Marie

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Diana Wolfbach
Marie
Ich bin schon zwölfeinhalb!
Band 1 der Trilogie „Marie“

Diana Wolfbach

Marie

Ich bin schon zwölfeinhalb!

Band 1 der Trilogie „Marie“

Neuauflage Februar 2020

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 Diana A. Wolfbach

Illustration: Diana A. Wolfbach

ISBN: 978-

Mir wurde schwindlig; ich musste mich an der Straßenlaterne abstützen, um nicht umzufallen. Der Riemen meiner Tasche rutschte von der Schulter. Den wenigen Passanten war das ziemlich egal, niemand beachtete mich.

Ich spürte wie jemand meine Hand nahm.

“Geht es Ihnen nicht gut?” fragte eine helle Stimme. Ein Mädchen schaute mich besorgt an.

“Ich weiß nicht, mir ist schlecht,” flüsterte ich. Mir wurde schwarz vor den Augen. Das Mädchen stützte mich.

“Kommen Sie, ich wohne gleich da vorne.”

Sie zog mich sanft aber bestimmt mit sich zu einem Hauseingang und sperrte die Türe auf. Gemeinsam schafften wir eine Treppe nach oben. Ich weiß nicht mehr wie, aber ich fand mich auf einem Sofa wieder. Das Mädchen reichte mir ein Glas Wasser.

“Trinken Sie, das tut Ihnen sicher gut.” Ich nickte und nippte an dem Glas.

“Ich muss …” brachte ich hervor.

“Das Bad ist gleich da hinten. Kommen Sie.”

Wieder nahm sie meine Hand und öffnete eine Tür. Ich musste mich ein paar Mal übergeben, aber dann fühlte ich mich wohler.

Zurück im Zimmer strahlte mich das Mädchen an.

“Geht es Ihnen besser?” fragte es.

Ich nickte. “Vielen Dank für deine Hilfe, du bist sehr nett.”

“Das mach’ ich doch gern, ich hab gleich gemerkt, dass Sie Hilfe brauchen,” sagte sie mit fester Stimme.

Sie reichte mir wieder die Hand. “Ich heiße Marie.”

“Ich bin Diana,” antwortete ich. Verwundert stellte ich fest, dass ich meinen Vornamen nannte.

Sie lächelte. Zum ersten Mal konnte ich sie genauer anschauen. Sie hatte leicht rötliche Haare, ein sehr harmonisches Gesicht, war fast so groß wie ich. Ein hübsches, nein, ein schönes Mädchen stand vor mir. Ich schätzte sie auf etwa 14 Jahre.

Wir setzten uns auf die Couch. Mein Blick schweifte in dem Zimmer umher. Es war sehr groß, mit schrägen Dachgeschosswänden.

Ich kam aber nicht mehr dazu mich weiter umzuschauen, denn ein Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass es höchste Zeit wurde.

“Oh, ich muss weiter, ich habe gleich einen Termin!” Schnell stand ich auf und ging zur Tür.

“Schaffen Sie das alleine oder soll ich mitkommen?” fragte sie besorgt.

“Ja, es geht schon wieder. Nochmals vielen Dank, Kleine!”

Sie runzelte die Stirn. ‘Kleine’ hätte ich wohl nicht sagen sollen. Verlegen winkte ich ihr zum Abschied zu und ging langsam die Treppe hinunter auf die Straße.

***

“Hallo Frau Diana, ich hoffe es geht Ihnen besser. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!”

Verwundert drehte ich meinen Kopf hin und her. Woher kam die Stimme? Das Telefon lag ordentlich in der Station … Es konnte nur aus den Lautsprechern meines PCs kommen!

Aber wie war das möglich? Ich hatte weder Skype noch irgendeinen Chat geöffnet…

Langsam dämmerte es mir, von wem die Nachricht kam. Von Marie, meiner neuen Bekanntschaft, die mir am Morgen geholfen hatte.

Es war kurz nach 21 Uhr, viel zu früh für mich ins Bett zu gehen. Aber für Marie war es wohl Zeit.

Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte nur die Nachricht über den PC verschickt werden?

Es gab keine Möglichkeit Marie zu fragen. Ich wusste nicht Ihren Nachnamen, nicht mal die Adresse hatte ich mir am Morgen gemerkt.

Ohne rechte Konzentration widmete ich mich wieder meinen Aufgaben für den Spanisch-Kurs, den ich an der Volkshochschule belegt hatte.

