Die Magier von Stonehenge

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Der Fahrer sprach kein Wort. Es schien, als ob er dazu angehalten wäre, nur auf Aufforderung hin, zu sprechen. Matthew räusperte sich und sagte: „Wie lange dauert denn die Fahrt?“ „Nur ein paar Minuten, Sir“, antwortete der Fahrer förmlich. Dann schwieg er wieder. Diese Art von Stille war Matthew etwas unangenehm. Er war es nicht gewohnt, mit jemandem im Auto zu sitzen und dabei kein Wort zu wechseln.

Er wollte trotzdem nicht aufdringlich wirken. Er lenkte sich ab, indem er in die Dunkelheit der Straßen sah, die von der Weihnachtsbeleuchtung auf und an einigen Häusern ein wenig erhellt wurde. Innerlich war er bei weitem nicht so ruhig wie er nach außen wirkte. Er hätte sich eigentlich denken können, dass man es nicht ihm überlassen würde, nach Cardiff Castle zu kommen und auch noch selbst eine Übernachtungsmöglichkeit zu organisieren. Alles war von vornherein schon gut organisiert worden. Doch die Frage drängte sich erneut auf: Wer hat das getan? - Er würde es sicherlich bald herausfinden, dessen war er sich bewusst. Und genau dieses Bewusstsein machte ihn sehr nervös. Die Aufregung stieg, je mehr Zeit verstrichen war.

Nachdem knappe zwanzig Minuten bereits um waren, bog der Wagen in eine kleine Seitenstraße. Man konnte jedoch nicht so viel erkennen, da die Nacht bereits hereingebrochen war. Nur die Straßenlaternen warfen ein zaghaftes, schattenhaftes Licht, in dem man langsam die Umrisse einer großen Burg erkennen konnte.

Als der Wagen hielt, sah Matthew durch das Fenster ein Gebäude aus alten Steinen. Das musste Cardiff Castle sein. Er hatte ja schon Bilder davon im Internet gesehen und erahnte dunkel seine tatsächliche Größe. Die Tür wurde von dem Fahrer geöffnet und Matthew stieg aus dem Bentley. Nun schritt er auf das Deuten des Fahrers achtend in Richtung des großen Eingangstores. Es war sehr dunkel, deshalb konnte er nicht wirklich viel erkennen. Der Fahrer hatte indessen seinen Koffer aus dem Wagen geholt und trug ihn gelassen hinter ihm her. Als Matthew vor dem Eingang angekommen war, öffnete sich die Tür und ein Mann mittleren Alters in Livre grüßte ihn freundlich. „Herzlich Willkommen auf Cardiff Castle, Master.“ In diesem Augenblick fiel Matthew der seltsame Traum über seine Mutter wieder ein. Irgendwie war die ganze Situation gerade sehr ähnlich. Warum nannte der Mann ihn Master? Er kannte ihn doch überhaupt nicht. Er hatte ihn doch noch nie im Leben gesehen. Der Mann zeigte ihm mit der Hand den Weg in die große Halle. Matthew schwieg und tat, wozu er aufgefordert war. Er sah sich um und betrachtete die prunkvoll ausgestattete Halle, deren Wände über und über mit alten Gemälden behängt waren. An der hohen Decke prangten aufwendige goldene Stuckverzierungen, die unübersehbar arabische Ornamentik zeigten. Das war auch in den spitz zulaufenden Tür- und Fensterbögen mit floraler Verzierung zu erkennen. Überall an den Seiten waren üppig goldverzierte, glanzvolle Leuchter angebracht. Den Boden bedeckten dicke handgearbeitete Perserteppiche, die mit aufwendigen floralen Mustern versehen waren. Matthew betrachtete den Raum und fühlte sich völlig fehl am Platz. Noch nie hatte er einen solch prachtvollen Raum gesehen. Es war still und niemand sonst kam, um ihn zu empfangen. „Bitte folgen sie mir, Master, ich zeige ihnen ihr Zimmer“, murmelte der Butler hinter ihm. Matthew drehte sich um und ging hinter ihm die lange geschwungene Holztreppe hinauf. Sie gingen einen langen, dunklen, nur von wenigen Lampen erleuchteten Gang entlang. Matthew beobachtete den Butler, wie er mit einem Kerzenleuchter in der Hand vor ihm her ging.

