in einem großen Bogen den Kern Hamburgs umrundete. Die Bahn ersetzte Dampf- durch Diesel- und Diesel- durch Elektroloks und Kuddel Barmstedt sieht heute aus wie eine S-Bahn mit zwei Wagen. Eines Tages hatte ich eine grandiose Idee: Ich würde mit dem berühmten Glacier-Express quer durch die Schweizer Berge fahren! Und bei der Gelegenheit könnte ich auch gleich den Onkel Werner besuchen. Der dachte kurz nach, dann sagte er: „Natürlich, das kannst du gerne machen. Aber du willst doch nicht unbedingt allein fahren? Ich komme natürliche mit! Und: Den Onkel lassen wir mal weg.“ Zwei Bahnbegeisterte hatten sich gefunden.

Und nun bin ich irgendwo zwischen Hamburg und Hannover auf dem Wege zu Werner in die Schweiz. Wir hatten mal Besuch aus Italien, die waren schon zig Stunden unterwegs und verzagten eine Stunde hinter Hannover: Hier war die Welt ja wohl zu Ende, soweit nördlich des Limes kam nichts mehr außer germanischen Wäldern, und irgendwer hatte behauptet, dahinter gäbe es eine Stadt namens Hamburg! Aber für mich endet südlich von Hannover das flache Land der Norddeutschen Tiefebene, es wird hügelig und damit die Aussicht interessanter. Wir erreichen Kassel-Wilhelmshöhe, den für die ICE-Schnellstrecke neu erbauten futuristischen Kasseler Bahnhof, der aus Glas und Stahl besteht und mit einem riesigen flachen Dach die Gleise überdeckt. Wir stehen eine Weile, dann ertönt aus den Lautsprechern eine Durchsage: „Meine Damen und Herren, wegen eines Oberleitungsschadens kann die Neubautrasse nach Fulda zur Zeit nicht befahren werden. Wir werden auf der alten Trasse fahren, wodurch es zu Verspätungen kommen wird.“ Ach herrje, jetzt fahren wir auf der alten, kurvigen Strecke anstatt auf der neuen Trasse über Brücken und durch Tunnels mit 250 km pro Stunde schnurgeradeaus dahin zu sausen! Damit gerät mein Fahrplan durcheinander, schließlich will ich noch einige Male umsteigen. Wie groß unsere Verspätung werden wird, verrät niemand. Ich falte meine Landkarte auseinander und versuche festzustellen, wo wir jetzt eigentlich entlang fahren. Die Eisenbahnstrecken sind als kaum erkennbarer grauer Strich eingezeichnet, ich habe Mühe sie zwischen den Autobahnen und sonstigen Straßen zu orten. Dabei hatte ich mir schon eine Karte gesucht, die überhaupt Bahnlinien enthält! Immerhin, die Fahrt geht weiter. Wir erreichen Fulda, Leute holen ihre Koffer aus dem Gepäckfach, auch eine Frau nimmt zwei schwere Koffer, steigt damit aus und stellt sie mitten auf den Bahnsteig. Sie wartet draußen, bis alle anderen Fahrgäste aus- und eingestiegen sind und betritt als letzte wieder den Zug, um weiteres Gepäck aus ihrem Abteil zu holen. Die hat die Ruhe weg, denke ich noch, da piepsen die Türen auch schon und schließen sich. Wir fahren an, und sie stürzt in heller Aufregung zur Tür zurück. „Halt, ich muss noch aussteigen!“ ruft sie und versucht erfolglos, die Tür zu öffnen. Die Leute um sie herum versuchen sie zu beruhigen, ich sitze etwas entfernt und kann deshalb in Ruhe beobachten, jemand holt den Schaffner. Es gibt einige Diskussionen und schließlich beruhigt sich die Lage. Wenig später erfolgt eine neue Durchsage: „Dieser Zug wird im nächsten Bahnhof unplanmäßig kurz halten! Bitte steigen Sie nicht aus, dies ist ein unplanmäßiger Halt!“ Wir halten in irgendeinem kleinen Ort, und eine darf aussteigen: Die Frau mit den Koffern. Das ist doch mal nett von der Bahn, denke ich, zeitlich kommt es wohl auf die zwei Minuten auch nicht mehr an, wir sind sowieso weit entfernt von den im Fahrplan vorgesehenen Zeiten.