Den Schwindelanfall in der Früh hatte ich schon fast vergessen. Es ging mir wieder gut. Der Tag war ohne weitere Aufregungen verlaufen.

Ich sah Marie vor mir. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Ein seltsames Mädchen war sie schon.

Lange lag ich noch wach und überlegte wie ich das Geheimnis der ungewöhnlichen Nachricht lösen könnte.

Ich werde Marie morgen besuchen beschloss ich.

***

Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Auf den Spanischunterricht konnte ich mich nicht konzentrieren.

“¡Hasta proxima semana!” sagte meine Kursleiterin zum Abschied.

“¡Hasta proxima vez!” entgegnete ich und ging zu meinem Auto.

Ich wollte Marie besuchen. Vielleicht sollte ich ihr was mitbringen, als Dank für ihre Hilfe. Aber was bringt man einem jungen Mädchen mit? Ich parkte an der gleichen Stelle wie am Vortag. Blumen … dachte ich, das wäre was. In dem kleinen Laden erstand ich einen Strauß violetter Veilchen.

Ich versuchte mich zu erinnern wo ich gestern entlanggegangen war. Das musste die Laterne sein, an der ich mich abgestützt hatte. Aber wie ging es weiter? Zögernd lief ich ein paar Meter. Zu dumm, ich konnte mich nicht an die Haustür erinnern. Den Nachnamen von Marie wusste ich auch nicht. Ob sie überhaupt schon aus der Schule wieder zurück war?

Unschlüssig blieb ich stehen und blickte auf meine Uhr. Es war halb zwei.

“Hallo Diana!” ertönte eine bekannte Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Marie stand vor mir und streckte mit die Hand entgegen.

“Was machen Sie denn hier?” fragte sie.

Ich zögerte einen Moment mit der Antwort.

“Ich … ich wollte zu dir, Marie.”

“Oh, das ist aber eine Überraschung!” sagte Marie lächelnd. “Dann kommen Sie doch gleich mit.”

Ich folgte ihr zu dem Haus, das ich gestern schon betreten hatte.

“Geht es Ihnen besser?” fragte Marie auf der Treppe nach oben.

“Ja, danke,” antwortete ich. “Es ist alles wieder in Ordnung. Wird wohl der Kreislauf gewesen sein.”

Marie schloss die Zimmertür auf und sagte: ”Hereinspaziert!”

Ich ging hinein und legte meine Handtasche auf den Tisch. Zu Marie gewandt sagte ich: ”Hier, ein kleines Dankeschön für deine Hilfe.”

Ich reichte ihr den Blumenstrauß.

Ungläubig schaute sie mich an.

“Für mich?”

Sie führte die Blumen an die Nase und roch an ihnen.

“Ich hab noch nie Blumen bekommen. Und auch noch meine Lieblingsfarbe! Danke schön!”

Sie trat auf mich zu. Zögernd blieb sie stehen. Ich glaubte einen Moment sie wollte mich umarmen, aber dann gab sie mir die Hand.

“Ich stelle die Blumen ins Wasser!”

Marie verschwand hinter einem Vorhang. Ich konnte eine Kochplatte und ein paar Küchengeräte dahinter sehen.

Strahlend kam Marie kurz darauf zurück und stellte die Blumen auf den Tisch.

Eine Weile standen wir stumm nebeneinander.

“Setzten wir uns doch!” schlug sie vor.

Wir nahmen auf dem Sofa Platz. Ich überlegte, was ich als erstes fragen wollte.

“Marie, gestern Abend bekam ich eine Art Anruf über den PC von dir. Ich weiß nicht wie du das fertig gebracht hast!”

Sie lachte leise und schlug sich mit der flachen Hand auf die Oberschenkel.

“Wow, es hat geklappt! Das ist toll!”

“Wie hast du das gemacht?” bohrte ich nach.

“So ganz genau weiß ich das auch nicht, aber Freddie hat mir was auf meinem PC installiert. Wenn ich jemand auf Facebook kenne, kann ich eine Sprachnachricht senden, die sofort zu hören ist, auch wenn man nicht im Chat ist.”

Ungläubig starrte ich meine Gegenüber an.

“Aber du kennst doch nicht mal meinen Namen!” sagte ich mit Nachdruck in der Stimme.

Marie senkte den Kopf.

“Doch!” flüsterte sie kaum hörbar.