Nach einiger Zeit blieb der Butler vor ihm stehen, öffnete eine der Tür im Gang und wies ihn an einzutreten. „Das hier ist ihr Zimmer, Sir. Seine Lordschaft ist nicht im Hause. Seine Lordschaft lässt ausrichten, dass er sie morgen treffen wird.“

Matthew war irritiert. Er hatte keine Ahnung, von wem der Butler überhaupt sprach. Aber er traute sich nicht, danach zu fragen, ohnehin würde er diese Person ja dann morgen sehen. Er trat in den ihm zugewiesenen Raum und sah sich um. Alles war von feinster Qualität. Ein großes Bett mit sehr hohem Kopfteil aus altem, schwerem Edelholz, das mit Bettwäsche aus weißer Baumwolle mit üppiger Spitze bezogen war. Im ganzen Raum mischten sich Möbel im Biedermeierstil. Alte schwere Möbel mit Samt bezogen und mit Gold verziert, wie man dies früher geliebt hatte. Ein Diener brachte eilig seinen Koffer, stellte ihn auf dem Boden neben dem Schrank ab und verschwand daraufhin wieder. „Wünschen sie, noch etwas zu speisen, Master?“, fragte der Butler. Matthew schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“ Er hatte den ganzen Tag im Flugzeug genug zu essen gehabt. Die Anspannung hatte jedes Hungergefühl, das er zuvor noch verspürt hatte, endgültig vertrieben. Nein, er hätte jetzt wohl keinen Bissen hinunter bekommen. Viel zu sehr war er mit der ganzen Situation beschäftigt. „Ich werde dann gleich zu Bett gehen, ich bin sehr müde“, sagte Matthew leise. Irgendwie war ihm etwas seltsam zu Mute. Er befand sich in einem fremden Land bei völlig fremden Menschen. Nein, von Wohlfühlen konnte nicht die Rede sein. Er war mehr als innerlich aufgewühlt, solange er nicht einmal wusste, warum er überhaupt hier war. „Wie sie wünschen Master. Ich wünsche eine angenehme Nachtruhe“, sagte der Butler in verhaltenem, gleichmäßigem Ton, verließ das Zimmer und schloss fast geräuschlos die Tür hinter sich.

Alleine in dem fremden Zimmer sah sich Matthew genau um. Er betrachtete die Möbel, setzte sich aufs Bett und strich mit seinen Fingern sanft über die Bettwäsche. Irgendwie kam ihm der Raum ganz ähnlich vor wie sein Gästezimmer zu Hause. Hatte er deswegen so einen Hang zu solch alten Möbeln? War er etwa schon einmal hier gewesen? Er hätte sich nicht daran erinnern können, aber die Ähnlichkeiten waren mehr als auffallend.

Gähnend fuhr er sich durch sein langes dunkles Haar. Jetzt erst wurde ihm bewusst, wie müde er tatsächlich war. Der lange Flug war sehr anstrengend gewesen. Er legte seinen Koffer auf das Bett und suchte nach seinem Schlafanzug. Den Rest wollte er erst am nächsten Tag auspacken, heute war er dafür schon viel zu kraftlos. Er deckte das Bett auf und legte sich hinein. Kuschelige, wohlige Wärme zwischen dicken Daunenfederbetten umhüllte ihn und lies ihn sanft in den Schlaf fallen.

Ein zaghaftes Klopfen an seiner Tür riss ihn aus der Nachtruhe. Die Sonne schien aufdringlich durch das Fenster und er kniff ein wenig irritiert die Augen zusammen. Die Tür wurde geöffnet und der Butler erschien. „Guten Morgen, Master. Das Frühstück steht im Salon für sie bereit.“ Dann verschwand er wieder durch die Tür und schloss sie behutsam hinter sich. Matthew noch schlaftrunken, blinzelte zum Fenster und gähnte laut. Er war noch etwas müde und hätte am liebsten noch zwei Stunden geschlafen, aber er wollte auch nicht unhöflich sein. Also stand er auf, holte seinen Koffer hervor, legte seine Kleidung in den Schrank und wählte dann sorgsam seine Kleider für den Tag aus. So vornehm wie alles hier war, hatte er die völlig falsche Kleidung eingepackt. Allerdings hätte er dann zuvor einkaufen gehen müssen, da er eine solch vornehme Kleidung gar nicht besaß. Er machte das Beste aus der Situation und zog sich die helle Cordhose, ein weißes Hemd, einen marineblauen Pullover, und schwarze Slipper an.

