Fürstin des Lichts

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Am nächsten Tag wollte ich telefonisch einen Umzugsunternehmer organisieren, damit zumindest das Packen der geschätzt achtzig Bücherkartons bald starten konnte. Doch die Lichtwesen stoppten mich.

Kurz darauf klingelte es. Ein Fahrradkurier kam die Treppe hoch geflitzt und drückte mir wortlos ein großes Kuvert in die Hand. Als Absender prangte der Stempel einer Anwaltskanzlei.

In dem Umschlag befand sich nicht nur der Kaufvertrag für das Gartenhaus, sondern bereits die Schlüssel dazu. „Unglaublich!“ Logischerweise hatte ich erwartet, das Prozedere würde viele Wochen verschlingen.

Eindeutig, die Lichtwesen kicherten. „Lilia, sicher möchtest du gleich zu deinem Haus fahren. Vorher musst du Folgendes wissen: Dort erwartet dich eine Elbe, Elin ist ihr Name.“

Mir blieb die Spucke weg. Hatten sie wirklich gerade „Elbe“ gesungen? E-L-B-E? „Eine, aber, was, wieso das, tut sie denn da …?“, stotterten meine Gedanken ohne geistreiche Anweisungen.

Sie schwiegen taktvoll.

Und wie verhält man sich gegenüber Elben?“

Genauso herrlich respektlos, wie du uns begegnest. Sei einfach freundlich. Sie wird dir helfen und Rat erteilen, wenn du darum bittest.“

Gespannt wie ein Flitzebogen, zugegeben auch hochgradig nervös, marschierte ich zur S-Bahn. Dann ging es los. „Eine Elbe? Ernsthaft?“ Prompt spulten Filmsequenzen aus J. R. R. Tolkiens „Herr der Ringe“ in meinen Kopf ab. „Du spinnst doch total! Elben? So ein Blödsinn!“, schimpfte mein Alter Ego. „Du meinst, die machen einen Scherz?“ „Was denn sonst? Oder bist du jetzt etwa rationalamputiert?" Als Reaktion auf unseren internen Schlagabtausch startete mein Verstand den kurzen Versuch, eine lupenrein rationale Erklärung für sämtliche Vorgänge abzuliefern. Demnach musste ich seit Wochen – wahrscheinlich nach dem Sturz von Joschs XXL-Leiter – im Koma liegen und ungebremst vor mich hin spinnen. „Wie die Elbe wohl aussieht?“, machte meine Fantasie kurzen Prozess.

Die Fahrt zum Gartenhaus dauerte diesmal gefühlt ewig. Unruhig rutschte ich in der S-Bahn auf meinem Sitz herum.

Mehr schlitternd als gehend hastete ich das letzte Stück über vereiste Wege bis zum Gartentor. Der fiese neue Nachbar schien verreist zu sein, unberührter Neuschnee lag vor seinem Haus wie auf dem Weg zum Gartenhaus. Die geräumten Treppenstufen vor dem Eingang fielen daher sofort ins Auge. Dickes Fragezeichen! Den Geheimcode für die Alarmanlage hatte mein Gehirn unverständlicherweise sofort abgespeichert. Kurz schüttelte ich irritiert den Kopf über mich.

Leise schloss ich die Tür auf – und bekam tellergroße Augen. „Der Flur ist bereits eingerichtet!“, rief ich voller Staunen aus. Gläserne Bodenvasen mit Rosen darin, die ihren sanften Duft verströmten, standen rechts und links der Freitreppe. Dann erblickte ich sie. Elin. Ein weiß schimmerndes Lichtwesen, halb menschlich und halb überirdisch anmutend. Ihre grazilen Bewegungen ließen schwache Blautöne über das lange weiße Gewand gleiten. Etwas kleiner als ich, wirkte sie zart, fast zerbrechlich unter ihren weißblonden, üppig langen Haaren. Im krassen Kontrast dazu baumelte ein silbernes Schwert an ihrer Hüfte. Graublaue, geheimnisvolle Augen betrachteten mich ernst. Unwillkürlich verglich ich ihre Erscheinung mit der Elbe Galadriel. „Irgendwie ähnlich und doch sehr anders.“

Später gewahrte ich den bedeutenden Unterschied. Bei Elin fehlte die offensichtliche Ausstrahlung von Macht.