“Ja, Diana weißt du, aber meinen Nachnamen kennst du nicht. Oder doch?”

Sie nickte, sichtlich verlegen.

“Woher?” fragte ich.

“Als Sie gestern im Bad waren, habe ich in Ihrer Handtasche nach Ihrem Namen und Ihrer Adresse gesucht,” gestand sie kleinlaut.

“Ich hab’ eine Visitenkarte geklaut,” fügte sie hinzu. “Aber sonst nichts, ich schwöre! Daher wusste ich Ihren Namen, Adresse, Telefonnummer und E-Mail.”

Ich war ratlos was ich sagen sollte. Als ich eine kleine Träne über ihre Wange rollen sah, war mein Ärger über ihre Tat schon fast verflogen.

“Es tut mir leid!” schluchzte sie.

“Mach so was nie wieder, Marie!” Ich versuchte meiner Stimme die nötige Strenge zu geben.

“Versprochen, großes Ehrenwort!” sagte sie sichtlich erleichtert.

“Aber du weißt doch meinen Namen, warum sagst du dann Diana zu mir?” fragte ich.

“Ich wollte mich nicht verraten. Und Diana gefällt mir besser, Frau …”. Sie zögerte.

“Darf ich weiter Diana zu Ihnen sagen? Bitte!” Sie schaute mich treuherzig an.

“Ja, du darfst.” Mir blieb gar keine andere Antwort übrig.

“Danke!” Sie lächelte und wischte sich die Träne weg.

Ein Themenwechsel erschien mir nötig.

“Hast du schon was gegessen, Marie?” fragte ich sie.

“In der Schule, mein Pausenbrot,” antwortetet sie.

“Und kein Mittagessen? Sind deine Eltern nicht da?” wollte ich wissen.

 

“Ich habe keine Eltern mehr,” sagte sie kaum hörbar.

Ich hasste diesen Moment. Mit einer harmlosen Frage kann man einen Menschen verletzen ohne es zu wollen. Mir fiel nichts Vernünftiges als Antwort ein.

“Das tut mir leid, Marie!” sagte ich und drückte ihre Hand.

“Ist schon gut, das konntest d .. konnten Sie ja nicht wissen.”

Ohne dass ich weiter fragen musste erklärte sie: “Ich wohne hier bei meinem Onkel und meiner Tante. Sie haben mich aufgenommen und mir dieses Zimmer hier überlassen.”

“Und wer kocht für dich?” fragte ich.

Sie antwortete ausweichend: “Ich bekomm’ schon was zum Essen, ich kann mich auch selbst versorgen, habe ja eine Miniküche!”

Ich schüttelte den Kopf.

“Du bist doch noch ein Kind!” sagte ich.

Ihre Miene verfinsterte sich. Diesen Blick kannte ich schon von gestern, als ich ‘Kleine’ gesagt hatte.

“Ich bin schon zwölfeinhalb!” verkündete sie stolz und streckte sich dabei.

Ich musste lächeln. In dem Alter ist jeder Monat wichtig, man will schnell ‘groß’ werden. Später ändert sich das.

“Geht es dir gut, Marie?” Ich wunderte mich selbst über meine Frage.

Sie nickte. “Ja, passt schon!”

Ich wusste, dass sie log. Aber ich wollte nicht weiter bohren.

Während ich noch überlegte, was ich sagen könnte, stellte mir Marie eine Frage.

“Haben Sie denn Hunger?”

“Ein wenig schon,” entgegnete ich.

“Mal sehen was ich da habe,” sagte sie und sprang auf.

“Wir könnten zu McDonalds gehen,” schlug ich vor. Das mögen Kinder immer, dachte ich.

Sie zögerte.

“Ich lade dich ein, als kleinen Dank.”

“Aber Sie haben mir doch schon Blumen mitgebracht!” wandte sie ein.

Ich überging ihre Bemerkung und stand auf.

“Komm, ich war schon ewig nicht mehr Fastfood essen!

“Na gut,” sagte Marie.

Wir gingen die Treppe hinunter zur Eingangstür.

Nebeneinander gingen wir zum McDonalds in der nächsten Seitenstraße.

***

“Einmal McRibMenu, Cola mit Eis,” bestellte ich. Das orderte ich immer bei McDonalds. Die Bedienung tippte flink auf der Tastatur.

“Und das Fräulein Tochter?” fragte sie, zu Marie gewandt.

Wir sahen uns grinsend an.