Nach einem prüfenden Blick in den großen Spiegel neben dem Schrank, verließ er sein Zimmer, und ging den Gang entlang bis zur Treppe. Weiter kam er nicht, denn der Butler stand schon vor ihm und näselte: „Sir, wenn sie mir bitte folgen wollen.“ Matthew, etwas erschrocken, blieb kurz stehen und folgte dann dem Butler. Mit schnellen Schritten führte dieser ihn durch das Haus, bis sie vor einem kleinen Salon angelangt waren. Er öffnete ihm die Tür und deutete ihm an, an dem kleinen runden Tisch, der reichlich gedeckt war, Platz zu nehmen. Er rückte ihm den gepolsterten Stuhl zurecht, stellte sich dann seitlich im Raum auf und wartete. Matthew betrachtete den Tisch und stellte erstaunt fest, dass er reichlich gedeckt war. Alles, was das Herz begehrte, war aufgetragen worden. Von Kaffee bis Tee, Brötchen, Toast, Obst, Müsli und Frühstücksei standen vor ihm zur Auswahl bereit. Er blickte sich um, doch der Butler stand bewegungslos ein Stück hinter ihm, als wäre er nur eine Statue. Matthew wandte sich wieder seinem Tisch zu und nahm sich dann Toast, Ei und Kaffee, bis er satt war. Als er fertig war, klingelte der Butler hinter ihm mit einem kleinen silbernen Glöckchen. Kurz darauf erschien ein Dienstmädchen in schwarzem Kleid, weißer Schürze und Spitzenhäubchen. Sie machte vor Matthew einen angedeuteten Knicks und räumte dann flink das Geschirr ab und verließ damit den Raum.

Matthew überlegte, was er nun tun sollte. Er stand auf und sagte zu dem Butler: „Ich würde mich gerne draußen ein wenig umsehen. Ich war ja noch nie in Wales und würde gerne etwas von der Landschaft und dem Schloss sehen, wenn das in Ordnung ist?“

Der Butler verneigte sich ein klein wenig und antwortete ihm: „Natürlich Sir. Seine Lordschaft erwartet sie erst etwas später. Sie haben noch genug Zeit, sich die Gärten und das Schloss anzusehen, wenn sie dies wünschen.“ Er öffnete ihm die Tür. Matthew verließ den Salon und ging alleine zurück in sein Zimmer, um sich eine warme Jacke zu holen. Danach ging er wieder nach unten. Der Butler stand schon am Eingang und öffnete ihm.

Als Matthew ins Freie trat, atmete er tief durch. Hier draußen, wo er nicht jede Sekunde von Dienstboten umgeben war, ließ seine Anspannung etwas nach. Er wollte sich ein wenig umsehen, um sich ein Bild machen zu können, wo er nun eigentlich war. Am Vortag hatte er ja nur wenig erkennen können. Von Gedanken der Unruhe getrieben, die immer stärker wurden, machte er sich auf den Weg und ging die kleine Straße entlang, die von Cardiff Castle wegführte. Der Blick zurück, als er genug Abstand erreicht hatte, war atemberaubend. Die Ausmaße der Burg schienen riesig. Es musste wohl früher eine wichtige Festung gewesen sein, die bis heute gut erhalten war. Die ganze Anlage war gewaltig groß und mächtig. Aber er fragte sich, was das alles mit ihm zu tun hatte. Er war kein Engländer oder Waliser. Auch seine Mutter kam aus Idaho, so viel er wusste. Ob das nicht doch alles eine merkwürdige Verwechslung war?

 

Er sah dem regen Treiben auf den Straßen der Stadt zu. Alles hier kam ihm sehr befremdlich vor. Diese Menschenansammlungen hatte er noch nie gemocht. Was sollte er eigentlich hier? Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, dass er hierhergekommen war.

Matthew wandte sich von der lauten Stadt ab und ging zurück in Richtung der Burg. Diese wirkte auf ihn wie ein überdimensionales, viktorianisches Herrenhaus. Man hatte sie wohl auch später mehrmals umgebaut und ihren eigentlichen Charakter verändert. Als Burg erbaut in sehr früher Zeit und später hatte man viele Zubauten gemacht, die der Burg auch den Charakter eines Schlosses verliehen. So war es sowohl Burg als auch Schloss geworden, das es beides beherbergte. So war es jedenfalls beschrieben worden.