Wir erreichen wieder die Normalstrecke, durchqueren Frankfurt mit seinen Bankhochhäusern und fahren durch das Rheintal. Als Fahrkarte löste ich einen Super-Spartarif über Frankfurt und Stuttgart nach Zürich. Das deutsche Fahrkartensystem beruht ja darauf, dass es ziemlich teuer ist, wenn man einfach in den nächsten Zug steigt, und in dem Fall lieber gleich das Auto nimmt. Billiger wird es, wenn man lange im Voraus plant und tagelang die aktuellen Tarifbedingungen studiert. Die ändern sich von Jahr zu Jahr, was die Sache spannender macht, und wenn man Glück hat, und Montag Nachmittags fährt, zahlt man nur die Hälfte, wenn es gerade regnet, man noch ein Kind unter 18 dabei hat und der Zug aus mindestens 12 Wagen besteht. Zurzeit kostet jeder gefahrene Kilometer einen bestimmten Betrag, was für mich als Hamburger schon betrüblich ist auf der Fahrt nach Süden, denn es sind viele Kilometer bis zur Grenze. Der Super-Spartarif hat jedoch eine Preisobergrenze, was ein netter Zug in der Tarifgestaltung ist, es ist egal ob ich von Hamburg nach München oder von Flensburg nach Kufstein fahre. Nach Zürich fährt man am schnellsten über Basel, aber die Strecke kenne ich schon, deshalb wählte ich den längeren Weg über Stuttgart. Zum gleichen Preis. Der Haken an der Sache: Hin- und Rückweg müssen gleich sein, obwohl mir der Umweg über Stuttgart einmal schon gereicht hätte. Durch die Verspätung sind meine Anschlusszüge nun allerdings alle nicht mehr erreichbar. Ich könnte noch wie geplant in Zürich ankommen, wenn ich einfach in meinem Zug sitzen bliebe und über Basel führe. Ich frage den Schaffner, ob das geht, und der hat nichts dagegen. Na also! Für die Schweiz habe ich eine Euro-Domino-Karte, die mittlerweile Interrail one country heißt. Das sind Tageskarten, die man im Voraus kaufen muss und die man selbst entwertet, wenn man sie benutzt. Es gibt sie für fast alle europäischen Länder, man kann sie allerdings nicht für das eigene Land kaufen. Die Preise sind dem jeweiligen Preisniveau des Ziellandes angepasst, aber für längere Strecken konkurrenzlos günstig. Vor allen Dingen kann man sich frei bewegen und fahren, wo und wie man gerade Lust hat. Und das ist mein Glück, denn sonst hätte ich ja von Basel bis Zürich gar keine Fahrkarte! Noch eine Besonderheit kommt hinzu: Werner und ich gönnen uns den Luxus der ersten Klasse für unsere Fahrten in der Schweiz. So etwas kommt mir normalerweise nicht in den Sinn, es existiert eigentlich gar nicht. Ich vermute mal, dass das eine Prägung aus der Kindheit ist, wo niemand, den ich kannte, jemals die erste Klasse benutzt hätte. Mit einer Ausnahme: Die S-Bahn in Hamburg bestand früher zu einem Drittel aus fast leeren Erster-Klasse-Wagen, während die anderen gestopft voll waren. Manchmal machten wir Jugendlichen daraus ein Abenteuer: Eine Station in der Ersten fahren! Wir warfen einen misstrauischen Blick rundum: War kein Kontrolleur in Sicht? Nein, also hinein! Hier war das Holz der Wände dunkler und anstatt mit Leder oder nacktem Holz waren die Sitze mit Polster bezogen, sehr nobel! Wir saßen kurz Probe, dann war auch schon die nächste Station erreicht und wir wechselten schnell wieder in den Zweiter-Klasse-Wagen, wo wir den beschleunigten Herzschlag allmählich zur Ruhe kommen ließen. Und jetzt, kurz vor Basel und nachdem die Grenzpolizei während der Fahrt die Ausweise kontrolliert hat, wechsele ich ganz legal das Abteil. Ein seltsames Gefühl ist das, weniger weil das Abteil geräumiger und nur mit fünf statt sechs Sitzen ausgestattet ist als vielmehr in dem unterbewussten Zustand, hier eigentlich gar nicht hin zu gehören.