“Die Juniortüte?” schlug die Verkäuferin vor.

Diesen Blick von Marie kannte ich schon. Ihre Miene verfinsterte sich.

“Ich bin doch kein Kind mehr!” maulte sie. “Einen BigMac mit Pommes und Cola!” sagte sie fast wütend.

Das junge Mädchen hinter der Theke murmelte so was ähnliches wie “Tschuldigung!” Sie legte die bestellten Teile behutsam auf ein Tablett. Ich nahm es und bugsierte es zu einem freien Tisch, nachdem ich bezahlt hatte. Marie legte Servietten und Strohhalme neben das Tablett.

“Bitte Mami!” sagte sie grinsend.

“Duuuuu!” zischte ich sie an, aber dann musste ich lachen.

“Ich bin doch nicht deine Mutter, Marie,” versuchte ich so ernst wie möglich zu sagen.

“Schade!” bemerkte Marie, und das Lächeln in ihrem Gesicht verschwand.

“Guten Appetit, Marie!” wünschte ich ihr.

“Danke, Ihnen auch, Diana.”

Eine ganze Weile beschäftigten wir uns schweigend mit Essen und Trinken.

“Ich könnte deine Oma sein, oder deine Uroma,” griff ich das Thema wieder auf.

Ratlos blicke mich Marie an. Ich wusste, was jetzt kam, und ich war vorbereitet.

“So alt sind Sie ja noch nicht,” gab sie mir das Stichwort.

Ich lächelte. “Dann schätz doch mal wie alt ich bin.”

Sie überlegte. “55?”

Ich lachte. “Nein, ganz falsch!”

“Jünger?” fragte sie zaghaft.

“Nein, älter, viel älter.”

Sie schüttelte den Kopf. “Ich komm nicht drauf,” sagte sie bedauernd.

“73. Ich bin 73 Jahre alt,” sagte ich mit einem fast triumphierenden Ton. Das hatte ich schon vielfach geübt.

Marie riss die Augen weit auf.

“Das glaub ich nicht!” sagte sie nach einer Weile kopfschüttelnd.

“Meinen Ausweis hast du also nicht inspiziert, als du in meine Handtasche geschaut hast. Willst du ihn sehen?”

“Nein, nein,” wehrte sie ab.

“Schade, ich zeige ihn so gerne!” flachste ich.

Marie schwieg eine ganze Weile. Ich wusste, was in ihrem Kopf vorging.

Ich genoss diese Situation immer wieder, wenn mich jemand für viel jünger hielt und mir mein Alter nicht glaubte. Klar, fast alle werden eher die Schätzung nach unten abrunden, aber es gefiel mir doch, wenn ich merkte, dass die Leute mich wirklich für jünger hielten.

“Wie geht es dir in der Schule?” nahm ich die Unterhaltung wieder auf.

“Passt schon!” war ihre knappe Antwort. Die Frage war ihr sichtlich unangenehm. Ich entschied, das Thema nicht weiter zu vertiefen.

So langsam hatten wir unser Essen beendet.

“Magst du noch was?” fragte ich Marie.

“Nein, danke, ich bin satt.” Sie stellte die Becher und die Verpackungen auf das Tablett.

“Gut, dann können wir gehen,” meinte ich und stand auf. Marie nahm das Tablett und stellte es in ein Fach des Abstellregals.

“Prima, dass du es wegräumst, die meisten Leute in Deutschland machen das nicht,” lobte ich sie.

Wir verließen das Restaurant und traten auf die Straße. Es hatte leicht zu regnen begonnen, deshalb blieben wir unter dem Vordach stehen.

“Danke für die Einladung, Diana,” sagte meine Begleiterin.

“Bitte, gern geschehen, Marie,” entgegnete ich.

Einen Moment standen wir unschlüssig voreinander.

“Ich werde dann wieder zurückfahren,” sagte ich.

“Ja, ist gut,” bemerkte Marie leise. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber sie schwieg.

“Pass auf dich auf, Marie. Auf Wiedersehen.” Ich wandte mich zum Gehen.

“Gibt es ein Wiedersehen?” fragte sie beinahe ängstlich.

“Warum nicht?” antwortete ich. “Du hast meine E-Mail-Adresse und meine Telfonnummer.”

Sie lächelte sichtlich erleichtert.

“Und ich weiß sogar wo Sie wohnen.”

Ich streckte ihr die Hand entgegen. Sie drückte sie fest.