Als er am Tor angelangt war, erwartete ihn bereits der Butler und öffnete ihm. „Seine Lordschaft erwartet sie bereits in der Bibliothek, Master“, näselte der Butler mit einem Unterton, als würde er ihm einen Vorwurf für sein langes Wegbleiben machen. Er nahm ihm seine Jacke ab, gab sie einem anderen Diener und führte ihn dann die Gänge entlang in einen Raum mit bemalten Holzbalken an der Decke, von der auch mehrere Kronleuchter strahlten. Zudem sah er zahlreiche Malereien an den oberen Seitenwänden, die ebenso arabische Einflüsse hatten und sich in deren Muster widerspiegelten. An den Wänden standen mehrere Buchregale aus Holz, deren Böden aus Marmor gefertigt waren. Als Matthew sich umsah, entdeckte er vor dem Kamin, in dem ein Feuer prasselte, jemanden der mit dem Rücken zu ihm in einem hohen gepolsterten Sessel saß. Sein Herz schien immer lauter und heftiger zu schlagen und das Blut schoss geradezu durch seine Adern. Seine Schläfen pochten und ein starkes unbändiges Gefühl der Unsicherheit machte sich in ihm breit. „Master Matthew, Sir“, hörte er den Butler hinter sich sagen. Mit weichen Knien ging Matthew langsam in Richtung des Mannes, der dort saß. Die Stunde der Wahrheit, auf die er so lange gewartet hatte, schien nun gekommen. „Guten Tag, Matthew“, sagte der Mann“,setz dich bitte!“ Matthew fiel jeder Schritt schwer, seine Füße waren schwer wie Blei. Er ging zu dem Sessel, der dem Mann beim Kamin gegenüberstand, und ließ sich langsam darin nieder. Wellen der Gefühlsstürme brachen über ihm zusammen. Da saß er nun und betrachtete sein Gegenüber. Ein alter Mann mit schlohweißem Haar und kurzem Bart, dessen blaue Augen mit keinem Blick verrieten, was er dachte. Seine Stirn war gekräuselt und man konnte nur erahnen, dass auch ihn so einiges in diesem Moment bewegte. Sein roter, mit goldenen Mustern verzierter Hausmantel, der aus schwerem Samt geschneidert war, umfasste seinen Leib mit Würde. Ein weißes Hemd blitzte weiß wie Schnee dazwischen hervor. Darunter waren eine schwarze Hose und Slipper zu erkennen. Er wirkte wie ein König in seinem Stuhl, obgleich er sehr leger gekleidet war. Als der Mann bemerkte, dass Matthew ihn musterte, sagte er: „Ja, es ist kalt hier drin und der Kasten ist schwer zu heizen. Das ist einer der Nachteile an solchen Häusern, Matthew.“ Da huschte zum ersten Mal ein kleines Lächeln über sein Gesicht und er streckte ihm seine Hand entgegen. „Hallo, Matthew. Freut mich, dass du nun endlich hier bist. Lange Zeit wusste ich nicht so genau, wo du zu finden bist, aber nun bist du ja hier. Du wirst dich sicherlich gefragt haben, wer ich bin?“

Matthew reichte ihm die Hand und schüttelte sie zaghaft verhalten. „Ich bin dein Großvater“, sagte der Mann mit bestimmtem Ton, der keinerlei Widersprüche zuließ.

Matthew war, als ob gerade eine Bombe über ihm explodiert wäre. Ein Sturm der Gefühle all der Jahre, ohne Eltern und Familie, der sich nun mit aller Gewalt in ihm auftürmte, und nicht mehr zu bremsen war. Zugleich festigte sich die Bestätigung in ihm, die ihn in dieser langen Zeit der Unwissenheit, immer wieder angetrieben hatte. Eine vage Hoffnung aus einem unbelegten Gefühl heraus, dass es da irgendwo doch noch jemand geben musste, der zu ihm gehörte. Es war, als fiele ihm ein großer Stein von seinem Herzen.