 

Nachmittags um fünf Uhr komme ich in Zürich an: Es hat geklappt wie geplant! Ich werfe einen kurzen Blick in die imposante Bahnhofshalle, dann geht die Fahrt weiter mit einem Schweizer Intercity. Gleich hinter der Stadt fahren wir am Südufer des Zürichsees entlang und ich habe einen herrlichen Blick über das Wasser. An einem Ort namens Ziegelbrücke muss ich noch einmal umsteigen und bin überrascht von der Größe des Bahnhofs. Aber mittlerweile bin ich müde und nehme die Umgebung nur noch halb wahr, außerdem steht mein Anschlusszug ins Linthtal schon zur Abfahrt bereit. Jetzt will ich nur noch ankommen! Aus der Ebene fährt die Regionalbahn schnurstracks in die Berge, als Flachländer bin ich begeistert über die Steinkolosse, die sich links und rechts an der Strecke erheben. Am Ende des Tals ragt ein schneebedeckter, 3600 m hoher Berg namens Tödi in den Himmel. Ich gebe zu, noch nie von ihm gehört zu haben.

Schöne Züge in den Bergen

09:40 RB ab Glarus

10:59 Voralpen-Express ab Rapperswil

12:35 IC ab Luzern

14:40 IC ab Interlaken

15:06 EC ab Spiez - Brig an 17:06

Schweizer Züge in Hülle und Fülle stehen heute auf der Tagesordnung, und wir sind jetzt zu zweit auf der Reise. Werner hat zunächst noch einen Heimvorteil und die Gegend um den Zürichsee kennt er natürlich. Wir passieren Glarus, die größte Stadt des Linthals. „Weißt du, in welchem Kanton wir hier sind?“ fragt Werner mich. „Nein, keine Ahnung“, muss ich zugeben. Ich war schon mal im Wallis, und von der Wilhelm-Tell-Lektüre aus der Schulzeit erinnere ich mich an Schwyz und Uri, aber frage mich keiner, wo genau die zu finden sind. „Der Kanton heißt Glarus, wie die Stadt hier!“ klärt Werner mich auf. „Glarus hat die einzige Volksdemokratie der Welt“, erzählt er, während wir weiter fahren. „Einmal im Jahr versammeln sich alle Bürger in Glarus zur sogenannten Landsgemeinde auf dem Marktplatz, und dann wird vor Ort über kommunale Fragen abgestimmt. Vor einiger Zeit beschloss ein Supermarkt, länger als bis zum erlaubten Ladenschluss um 18 Uhr zu öffnen. Der Besitzer bekam jede Menge Ärger, bis hin zur polizeilichen Schließung, aber er erreichte eine Volksabstimmung zu dem Thema. Die Parteien waren gegen eine längere Öffnung, die Gewerkschaften auch, aber das Volk stimmte dafür. Jetzt dürfen alle Läden im Kanton länger verkaufen.“ Wir halten in Ziegelbrücke, wo ich gestern umstieg, fahren aber weiter nach Rapperswil am Nordostende des Zürichsees. Dort steigen wir in den vom Bodensee kommenden Voralpen-Express um. Wir sitzen in einem Panoramawagen mit riesigen Fenstern, die Sitze sind grün-gemustert bezogen und haben Armlehnen aus Holz, das schönste Linienzug-Interieur, das ich bisher gesehen habe. Auch die Aussicht hat es in sich: Wir queren zunächst den Zürichsee über den Seedamm, dann gewinnen wir in hügeliger Landschaft an Höhe. Von oben gibt es immer wieder prächtige Blicke auf die Seenlandschaft, und auch das Wetter spielt mit und beschert uns einen wolkenlosen, sonnigen Herbsttag. Werner und ich passen gut zusammen: Er hat die Fahrpläne dabei und ich eine Landkarte. Wir breiten alles vor uns auf dem Tisch aus und können so kontrollieren, ob wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Es gibt ja Menschen, die steigen in einen Zug ein und wissen lediglich, wo sie wieder aussteigen wollen, aber das wäre uns zu wenig. Zum Fahrgenuss gehört die Kontrolle! Wir passieren den Zuger See, dann wechseln wir leicht südlich über zum Vierwaldstätter See und beenden diese Etappe in Luzern.