“Auf Wiedersehen, Diana,” sagte sie und ging davon.

Auf dem Wege zu meinem Auto gingen mir viele Gedanken durch den Kopf.

Marie war schon ein besonderes Mädchen. Aber ich hatte auch das Gefühl, dass sie irgendwas belastete.

Ich war mir sicher, dass wir uns wiedersehen würden.

***

Nach einem gesunden Abendessen warf ich einen Blick in die Fernsehzeitschrift. Nichts zu finden was mich interessiert hätte.

Ich setzte mich an meinen PC und las meine E-Mails.

Es klingelte. Wer konnte das sein, es war nach 20 Uhr.

Ich öffnete die Tür.

“Darf ich reinkommen, Diana?”

Marie stand vor mir. Blut lief aus ihrer Nase, ein Auge war geschwollen.

“Komm rein, Marie.” Behutsam führte ich sie nach oben in mein Arbeitszimmer. Sie sackte sofort in einen Sessel.

“Was ist denn passiert, Marie? Du bist verletzt!” fragte ich sie.

“Ich … ich bin hingefallen. Dabei hab‘ ich mir den Kopf aufgeschlagen,” flüsterte sie.

Ich wusste sofort, dass das nicht stimmte. Aber erst einmal verzichtete ich auf weitere Fragen. Ich reichte ihr ein Tuch mit dem sie sich das Blut unter der Nase wegwischte.

“Hast du Schmerzen? Dein Auge sieht nicht gut aus, du solltest zum Arzt gehen.”

“Nein, nein, auf keinen Fall!” wehrte sie heftig ab. “Es ist nicht so schlimm!”

Ich setzte mich neben sie und legte meinen Arm um ihre Schulter. Marie seufzte.

“Brauchst du Hilfe, Marie?” fragte ich sie nach einer Weile.

“Nein, es ist alles okay, ich bin nur blöd hingefallen,” antwortete sie.

Ich wusste nicht so recht was ich darauf sagen sollte.

“Warum bist du dann zu mir gekommen?” fragte ich schließlich.

“Ich … ich … “ schluchzte sie. Tränen liefen über ihre Wangen.

“Es ist gut, Marie, hier passiert dir nichts,” versuchte ich sie zu beruhigen.

Langsam entspannte sie sich.

“Ich hol dir was zu trinken, Marie. Magst du eine Cola?”

“Ja, gerne,” antwortete sie. Ich merkte, dass sie erleichtert war nicht weiter reden zu müssen. Aber zugleich spürte ich den Druck, der auf ihr lag.

Sie trank hastig und verschluckte sich fast.

“Marie, wenn du reden willst, ich höre dir zu,” versuchte ich das Gespräch wieder in die gewünschte Richtung zu lenken.

Sie schüttelte den Kopf.

“Ich kann nicht!” presste sie hervor.

Ich nickte und strich über ihre Haare.

Wortlos saßen wir nebeneinander.

“Wissen deine Tante und dein Onkel, dass du zu mir gegangen bist?” fragte ich sie.

Marie schüttelte den Kopf.

“Sind sie denn gar nicht zu Hause?” forschte ich nach.

“Onkel Ansfred ist da, Tante Elfriede ist unterwegs.”

Ich registrierte nicht den ungewöhnlichen Vornamen, sollte wohl Alfred heißen.

“Warum bist du denn nicht mit deiner Verletzung zu ihm gegangen?”

Ihr Gesicht versteinerte sich. Sie drehte den Kopf zur Seite.

“Lass mich in Ruhe!” schrie sie plötzlich und sprang auf.

Unschlüssig blieb sie in der Mitte des Raumes stehen, drehte sich zu mir und sagte sehr leise: “Es tut mir leid, ich kann nicht reden!”

“Darf ich bei dir bleiben, über Nacht?” fragte sie und bewegte sich einen Schritt auf mich zu.

Ich stand auf und legte meine Hand auf ihre Schulter. Obwohl ich völlig aufgewühlt war, bemühte ich mich ruhig zu reden.

“So einfach ist das nicht, Marie. Du bist minderjährig, dein Onkel und deine Tante haben das Sorgerecht. Wir müssen sie zumindest verständigen.”

Niedergeschlagen ließ sie ihren Kopf sinken.

“Darf ich noch bleiben bis Tante Elfriede heim kommt?” bettelte sie.