Überraschend erklang Elins melodische Stimme in meinem Kopf: „Ich grüße dich, Lilia, willkommen in deinem Heim.“

Etwas unsicher, ob meine Gedanken von ihr ebenso gehört würden, versuchte ich: „Hallo, Elin, ich freue mich, dich kennen zu lernen.“

Sie lächelte bestätigend.

Plötzlich überwältigte mich eine fremde, völlig unbekannte Empfindung. Als ob ein Wimpernschlag zwei Teile zusammengefügt hätte, fühlte es sich wie die Rückkehr eines verloren geglaubten Zwillings in mein Innerstes an.

Elin nickte. „Ein Teil deiner Seele, in dem sich das Vermächtnis der Elben befindet, ist erwacht und erkennt mich. Das ist ein gutes Zeichen. Komm nun, alles ist bereit. Sieh selbst, ob es deinen Wünschen entspricht.“

Kaum hatten wir unseren gemeinsamen Rundgang begonnen, kapitulierte ich jedoch. In der Küche, als spontan gewählter Zufluchtsort, ließ ich mich auf einen Stuhl fallen. Alles war zu viel. Mein Inneres gab sich heftig aufgewühlt, eine Dosis, die bereits völlig ausgereicht hätte. Obendrein befanden sich im Haus keineswegs ausschließlich neue Möbel. Um mich herum standen, lagen und hingen Dinge aus meiner Küche, da war ich mir sicher. Und im Wintergarten standen eindeutig meine Zimmerpflanzen. Großes, erschöpftes Fragezeichen.

Elin trug ein Teetablett herüber. „Ja, mit meinem heiß geliebten blauen Teeservice.“ Ich schloss meine Augen und genoss das beruhigende Getränk.

Gerade als ich die Elbe fragen wollte, wie meine Sachen hierher gekommen waren, erklang ihre Stimme. „Ich kann über Gegenstände wirken.“ Sie lächelte abermals. „So musst du nicht mehr umkehren.“

Aber ich kann es auch nie mehr“, dachte ich mit hochbrodelnder Panik. „Und all der Aufwand, bloß damit die Menschen ein paar Nachrichten von den Sternelben erhalten?“ Sollte ich eher an ihnen oder an mir zweifeln?

Nachdem die Teekanne keinen Tropfen mehr hergab, wollte ich den Tisch abräumen.

Elin erschien. „Lass mich das erledigen.“

Aber nein, du bist doch keine Dienerin“, wehrte ich entgeistert ab.

Es verursacht keinerlei Mühe.“ Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung ihrer Hände verschwand das Teeservice.

Jetzt war ich restlos platt! „Das ist doch mal eine echt praktische Fähigkeit“, platzte ich laut heraus. „Entschuldige.“

Die Elbe bedachte mich mit einem unergründlichen Blick. Eindeutig war ein heißes, entspannendes Schaumbad überfällig. Im Hinausgehen wagte ich noch einen kurzen Blick in den riesigen Kühlschrank. Voll bis oben hin mit Leckereien. Gab es irgendetwas, das sie noch nicht über mich wussten? Meine hyperaktive Zweifelecke konnte ich erst in der Badewanne ruhigstellen.

„Weiß und blau. Mitternachtsblau, azurblau, blaugrün, blaugrau, aber keine hellblaue Kleidung. Das wäre auch wirklich das Letzte!“ Der begehbare Kleiderschrank enthielt keineswegs meine alten, übergroßen Klamotten, sondern wunderschöne neue Hosen, Pullover und Unmengen weiterer Sachen. „Wieso Kleider? Trage ich doch nie. Weiß und blau, hmmh.“ Da kein Kommentar in meinem Kopf erklang, musste ich halt später nachfragen. Mangels Pyjamas schlüpfte ich in ein langes Nachthemd aus weißer Seide und ging hinunter in die Küche.