Hier erwartet uns ein IC nach Interlaken, der aus Doppelstock-Wagen besteht. Im ersten Stock hat er Sitze, die wie ein großes, halbkreisförmiges Sofa wirken - man sitzt mit dem Fenster im Rücken. Interlaken, gelegen zwischen zwei Seen, ist der Eintritt in die Hochgebirgswelt, nicht weit entfernt finden sich die berühmten Berge des Berner Oberlands wie Jungfrau und Eiger. Mit mehreren Bergbahnen kann man über die kleine Scheidegg bis auf über 3000 m Höhe auf das Jungfraujoch fahren (was allerdings von der kleinen Scheidegg aus schon über fünfzig Euro kostet), aber das ist nicht das, was wir jetzt vorhaben. Wir fahren weiter am Thuner See entlang nach Spiez und wechseln dort in den Eurocity Richtung Brig. Durch den Kanderstegtunnel queren wir den Nordkamm der Alpen und kommen hoch über dem Rhonetal wieder ans Tageslicht. Ich stehe im Gang und kann mich nicht sattsehen: Der Blick ins breite Tal mit der Rhone und den dahinter liegenden Bergen ist atemberaubend! Unten zieht eine graue Industriestadt vorbei, aus Fabrikschloten steigt Rauch in die Höhe. Ist das etwa Brig? Da wollen wir nämlich übernachten, und das hatte ich mir schöner vorgestellt. Aber der Ort verschwindet wieder in seinem eigenen Dunst, und ein Blick auf die Karte sagt mir, dass es Visp war. Langsam verlieren wir jetzt an Höhe und kommen schließlich im Talgrund in Brig an. Wie findet man jetzt ein Hotel? Werner kennt sich aus: „Kein Problem, die Touristeninfo ist gleich im Bahnhof!“ Tatsächlich, die Schweiz ist touristisch gut organisiert, man weist uns ein Hotel direkt gegenüber der Station zu.