“Ja, gut. Wann ist sie zurück?” fragte ich.

“Kurz vor 9”, kam ihre leise Antwort.

Ich überlegte fieberhaft was ich machen sollte. Irgendwas stimmte nicht, und ich war unschlüssig sie zurück zu schicken.

“Bringst du mich rüber?” fragte sie.

“Ja, es wird langsam dunkel, da solltest du nicht alleine unterwegs sein. Ich fahre dich hin, ist ja doch ein ganzes Stück zu laufen.”

Wir setzten uns wieder auf die Couch. Zu gerne hätte ich Maries Gedanken gewusst. Aber ich schwieg.

Erst nach einer ganzen Zeit wandte ich mich wieder an sie.

“Ist wirklich alles wieder in Ordnung, Marie?” fragte ich besorgt.

“Ja, ja alles okay, wirklich!” presste sie hastig hervor.

Nicht immer ist es leicht zu ergründen, ob jemand lügt oder nicht. Diesmal war es sehr einfach. Aber ich entschied mich vorerst nicht weiter zu bohren. Ich sagte ruhig zu ihr: “Wenn du Hilfe brauchst, ruf’ mich an, Marie. Und wenn dein Auge morgen immer noch so geschwollen ist, geh bitte zum Arzt!”

Sie nickte.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es Zeit war aufzubrechen. Wortlos saßen wir während der Fahrt nebeneinander. Vor ihrem Haus stieg ich mit aus.

“Tante Elfriede ist da!” sagte sie sichtlich erleichtert. “Danke für alles, Diana.”

Sie drückte mir die Hand. Einen Moment überlegte ich sie zu umarmen, aber ich ließ es beim Händeschütteln.

“Pass auf dich auf, Marie! Und wenn was ist, du weißt…” waren meine Abschiedsworte.

Lange blieb ich noch neben meinem Auto stehen als sie schon längst die Tür hinter sich geschlossen hatte. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Ein Verdacht baute sich in mir auf. Ob ich wirklich richtig gehandelt hatte?

Ich fuhr zurück. Lange lag ich noch wach und grübelte. Was war mit Marie passiert? Ich wollte ihr helfen, aber sie ließ mich nicht an sich heran.

Ich war sicher, dass sie Hilfe brauchte, und ich hoffte, ihr diese geben zu können.

***

Am nächsten Morgen beschloss ich Maries Tante anzurufen - aber ich hatte ja keine Telefonnummer, nicht mal den Nachnamen… Die Straße wusste ich noch, aber nicht mal die Hausnummer.

Ich konnte auf gut Glück zu Maries Haus fahren.

Nach erfolgloser Suche im Internet legte ich das kleine Make-up auf, zog mich an und stieg ins Auto. Marie war jetzt ja wohl in der Schule

 

Seltsam, um diese Zeit gab es keinen freien Parkplatz. Deshalb stelle ich meinen Citroen in der nächsten Querstraße ab.

Vor Maries Haus angekommen ging ich noch mal die Fragen durch, die ich ihrer Tante stellen wollte. Einen Moment zögerte ich, dann drückte ich die untere Klingel. Da stand ja auch ein Name… Kossewitz. Auf der oberen Klingel stand kein Name.

Es rührte sich nichts. Noch einmal versuche ich es, dachte ich. Anscheinend war aber niemand da. Ich drehte mich um und wandte mich zum Gehen.

Fast stieß ich mit einer Frau zusammen.

“Was wollen Sie?” fragte sie schroff. “Sie haben bei uns geklingelt.”

Ich musterte die Fragestellerin. Sie war etwas kleiner als ich, schlank, fast mager. Was mir sofort auffiel war ihr schmales verhärmtes Gesicht.

“Ich wollte zu Maries Tante,” antwortete ich.

“Sind Sie vom Jugendamt?” stieß sie hastig hervor.

“Nein, ich habe Marie nur zufällig kennen gelernt, sie war mir mal behilflich.”

“Und was wollen Sie von mir?” sagte sie mit zunehmend abweisender Stimme. “Ich bin Maries Tante.”

“Ich glaube Marie braucht Hilfe,” antwortete ich ohne Umschweife.

“Hilfe? Wie kommen Sie denn darauf? Es ist alles in Ordnung mit Marie!”

Sie schrie fast. “Lassen Sie uns in Ruhe! Verschwinden Sie!”

Ihre Stimme überschlug sich.