„Sie sind mein Großvater?“ Ungläubig, als könne er es nicht wagen, daran zu glauben, starrte Matthew dem alten Mann in die Augen. Seine Hände waren schweißnass, obwohl es alles andere als warm war in dem Raum. Der alte Mann nickte. „Ja Matthew, deine Mutter war meine Tochter Mary. Lady Mary de Clare.“ Matthew hielt die Luft in seinen Lungen an, als müsste er sie unbedingt festhalten und diesen Augenblick damit in Stein meißeln. Er konnte seine Gedanken nicht mehr richtig einordnen. Er war nur noch überwältigt. Kein Wort kam über seine Lippen, so fassungslos war er. Der Mann hatte bemerkt, dass es Matthew nicht leichtfiel, all das zu begreifen, und fuhr fort: „Dein Name ist nicht Smith. Dein Name ist de Clare wie deine Mutter. Sie hat wohl ihren Namen geändert, um dich und sie zu schützen, aber das ist eine andere Geschichte. Viel wichtiger ist, dass ich dich nun endlich gefunden habe.“ Matthew schluckte schwer und hatte nun gar keinen Schimmer mehr, wer er eigentlich war. „Übrigens, du darfst mich ruhig duzen, schließlich bin ich dein Großvater“, sagte er nachdrücklich und lächelte Matthew freundlich zu. Matthew fuhr sich verwirrt mit seinen Fingern durch die Haare und fragte: „Aber warum? Warum ging sie hier weg, wenn sie doch hierhergehörte? Und wer ist mein Vater? Lebt er noch? Und wie hast du mich überhaupt gefunden?“ Er sah ihn fragend an und wartete gespannt auf Antworten auf die Fragen, die in seinem Kopf schwirrten wie aggressive Bienen. Sein Großvater sah ihn lange an und überlegte, was er ihm antworten sollte. Er konnte dem armen Jungen nicht alles auf einmal erzählen, denn das war schlichtweg unmöglich. Er musste ihn Stück für Stück vorbereiten auf all das, was noch auf ihn zukommen würde. Er holte tief Luft und sagte dann zu ihm: „Langsam, langsam mein Junge. Alles kommt, wenn die Zeit dafür reif ist. Ich denke, dass du alles erst einmal verarbeiten musst, nämlich, wer du bist und woher du stammst. Das ist im Moment das Wichtigste, was du wissen musst. Wir haben noch genug Zeit, damit ich dir alles erklären kann. Morgen ist der Ball, den ich dieses Jahr zu deinen Ehren gebe. Versuche erst einmal, hier richtig anzukommen und dich wohlzufühlen, bevor wir die nächsten Schritte setzen.“ Matthew nickte. Er wusste, dass sein Großvater recht hatte. Es war im Moment wirklich alles etwas zu viel, was auf ihn einstürmte. Da er nun auch endlich am Ziel angekommen war, lief ihm ja auch nichts mehr davon. Also willigte er ein, das Kommende etwas langsamer anzugehen. Allein schon das Gefühl, endlich seine Familie gefunden zu haben und nicht mehr ganz alleine zu sein auf dieser Welt, stimmte ihn nun froh und glücklich. Er wollte seinen Großvater auch nicht weiter bedrängen. Er wusste bestimmt, was gut für ihn war, und er fügte sich seinen Wünschen.

Sir Raven nickte erleichtert, dass Matthew ihn nun nicht mehr mit Fragen bombardierte. Er musste sich gut überlegen, wie er ihm die Geheimnisse seiner Familie beibringen sollte. Behutsam, Stück für Stück. Das konnte man nicht auf einmal machen. Unmöglich. Er musste sich erst einmal an die Tatsache gewöhnen, dass er aus einem uralten Geschlecht stammte, dessen Aufgabe eine der wichtigsten überhaupt war, die es auf dieser Welt zu meistern galt. Er sollte sich hier erst einmal einleben und wohlfühlen, bevor er ihm die nächste Wahrheit preisgab. Sonst konnte alles auch sehr leicht scheitern, was er im Sinn hatte und wozu er ihn zu sich geholt hatte.

„Hast du dich hier schon ein wenig umgesehen Matthew?“ Es war unschwer zu erkennen, dass er vom Thema ablenken wollte, aber Matthew respektierte sein Ansinnen und antwortete ihm: „Na ja, ein klein wenig. Aber sehr viel habe ich noch nicht gesehen, ich war nur vorher schon draußen und habe mir die Burg von außen angesehen. Sehr eindrucksvoll.“ Sir Raven nickte und sagte: „Da stimme ich dir zu. Aber in früheren Zeiten war sie noch eine richtige Wehrburg, die von vielen Generationen verteidigt wurde. Heute ist sie durch die Anbauten mehr ein Herrenhaus als eine Burg. Vieles hat sich im Laufe der Zeit stark verändert. Aber es ist auch nicht leicht so einen alten Kasten am Leben zu erhalten.“ Er seufzte und Matthew bemerkte, dass ihm das schwer am Herzen lag.

Sir Raven legte seine Hände auf die Armlehnen seines Stuhles und sagte: „Aber eines werden wir gleich als erstes erledigen. Deinen Namen ändern. Denn du bist mein rechtmäßiger Erbe. Wer weiß, wie lange ich noch Zeit habe. Ich werde gleich heute noch meinen Anwalt Dr. Kinley beauftragen, damit das so schnell wie möglich geschieht.“ Er klingelte nach dem Butler und beauftragte ihn, Dr. Kinley anzurufen und ihn hierher zu bestellen. Dieser nickte demütig und eilte davon.