Keine Spur von Elin, inzwischen herrschte draußen Dunkelheit. Vom Esstisch her duftete es verführerisch nach Tomatensuppe, meiner Leibspeise. Ein Salatteller und ein Schälchen mit Zitronencreme ergaben mein köstliches Abendessen. „Woher weiß die Elbe all diese Dinge über mich?“, bedrängte mich abermals eine besorgte innere Stimme auf meinem Weg ins Schlafzimmer. „Hier fehlen aber noch Vorhänge oder Rollos an den Fenstern. Ach nein, sie wollen ja bestimmt wachen.“ Und damit schlief ich ein.

Aus dem Buch „Inghean“

Ahnt der schwarze Fürst die bevorstehende Rückkehr seiner ärgsten Feindin? Seine Sklaven kriechen durch die nächtlichen Straßen. Mir scheint, es werden immer mehr.

Einige Tage später befand sich mein Innenleben wieder einigermaßen im Gleichgewicht. Das Wetter tendierte in den letzten Februartagen zu matschiggrau. Hoffentlich kam bald der Frühling. Jedenfalls wollte ich an diesem Tag unbedingt Santa Christiana besuchen, die Kirche fehlte mir seltsamerweise. Seit dem Vortag stand ein funkelnagelneuer Kleinwagen in der Garage, die Sternelben wollten es so. Allerdings verspürte ich keine Lust, damit durch die Stadt zu fahren. Ein eigenes Auto hatte ich nie zuvor besessen. Wozu sollte man so was in Berlin auch benötigen, außer um unnötig viel Zeit im Stau zu vertrödeln?

Auf dem Weg zur S-Bahn ging ich im Kopf den Fragenberg durch, der sich zwischenzeitlich dank unserer stillschweigend vollzogenen Kommunikationspause angesammelt hatte.

Die Kirchentür stand offen, drinnen sah der Priester nach dem Rechten.

„Hallo, Pater Raimund“, grüßte ich ihn.

„Hallo, Lilia! Wie geht es Ihnen?“

„Gut, zumindest wenn Sie mich nicht rausschmeißen“, erwiderte ich keck.

„Um Himmels Willen, warum sollte ich.“ Er zögerte. „Hätten Sie später vielleicht Lust auf einen Kaffee, wenn Sie in der Kirche genug gefroren haben?“

Sag zu“, riet elbischer Gesang.

„Gute Idee. Aber noch lieber auf Tee.“

Das Licht umarmte mich, während ich mit geschlossenen Augen horchte. Die Lichtwesen sangen mir ein Lied über die Elben aus längst vergangener Zeit vor und erinnerten mich auf diese Weise an meine Aufgabe. In den vergangenen Tagen hatte ich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet.

Umgehend bekam ich ein ordentlich schlechtes Gewissen. „Bitte sagt mir, was ich für euch tun kann.“

Erfreut gaben sie Auskunft. „Lilia, um das Tun und Lassen der Menschen begreifen zu können, musst du ihre Gefühle und Empfindungen verstehen, ihre Seelen hören lernen.“

Statt einer Antwort schickte ich ausgiebiges Seufzen gen Himmel. Die alte Abneigung gegen Kontakte zu meinen Mitmenschen meldete sich. Tatsächlich hielt ich mich bei dieser Aufgabe für die ungeeignetste Person in ganz Berlin.

Mit großem Ernst riefen sie mich zur Ordnung. Die Sternelben hofften, ich würde rasch jene tiefgreifenden Veränderungen meiner Persönlichkeit akzeptieren und nutzen, die sie nach ihren speziellen Wünschen vorgenommen hatten. Zu mir meinten sie nun lediglich: „Dir mangelt es an Selbstvertrauen.“

 

Dann bitte ich euch darum, sonst werdet ihr nur weiter enttäuscht.“

Sie schienen besänftigt.