Schroff schob sie mich beiseite, öffnete die Tür und verschwand im Haus.

Verblüfft blieb stehen. Warum dieses feindselige Verhalten?

Langsam ging ich zurück zu meinem Wagen.

Jugendamt - sie fragte, ob ich vom Jugendamt käme…

Immer mehr war ich mir sicher, dass etwas nicht stimmte. Ob ich selbst mal zum Jugendamt gehen sollte? Aber ich hatte doch keine Befugnis dazu. Und ob es Marie Recht wäre?

Unschlüssig, was ich jetzt tun sollte, fuhr ich los.

***

Meine Gedanken kreisten immer wieder um das gleiche Thema. Jugendamt … Ich hatte doch als Lehrerin während meiner Dienstzeit gelegentlich mit dem Jugendamt zu tun gehabt. Wie hieß denn noch mal die freundliche Mitarbeiterin.

Mein Namensgedächtnis ließ mich wieder mal im Stich. Das Adressbuch gab auch keine Auskunft. Beate - sie hieß mit Vornamen Beate. Und Irgendwas mir C … oder Z?

Ich öffnete die Internetseite des Jugendamtes. Da … Beate Zumbers, ja das war sie. Ich schrieb die Telefonnummer auf.

“Jugendamt Döppke,” meldete sich eine männliche Stimme.

“Ich hätte gern Frau Zumbers gesprochen.”

“Die ist außer Haus. In welcher Angelegenheit rufen Sie an?”

Ich überlegte.

“Es geht um eine meiner Schülerinnen,” log ich. “Wann ist Frau Zumbers denn zurück?”

“Das kann ich nicht genau sagen, wohl kaum vor 14 Uhr. Sie können aber auch mit mir reden.” Die Stimme klang kalt und wenig freundlich.

Ich überging seinen Vorschlag.

“Dann rufe ich um zwei noch mal an,” sagte ich stattdessen. “Auf Wiedersehen!”

Eine Antwort wartete ich gar nicht mehr ab. Mit diesem Menschen würde ich sicher nicht über mein Problem reden.

Nach und nach fiel mir wieder ein weshalb ich seinerzeit mit dem Jugendamt Kontakt aufgenommen hatte, oder besser, was die von mir wollten. Es ging damals um eine uneheliche Schülerin. Ich wurde aufgefordert, den Zustand des Mädchens zu beschreiben, wie sie gekleidet war, mit Wäsche (!) versorgt war usw. Obwohl es schon viele Jahre zurück lag, konnte ich mich jetzt wieder genau erinnern, wie wütend ich damals war. Uneheliche Mütter - so nannte man das damals - wurden routinemäßig vom Jugendamt überprüft. Ich fand das unheimlich diskriminierend. “Normale” Eltern wurden nicht überprüft, obwohl das bei einigen sicher notwendig gewesen wäre. Später wurde diese Regelung fallen gelassen.

Bevor ich darüber nachdenken konnte welchen Diskriminierungen heute mache Menschen ausgesetzt sind klingelte das Telefon.

“Guten Tag, schön dass ich Sie erreiche. Sprechen ich mit Frau…”

“Um was geht es?” unterbrach ich den Redeschwall.

“Eine kurze Umfrage zu einem Thema, das Sie sicher interessiert,” schnarrte jemand den auswendig gelernten Text.

“Ich habe kein Interesse.”

Bevor ich auflegen konnte meldete sich die Anruferin wieder zu Wort.

“Es dauert nicht lange, nur ein paar Minuten.”

“Nein, danke!” Ich verfehlte fast die Station, als ich das Telefon auflegte.

Über diese Art von Störungen war ich sehr erbost. Natürlich was so was nicht erlaubt, aber immer wieder wurde man belästigt.

Langsam kehrten meine Gedanken zurück zu dem Thema, das mich sehr beschäftigte. Ich hoffte, Frau Zumbers würde mir weiter helfen. Damals war sie sehr verständnisvoll gewesen. Sie war der gleichen Meinung wie ich gewesen, dass die Überprüfung unehelicher Mütter eine Zumutung wäre, aber sie war an ihre Vorschriften gebunden. Die betreffende Frau hatte sich übrigens aufopfernd um ihre Tochter gekümmert.

Schon während meiner aktiven Dienstzeit hatte ich mir angewöhnt einen Mittagsschlaf zu halten, nach dem Essen. Ich versuchte es auch heute, aber ich fand keine Ruhe. Immer wieder ging ich die Ereignisse der letzten Tage durch.