Ein Japaner geht verloren

10:25 Glacier-Express ab Brig

14:54 Zwischenstopp in Chur

16:55 an St. Moritz

Gestern Abend konnten wir im Restaurant in der milden Abendluft noch draußen essen, heute ist der Himmel von dicken Wolken verhangen. Ausgerechnet! Denn heute wartet der berühmte Glacier-Express auf uns, laut Werbung der langsamste Schnellzug der Welt. Er kommt aus Zermatt, der Stadt des Matterhorns, biegt dann ab in das Rhonetal und passiert Brig, wo wir jetzt zusteigen. Dazu müssen wir nicht etwa in den Bahnhof gehen, nein, der Glacier-Express fährt auf schmalerer Spur und findet sich vor dem Bahnhof - zunächst meint man, hier hält die Straßenbahn. Die Wagen sind knallrot lackiert und schon gut besetzt, als wir einsteigen. Der gesamte Zug hat nur 1. Klasse-Wagen, die als Panoramawagen riesige Fenster haben und freien Blick in alle Richtungen erlauben. Im Gegensatz zur normalen ersten Klasse befinden sich aber vier Sitze in einer Reihe, mit dem Gang dazwischen. Es ist reichlich eng, denn der Glacierexpress fährt auch noch auf Schmalspur. An unserem Tisch sitzt bereits ein japanisches Paar. Sie zücken sofort ihre Visitenkarten. Ich weiß auch warum: Wir Deutschen kennen als Anrede das Du oder Sie, zusätzlich verändert man die Verbform: Gib mir oder geben Sie mir, heißt es. Aber wann benutzt man was? Wir wissen das mehr oder weniger automatisch: Familie, Freunde und nähere Bekannte werden geduzt. Am Arbeitsplatz ist das schon schwieriger, in meiner Firma zum Beispiel duzen sich Kollegen der gleichen Abteilung, während man sich abteilungsübergreifend siezt. Auch von Chef zu Untergebenem und umgekehrt wird das Sie angewendet. In Japan ist das schwieriger, hier gibt es verschiedene Wortformen von Eltern zu Kind, von Kind zu Eltern, von höherem sozialen Stand zu niedrigerem und andersherum. Man kann also gar nicht reden, wenn man nicht weiß, wer der andere ist. Deshalb sind die Visitenkarten so wichtig: Wenn der schlichte Heiner Müller sieht, dass er einem Dr. Dipl.-Ing. gegenüber sitzt, wissen beide auch, wie sie sich anzusprechen haben. Da Werner und ich dieses Sprachproblem nicht haben, führen wir auch keine Visitenkarten mit uns. Aber wir müssen uns sowieso auf Englisch mit den Japanern verständigen, und da gibt es bekanntlich nur das „you“! Die beiden waren auf einem Kongress in Zürich, machen heute zum Abschluss noch diese Fahrt und werden am Abend nach Japan zurückfliegen.

Inzwischen sind wir unterwegs, ziemlich bald verengt sich das eben noch breite Rhonetal, auf der linken Seite ragen Berge in die Wolken - Gipfel können wir leider nicht sehen - dahinter liegt der Aletschgletscher. Mehrsprachig wird per Lautsprecher erklärt, was es zu sehen oder auch nur zu erahnen gibt. Es zeigt sich, dass die Schweiz eisenbahntechnisch in verschiedene Regionen unterteilt ist, die jeweils eigene Eisenbahnen unterhalten mit eigenen Zügen, Schaffnern und Tarifen. Heute durchfahren wir verschiedene Regionen. Bei jedem „Grenzübertritt“ werden die Fahrkarten von einem anderen Schaffner in anderer Uniform kontrolliert. Bei der zweiten Kontrolle passiert es dann. Ich zücke meine Euro-Domino-Karte, er guckt mich an und sagt: „Die gilt hier nicht.“ Wieso das denn? „Grundsätzlich gilt sie in der Schweiz, aber hier sind wir im Bereich der Furka-Oberalp-Bahn, und wir erkennen sie nicht an.“ Ich habe einen Interrail-Reiseführer bei mir, da steht sogar drin, dass das Ticket auch im Glacier-Express auf ganzer Strecke gilt. Er ist sehr interessiert: „Darf ich mir die Seite fotokopieren?“ Er darf, verschwindet mit dem Buch und kehrt wenig später zurück. Und nun? „Sie müssen bis Disentis nachzahlen, da übernimmt die Rhätische Bahn und die Karte gilt wieder“. Ich schaue Werner an, fällt ihm als Schweizer nicht noch etwas Kluges ein? Aber er guckt nur ausdruckslos zurück. Ich zahle etwa 50 Euro, zum Glück habe ich genug Bargeld bei mir. Pff, nach diesem Schreck lasse ich mich erst einmal in meinen Sitz zurück fallen. Zahnradgetrieben fahren wir über Brücken und Viadukte aufwärts zum 2000 m hohen Oberalppass. Die Wolken hängen tief an den Berghängen, man ahnt mehr, dass es wohl fantastisch aussieht. Schon geht es wieder abwärts, und bald gewährt die Rheinschlucht großartige Blicke, grün schimmert das Wasser an weißen Berghängen. Der Rhein, hier? War es nicht eben noch die Rhone? „Ja, weißt du das denn nicht, dass hier der Rhein fließt?“ fragt Werner vorwurfsvoll. Nein, das wusste ich bis eben nicht! Aber ich lerne ich dazu: In diesem Schweizer Tal, durch das der Glacier-Express mich trägt, fließt der Vorderrhein in Richtung Bodensee. Zufrieden, Werner? Der nächste Schaffner erscheint, er gehört zur Rhätischen Bahn und mein Ticket gilt wieder.