Nachdem dies erledigt war, stemmte er sich aus dem Sessel hoch und forderte Matthew auf, ihm zu folgen. Sie verließen die Bibliothek und gingen in Richtung der Treppe den langen Gang entlang. Sir Raven deutete mit seiner Hand auf eine Reihe von Gemälden, die dort an der Wand hingen. „Siehst du diese Bilder? Das alles sind deine Ahnen. Und in der letzten Reihe ganz hinten findest du ein Porträt von mir und daneben das von deiner Mutter. Ich kann mir vorstellen, dass du keine Erinnerung an sie hast, weil du noch viel zu klein warst, als sie starb. Aber in ihrem Bildnis hier findest du auch ihre Wesenszüge, wenn du genau hinsiehst. Der Maler, der sie geschaffen hat, ist dieser Kunst sehr fähig. Es hat mich tief getroffen, als ich damals von ihrem Tod erfuhr. Sie war mein einziges Kind. Meine Frau Anne ist leider schon im Kindbett gestorben, deshalb lag mir Mary umso mehr am Herzen. Lange Zeit war das Erbe der de Clares unsicher. Ich wusste da noch nicht, dass es dich gibt. Deshalb bin ich jetzt sehr froh darüber, dass du hier bist, mein Sohn.“ Er lächelte Matthew zu und umarmte ihn vorsichtig aber liebevoll wie ein richtiger Großvater. Matthew hatte ein seltsam wohliges Gefühl, das er nie gekannt hatte, als die Arme seines Großvaters ihn umschlossen. „Das bin ich auch, Großvater“, sagte er leise und sehr bewegt. Fast hatte er eine Träne zurückhalten müssen, so tief hatte ihn all das berührt. So kannte er sich selber gar nicht. Er war noch nie so ein Gefühlsdussel wie andere Leute gewesen. Das war alles so neu für ihn, dass er etwas Zeit brauchte, um sich daran zu gewöhnen.

Sir Raven lächelte. Er war sehr froh, dass alles nun in den richtigen Bahnen verlaufen zu schien. Er klopfte Matthew väterlich auf die Schulter und meinte: „So, mein Junge. Ich denke du hast bestimmt Hunger. Wir sehen uns dann gleich wieder zum Lunch im großen Speisesaal. Ich werde mich jetzt umziehen, wir treffen uns dann unten.“ Er ging würdigen Schrittes davon und Matthew blieb alleine zurück.

Langsam aber stetig wurde ihm mehr und mehr bewusst, dass sein ganzes vorheriges Leben eine einzige Lüge gewesen war. Er stammte aus dieser Familie, von der er nichts gewusst hatte. Aber warum hatte sich seine Mutter umbenannt und warum machte sein Großvater ein solches Geheimnis aus allem und wollte ihm nicht sofort alles erklären? Was war geschehen, das er vielleicht nicht verkraften sollte? Er hatte eingewilligt, alles langsam anzugehen, trotzdem wurden die brennenden Fragen nicht weniger und marterten ihn. Sein ganzes Leben war nun noch geheimnisvoller geworden, als es zuvor schon gewesen war. Aber er respektierte den Wunsch seines Großvaters, solange er dann doch demnächst erfuhr, was das alles auf sich hatte. Zu lange hatte er sich mit diesen Fragen beschäftigt, als dass er da noch sehr lange hätte warten können.

Im Moment konzentrierte er sich ganz auf seinen Großvater, um ihn etwas besser kennenzulernen. Er wollte herausfinden, welchen Charakter er besaß und ob sich gewisse Gemeinsamkeiten zwischen ihnen finden ließen. Er dachte an den heutigen Abend und war schon sehr gespannt, wie so ein Abend hier ablief, da er ja noch nie bei einem solchen anwesend gewesen war. Er war in seinem Leben nur ein einziges Mal auf einem Ball. Das war der Abschlussball auf der High-School. Da fiel ihm plötzlich ein, dass er gar keinen passenden Anzug hatte für diesen Anlass. Bei all dem Glamour hier würde er ganz bestimmt unangenehm auffallen!?