Schließlich fiel ich doch in eine Art Halbschlaf.

***

Verwirrt rannte ich die Straße auf und ab. Hier musste doch mein Auto stehen - aber es war nirgends zu sehen. Alles stimmte, die große Wiese auf der linken Seite, auf der ein paar Kinder Fußball spielten. Am Rand hatte ich meinen Wagen geparkt. Es konnte doch nicht sein, er war gestohlen worden. Niemand war außer den spielenden Kindern zu sehen.

Schweißgebadet wachte ich auf. Der Traum war so realistisch gewesen, dass ich versucht war, in der Garage nachzusehen, ob mein Auto dort stand.

Kopfschüttelnd versuchte ich langsam wieder in die Realität zurückzufinden.

Es war kurz vor zwei Uhr. Ich überlegte, ob ich Frau Zumbers anrufen sollte. Ich entschied mich aber direkt zum Jugendamt zu fahren. Ich musste lächeln. Mein Wagen war tatsächlich noch da… Blöde Träume hatte ich manchmal...

In der Eingangshalle des Amtes orientierte ich mich an der großen Übersichtstafel. Ich fand den Namen von Frau Zumbers aber nicht. Also fragte ich den Pförtner.

“Zimmer 212, zweiter Stock.” gab er mir Auskunft. “Haben Sie einen Termin?”

“Ja”, schwindelte ich und ging rasch zur Treppe.

Auf dem Gang im zweiten Stock kam mir ein griesgrämig blickender Mann entgegen. Anscheinend überlegte er, ob er mich ansprechen sollte. Ich gab ihm aber keine Gelegenheit dazu und ging schnell weiter.

Fast am Ende des Ganges fand ich Zimmer 212. Zumbers/ Döppke stand auf dem kleinen Schild.

Einen kurzen Moment zögerte ich noch, dann klopfte ich.

“Ja bitte!” erklang es aus dem Zimmer. Ich trat ein und ging auf einen Doppelschreibtisch zu. Ich erkannte sie sofort wieder.

“Guten Tag Frau Zumbers,” begrüßte ich sie und reichte ihr die Hand.

Ratlos blickte sie mich über die Ränder ihrer Brille an.

“Guten Tag. Was führt Sie zu mir? Sie haben keinen Termin,” sprach sie.

“Nein, habe ich nicht. Ich bitte um Entschuldigung. Ich hoffe, ich störe Sie jetzt nicht.

“Um was geht es denn?” fragte sie, mich gründlich musternd.

Ich hatte mir alles sorgfältig zurechtgelegt, wie ich vorgehen würde. Also setzte ich meinen Plan in die Tat um.

“Wir kennen uns, Frau Zumbers. Es ist schon lange her, da hatten wir miteinander zu tun.”

Meine Gesprächspartnerin zuckte mit den Schultern.

“Ich kann mich nicht erinnern,” bemerkte sie zögernd. “Wie ist Ihr Name?”

Ich lachte leise.

“Sie kennen mich noch in meiner männlichen Rolle. Ich war an der Albert-Schweitzer-Schule.”

Ich vermied das Wort “Lehrer”; es widerstrebte mir, es zu benutzen.

“Damals musste ich einen Fragebogen ausfüllen, für eine Schülerin. Sie war ein uneheliches Kind, sagte man damals.”

Langsam erhellten sich ihre Gesichtszüge.

“Ich erinnere mich dunkel. Das ist sehr lange her. Herr….” Sie zögerte.

“Damals Herr Wolfbach,” erklärte ich. Jetzt lebe ich als Frau, die ich für mich schon immer war. Transsexuell nennt man das.”

“Oh, das ist ja interessant!” sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht.

“Hatten Sie im Schuldienst keine Probleme deswegen?”

“Ich habe mich erst nach meiner Pensionierung dazu entschlossen endlich so zu leben wie ich es immer schon wollte.”

Ich biss mir auf die Lippen. Damit war mein Plan geplatzt. Eigentlich wollte ich mich als Lehrerin von Marie ausgeben, aber das ging natürlich jetzt nicht mehr. Irgendwie war ich aber auch erleichtert, denn der so geschickt ausgedachte Plan hätte vermutlich sowieso nicht funktioniert, und mein Kontingent an Notlügen war für heute erschöpft.

“Warum erst so spät?” wollte sie wissen.