Also fragte ich, wie das Lernen am besten funktionieren würde – und beantwortete die dumme Frage gleich selbst. „Unter Menschen gehen, natürlich.“

Die Sternelben summten amüsiert. „Du kannst nachher bei Pater Raimund üben.“

Okay, das dürfte für einen ersten Versuch kaum allzu schwierig werden“, stimmte ich erleichtert zu. Eine andere Geschichte brannte mir unter den Nägeln. „Ist Elin ganz allein hier?“

Traurig erklangen daraufhin ihre Stimmen. „Die wenigen verbliebenen Elben haben sich vor ewigen Zeiten auf eurer Erde verteilt. Sie wachen seither einsam und unsichtbar über das Böse, so gut sie es vermögen. Ihr Opfer ist unermesslich für euch.“

Mein Herz verkrampfte sich bei dieser ungeheuerlichen Vorstellung, bis mir Tränen über das Gesicht liefen. Doch bald schon würde ich mich mit grenzenlosem Zorn an ihre Antwort erinnern.

Eine weitere, nagende Frage bohrte sich hervor, obwohl ich ihre Antwort fürchtete. „Bin ich auch allein oder konnten andere Menschen ebenfalls das Buch lesen?“

Du bist allein. Nur weil sich das Erbe deiner Elbenahne in dir erhalten hat, erkannte dich das Buch. Wir haben lange auf dich gewartet.“

Elektrisiert richtete ich mich auf. „Ihr wusstet, dass dies alles passieren würde?“

Die Macht des Lichtes reicht weit.“

Aber es schützte mich nicht vor Einsamkeit. Allein unter Millionen Menschen! Todtraurig dachte ich an meine alten Freunde Peps, Emi, Phil und Suse. „Wie es ihnen wohl geht?“ Selbst wenn meine Freunde noch bei mir wären, sprang mich die Wahrheit an, könnte ich all die Ereignisse seit dem entscheidenden Besuch in Joschs Antiquariat niemals mit ihnen teilen. Sie würden mich in bester Absicht umstandslos in die Klapse einliefern. Unglücklich fügte ich mich den Tatsachen.

Lilia, der Priester wartet.“ Die Sternelben spendeten keinen Trost.

Seid ihr enttäuscht, hattet ihr mehr von mir erwartet?“

Wir hofften, du würdest dich Elin zuwenden.“

Ich …“ Elin war kein Mensch, ihr Wesen wirkte sehr fremd und einschüchternd. „… will mich bemühen“, rang ich mich durch.

Zufrieden zog sich das Licht zurück.

Ja, zugegeben, ich glaubte ihnen damals jeden Unsinn, den sie mir auftischten. Obendrein forderte ein Teil meines Unterbewusstseins hartnäckig bedingungsloses Vertrauen gegenüber den Sternelben ein. Dabei reagierte ich normalerweise auf jede Art von einseitigen Nettigkeiten allergisch. Dumm nur, dass mein tief verankertes Misstrauen den entscheidenden Zeitpunkt für ultimativen Einspruch vergeigt hatte.

Der melodische Gong an der Tür des Pfarrhauses gefiel mir.

Pater Raimund öffnete. „Schön, dass Sie gekommen sind, der Tee ist gerade frisch aufgegossen.“

Wir gingen in ein gemütlich eingerichtetes Zimmer, halb Wohnzimmer und halb Büro, in dessen Mittelpunkt ein großer, runder Esstisch stand.

„Solange, wie Sie es in der Kirche aushalten, müssten Sie sich jedes Mal eine dicke Erkältung holen“, meinte er halb scherzhaft.

Komisch, mir ist nicht einmal kühl geworden.“ Das behielt ich aber schön für mich. Die Unruhe des Priesters war überdeutlich spürbar und so nickte ich ihm auffordernd zu.