 

Wir erreichen Chur, wo wir zwanzig Minuten Aufenthalt haben. Das japanische Paar steigt aus, um mit einem schnelleren Zug zurück nach Zürich zu fahren. Auch Werner und ich gehen auf den Bahnsteig und vertreten uns die Beine, dabei werfen wir einen Blick auf den modern verglasten Bahnhof. Weiter geht die Fahrt, der Wagen hat sich etwas geleert und wir können die Beine ausstrecken. Plötzlich öffnet sich die Abteiltür und unser Japaner stürzt herein, er ist völlig aufgelöst und redet auf uns ein. Leider hat er vor Schreck sein Englisch vergessen und wir verstehen nicht, warum er offenbar wieder eingestiegen ist - hatte er etwas vergessen? Auf jeden Fall steht seine Frau jetzt samt Gepäck in Chur auf dem Bahnsteig und er ist bei uns im Zug. Er sinkt in einem Sitz in sich zusammen und verbirgt sein Gesicht in den Händen. Was nun? Ich stelle mir vor, wie mir in gleicher Lage in Japan zumute wäre. Vermutlich gar nicht gut, ohne jede Sprachkenntnisse verloren im fremden Land! Werner ist die Ruhe selbst, er redet auf den Japaner ein und holt dabei seinen Taschenfahrplan heraus. Den nächsten Bahnhof werden wir in wenigen Minuten erreichen – Glück gehabt! Werner steigt mit dem Japaner aus, geht mit ihm zum nächsten Bahnbeamten auf dem Bahnsteig und erklärt die Lage. Ich stehe derweil in der Tür. Sie wird sich nicht schließen, bis Werner wieder im Zug ist! Die Schweizer Vollautomatik kenne ich ja inzwischen, auf die Sekunde genau piepsen die Türen, dann schließen sie sich und die Fahrt geht los. Da braucht man keinen, der die Kelle hebt und pfeift. Aber alles geht gut, Werner steigt wieder ein, der Japaner ist in der Obhut der Schweizer Bahn, und zwei Wochen wird uns aus Japan eine Email erreichen, dass er und seine Frau noch rechtzeitig in Chur wieder zusammen gefunden haben.

Die Landschaft wird kurvig und waldreich. Dieser Streckenabschnitt gefällt mir besser als der bisherige! Bei Bergün dreht der Zug mehrere Schleifen im Berg, sicherlich eine bauliche Meisterleistung, aber man sitzt die meiste Zeit im Dunkeln, und dunkel ist es auch im Albulatunnel, dem höchsten Alpentunnel in 1800 m Höhe. Auf der anderen Seite beginnt das Engadin, und wir haben eine Wetter- und Wasserscheide durchfahren. Im Westen, wo wir herkommen, fließen die Flüsse wie der Rhein in Richtung Nordsee, auf der Ostseite dagegen Richtung Donau und Schwarzes Meer. Außerdem sind wir jetzt in beginnendem mediterranem Klima, sollten die grauen Wolken hinter uns lassen, erwarten Wärme und Sonne - und erreichen wenig später in strömendem Regen St. Moritz. Die Schweizer betonen diesen Namen auf der zweiten Silbe, also auf Ritz. Die Touristen-Info im Bahnhof vermittelt uns sofort ein Hotel, wir laden unser Gepäck im Zimmer ab und gehen auf Besichtigungstour. St. Moritz präsentiert sich von seiner schlechtesten Seite: Es regnet immer noch, die Geschäfte schließen um 18 Uhr und haben schon alle zu, die Straßen sind menschenleer, Berge sind nicht zu sehen und die großen mondänen Hotels präsentieren sich abweisend.

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