Er ging die Treppe hinunter in die Halle und sah sich nach einem Bediensteten um. Da er gerade keinen auffinden konnte, machte er sich selbst auf die Suche nach dem Speisesaal. Nachdem er den Gang entlang gegangen war und gerade eine der Türen öffnen wollte, stand der Butler plötzlich hinter ihm. „Sir, wenn sie mir bitte folgen wollen.“ Matthew hatte in dem Moment das Gefühl, als dürfte er gar nicht sehen, was hinter all den Türen verborgen war. Jedes Mal, wenn er dachte, er wäre alleine, stand schon wieder einer der Diener vor ihm. Er ließ von der Türklinke, die er gerade öffnen wollte, ab und folgte dem Butler, bis sie einen größeren Raum erreichten, dessen Gewölbe mit Holzdekor reichlich geschmückt war. In der Mitte des Raumes stand eine Tafel für mehrere Personen, an denen Matthew auf Anweisung des Butlers Platz nahm. Edles Porzellan machte den Anblick der Tafel zu einer einzigen Augenweide. Die Gläser waren mit feinsten Gravierungen verziert. Für jedes Getränk gab es ein eigenes Glas. Das Besteck, das das Geschirr umrahmte, war von bester Qualität aus Sterlingsilber mit Goldverzierung. Matthew betrachtete das Geschirr und hatte irgendwie die Emotion, als hätte er es schon einmal gesehen. Nur war dies schlicht unmöglich. Er war doch noch nie zuvor auf Cardiff Castle gewesen. Er dachte an sein eigenes Geschirr zu Hause und fühlte sich ein wenig demütig in Anbetracht all des Prunks hier. Luxus war ihm noch nie wichtig gewesen. Es zählte immer nur die Sinnhaftigkeit jedes Stücks, das er erwarb. Nur sein Gästezimmer war ihm etwas wichtiger gewesen, darin investierte er viel Zeit und Mühe, um es besonders schön auszustatten. Es hatte ihm Spaß gemacht, jedes einzelne Möbelstück zu suchen und zum Teil auch zu renovieren. Mit viel Liebe hatte er ihnen wieder zu altem Glanz verholfen. Dieses eine Zimmer war sein ganzer Stolz. Doch mit der Pracht hier war dies nicht zu vergleichen. Es musste enorm viel Geld kosten, so eine alte Burg samt Mobiliar zu erhalten. Wenn er dies wirklich eines Tages erben sollte, hatte er keine Ahnung, wie er dies bewerkstelligen sollte, ohne dem Ruin nahe zu sein. Er lebte zwar nicht schlecht, aber so viel Geld würde er nie aufbringen können.

 

Er schalt sich selbst bei dem Gedanken daran. Wie konnte er nur daran denken? Er hatte seinen Großvater gerade erst kennengelernt. Wie konnte er da schon an sein Erbe denken? Das war eigentlich so gar nicht seine Art. Er schüttelte den Gedanken ab und schob ihn vehement zur Seite. Was war nur mit ihm los? Wie konnte er nur?

Sir Raven betrat den Speisesaal in einem dunkelblauen Anzug aus feinstem Stoff. Matthew schluckte. Ihm fiel wieder ein, dass er keine passende Kleidung für den Abend hatte. Er nahm sich vor, nach dem Lunch in die Stadt zu gehen und sich einen neuen Anzug zu kaufen.

„Matthew, schön dass du schon da bist“, sagte sein Großvater lächelnd, und ließ sich vom Butler den Stuhl zurechtrücken. Das Essen wurde von einem Dienstmädchen aufgetragen und vom Butler serviert. Roastbeef mit Kartoffeln und als Nachspeise gab es noch Yorkshire Pudding. Für Matthew war das Roastbeef etwas gewöhnungsbedürftig, weil er sein Fleisch zu Hause stets ganz durchgebraten aß und nicht noch halb blutig. Aber er sagte kein Wort und aß alles auf, was ihm vorgesetzt wurde. Als sie fertig waren, räusperte er sich dezent, und sagte zu Sir Raven: „Großvater, gibt es hier ein Geschäft, wo ich mir einen neuen Anzug kaufen könnte? Ich denke, dass meine Kleidung, die ich mitgenommen habe, nicht ganz dem entspricht, was auf dem Ball heute Abend von mir erwartet wird.“ Er senkte ein wenig den Kopf. Es war ihm etwas peinlich, vor ihm zugeben zu müssen, dass er bis jetzt wenig Wert daraufgelegt hatte, was seine Kleidung betraf. Matthew wollte nicht, dass sein Großvater sich ein schlechtes Bild von ihm machte, schon gar nicht den Eindruck gewann, dass er womöglich nicht hierher passte. „Keine Sorge, Matthew, daran hatte ich schon gedacht. Ich habe nichts anderes erwartet. Henry wird heute Nachmittag mit dir in die Stadt zu meinem Schneider fahren. Dort wird man für deine angemessene Kleidung heute Abend sorgen.“ „Sehr wohl, eure Lordschaft“, sagte der Butler mit übertrieben ehrerbietiger Geste. Da war Matthew klar, wen sein Großvater gemeint hatte. Er selbst würde wohl nicht mit ihm zu dem Schneider fahren, das war offensichtlich. „Schade“, dachte er, er hätte gerne etwas mit seinem Großvater gemeinsam gemacht. Aber die Geste war mehr als eindeutig, dass dies kaum geschehen würde. Sir Raven delegierte alles seinen Dienstboten, auch das, was seinen eigenen Enkel betraf. Was hatte er denn erwartet? Dass sein Großvater, ein Earl, mit ihm persönlich einkaufen ging? Ihm wurde bewusst, wie naiv er eigentlich gewesen war. In diesen hochherrschaftlichen Kreisen war dies wohl kaum üblich. Matthew war ein wenig traurig darüber, dass er jetzt zwar endlich eine Familie hatte, aber die Nähe, die er sich erhofft hatte, in weite Ferne gerückt war. Er wischte den Gedanken weg und schob es darauf, dass sein Großvater bestimmt viel Wichtigeres zu tun hatte, als sich um ihn zu kümmern. Eine kleine Enttäuschung, blieb in ihm dennoch zurück.