„Heute Morgen erhielt ich einen Anruf unserer Buchhalterin. Sie unterrichtete mich über eine anonym eingegangene Spende für unsere neue Heizungsanlage. Sie wissen nicht rein zufällig etwas darüber?“

Ich lächelte spitzbübisch. „Das sind ja wunderbare Neuigkeiten.“

Die ausweichende Antwort interpretierte er kurzerhand als Eingeständnis. „Mir ist eine riesengroße Last von den Schultern genommen – durch einen Engel, wie mir scheint.“

Ah, jetzt kamen wir zum spannenderen Teil unseres Gesprächs. Ich genoss einen großen Schluck Tee und wartete entspannt, wie Pater Raimund die Kurve zum Licht nehmen würde.

Just in dem Moment platzte seine Haushälterin herein. „Aber Herr Pfarrer“, tadelte die mollige Endfünfzigerin, „wo ich frischen Kuchen gebacken habe. Und Sie bieten der jungen Dame nichts an.“ Wobei sie mir ein verschmitztes Lächeln zuwarf. Sie hob ihr schweres Tablett, beladen mit Kirschkuchen und Sahne, auf den Tisch. „Nun langen Sie mal kräftig zu.“

Eine Minute später waren wir wieder allein.

Während ich heißhungrig das erste Stück mit extra viel Sahne verschlang, spielte der Priester mit seiner Kuchengabel. Er rang mit sich und dem passenden Satzanfang. Noch nie hatte ich die Gefühle eines anderen Menschen so klar und überdeutlich wahrgenommen, als wären es meine eigenen.

„Mir ist nie zuvor die Wintersonne im Altarraum aufgefallen“, eröffnete er die Partie.

Geschickter Schachzug.

Die Sternelben kommentierten: „Er ist um die Kirche herumgegangen, um die Quelle des Lichts zu finden.“

„Mir auch nicht“, gab ich scheinheilig zurück.

Der Pater setzte nach: „Und ich glaube, ehrlich gesagt, nicht an real existierende Engel.“ „Aber Sie sehen wie einer aus“, prangte in fetten Buchstaben auf seiner Stirn.

Womit soll ich ihm antworten?“, fragte ich die unsichtbaren Dritten im Raum.

Versuche dich zunächst allein an der Antwort, Lilia.“

„Das scheint mir ein echtes Problem unserer Moderne zu sein. Wir sind vollkommen auf Technik fixiert und unsere Seelen verkümmern darüber.“

Höchst irritiert blickte mir Pater Raimund direkt in die Augen. Das, was er hätte aussprechen wollen, blieb ungesagt, sein Mund klappte regelrecht zu. Erschüttert schlug er die Augen nieder und stand auf.

Leise sprach ich ihn an: „Bitte, Pater, das Lernen ist doch Teil unseres Lebens. Oder?“

Hart stieß er hervor: „Glauben Sie an Gott, Lilia?“

„Nicht an Ihren Gott, nein, aber irgendwie an das Göttliche.“

Der Priester ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. „Genau vor dieser Antwort habe ich mich gefürchtet.“

Mitleidig schaute ich zu ihm hinüber. „Pater Raimund, Sie sind doch keineswegs auf den Kopf gefallen. Schauen Sie, fünf große Weltreligionen binden den Glauben der meisten Menschen auf unserer Erde. Aber an was genau glauben sie eigentlich? Die jeweiligen Wurzeln betrachtet, betet jeder Gläubige das universelle Wissen über die Existenz von Gut und Böse an. Nur eben unterschiedlich verpackt.“

Verstehen erfasste seinen Geist, deshalb fuhr ich fort: „Ich halte mich an die Wurzel, viel mehr unterscheidet uns beide nicht.“

Er lachte gequält auf. „Nun ja. Ich wette, Sie erhalten von Ihrer Wurzel jene Antworten, die mir von meinem Gott verwehrt werden.“

Beinahe hätte ich ihn laut gefragt, was er denn würde wissen wollen.