Sir Raven erhob sich mit den Worten: „Ich habe noch einiges zu tun, Matthew. Das House of Lords verlangt meine Anwesenheit in wichtigen Angelegenheiten. Henry wird sich während meiner Abwesenheit gut um dich kümmern. Wir sehen uns dann auf dem Ball. Ich wünsche dir einen schönen Tag.“ Er hob die Hand ein wenig zur Geste eines Grußes und verließ eilig den Saal. “Sehr wohl, eure Lordschaft“, sagte Henry und eilte ehrerbietig voraus.

Matthew, alleine zurückgelassen, erhob sich nun ebenfalls. Als er den Raum verlassen wollte, wurde die Tür geöffnet und der Butler sagte dienstbeflissen: „Master Matthew, wenn sie mir bitte folgen würden. Es wird nun für ihre Abendgarderobe gesorgt werden.“ Er wartete, bis Matthew aus der Tür getreten war, um sie dann sorgsam hinter ihm zu schließen. Er eilte voraus und geleitete ihn über den Gang, half ihm in seine Jacke und führte ihn dann zum Tor, wo schon der Bentley samt Fahrer auf sie wartete.

Matthew stieg in den Wagen und die Tür wurde hinter ihm geschlossen. Der Butler nahm neben dem Fahrer vorne Platz. Die Fahrt dauerte etwa fünfzehn Minuten, dann hielt der Wagen in der Innenstadt vor einem Geschäft, das von außen eher unscheinbar war. Der Butler stieg aus und öffnete ihm die Tür, sodass Matthew aussteigen konnte. Er ließ ihm den Vortritt und folgte hinter ihm in den Laden. Matthew wurde überfreundlich von dem Geschäftsführer empfangen. „Guten Tag Master Matthew. Ich bin William Morris, der Geschäftsführer. Sir Raven hatte sie bereits angekündigt und mich beauftragt, sie für heute Abend angemessen einzukleiden. Bitte folgen sie mir!“ Er deutete eine leichte Verbeugung an und wies ihm dann den Weg zu einem Extrazimmer, in der offenbar nur betuchte Kunden betreut wurden. Er klatschte in seine Hände und sofort kamen drei Mitarbeiter, die sich eifrig um Matthew bemühten. Jeder Zentimeter seines Körpers wurde genau vermessen und man brachte ihm jede Menge Modelle zur Ansicht. Matthew entschied sich dann für einen schwarzen Anzug, der etwas breitere Aufschläge hatte und eine doppelte Knopfreihe. Der Geschäftsführer, der sich die ganze Zeit über persönlich um ihn kümmerte, gab sofort die Anpassung des Anzugs in Auftrag. Matthew musste in das Sakko und die Hose hineinschlüpfen, dann wurde alles fein säuberlich mit Nadeln abgesteckt und angepasst. Es war ihm unangenehm, dass er so im Mittelpunkt stand. Nachdem er sich wieder umgezogen hatte, verließ Mr. Morris kurz den Raum und als er zurückkam, sagte er: „Master Matthew, sie können sich darauf verlassen, dass der fertige Anzug in zwei Stunden geliefert wird. Wir werden alles zu ihrer Zufriedenheit erledigen. Danke für ihren Besuch, beehren sie uns bald wieder.“ Er lächelte freundlich und Matthew sagte: „Ok, was macht das?“ Mr. Morris schüttelte merklich erstaunt den Kopf und sagte: „Oh nein Sir, der Auftrag ist bereits bezahlt. Sie brauchen nichts weiter zu tun.“ Er neigte ein wenig seinen Kopf und grüßte freundlich zum Abschied. Matthew war das ein wenig peinlich, er grüßte freundlich zurück und verließ mit dem Butler im Gefolge das Geschäft. Der Fahrer hatte bereits die Tür geöffnet und hielt sie ihm auf. Matthew stieg in den Wagen und in wenigen Minuten hatten sie Cardiff Castle wieder erreicht.