Die Sternsängerinnen stoppten mich im letzten Moment: „Genug, Lilia, ihr solltet das Thema bei anderer Gelegenheit weiter besprechen.“

Auf den abrupt vollführten Themenwechsel ließ sich Pater Raimund bereitwillig ein. Also plauderten wir über die historisch äußerst wertvolle, leider hoffnungslos defekte Orgel mit ihrem einzigartigen Klang.

Darf ich?“

Bedenke dabei bitte, dass du die Kirche oft für dich allein benötigst“, mahnten sie.

Da lässt sich bestimmt eine Lösung finden! Vielleicht könnten die Orgelbauer zu festgelegten Uhrzeiten in der Kirche arbeiten.“

Langsam sollte ich den Heimweg antreten, wenn ich noch in die Bank wollte. Wir verabschiedeten einander und ich versprach, bei nächster Gelegenheit wieder vorbei zu schauen.

Wer von uns beiden hatte an diesem Tag mehr Stoff zum Nachdenken bekommen?

Bevor ich mich daheim in die Badewanne sinken ließ, schaute ich in den Spiegel. „Warum hatte der Priester heute derart geschockt auf meine Augen reagiert?“ Mich näher zum Spiegel beugend, bemerkte ich die Veränderung. „Wann ist das denn passiert?“ Meine blauen Augen wirkten alt. Nicht trüb wie bei alten Menschen, vielmehr wie durchdrungen von tiefen Erinnerungen und Lehren der Weisheit. Der Kontrast zu meinem jungen Gesicht konnte kaum größer ausfallen. Kein Mensch besaß einen solchen Blick. „Elin, ja, ähnlich den Augen der Elbe.“ Die Sternelben hatten Recht, ich sollte mit ihr reden. Möglicherweise fanden wir doch einige Gemeinsamkeiten. Aber für heute war mein Limit erreicht. „Schluss, aus, Schaumbad.“

Ein opulentes Frühstück erwartete mich am nächsten Morgen bereits auf dem Küchentisch: Croissant, Zimtquark mit frischem Obst, Crêpe, Orangensaft und eine Kanne starker schwarzer Tee. Nach dem Bad am gestrigen Abend war ich so erschöpft gewesen, dass das Abendessen schlicht in Vergessenheit geriet. Heißhungrig verspeiste ich nun die Mahlzeit bis zum letzten Krümel.

Bei einer weiteren Tasse Tee überlegte ich, wo Elin wohl steckte.

Prompt erschien ihr Kopf in der Tür zum Wintergarten. „Ich habe mich um deine Pflanzen gekümmert.“

Aber die können seit meinem gestrigen Gießen doch unmöglich schon ausgetrocknet sein.“

Ihr ganzes elbisches Tun schüchterte mich ein. Um die Wahrheit zu sagen, begriff ich von all dem eine große Null. Vielleicht der springende Punkt zwischen uns. „Allerhöchste Zeit für Elbenunterricht“, mahnte mein Gewissen. „Bitte, Elin, erzähle mir von dir und den Elben.“

Na also, der Anfang war geschafft.

Weißt du, warum deine Kleidung in weiß und blau gehalten ist?“

Wie freundlich von ihr, sie erinnerte mich an eine weitere ungeklärte Frage. „Da müsste ich raten“, gab ich zu. „Vielleicht weiß für die Reinheit und blau, hmmh, blau für den Himmel. Nein, weiß für das Licht.“

Beides, Reinheit und Licht, und richtig, Blau steht für das Firmament“, bestätigte sie.

Aber was spricht gegen die anderen Farben?“, begehrte ich zu wissen.

Überleg selbst“, forderte Elin mich auf.

Okay, schwarz ist finster und deshalb gestrichen, rot gilt als aggressiv, braun finde ich schrecklich. Was ist mit grün?“

Ganz einfach, es passt nicht zu deinen Augen“, schmunzelte die Elbe.

Langsam entspannte ich mich, zudem bereitete mir unser Kopfgespräch kaum mehr Mühe.

Aber im Ernst“, fügte sie an, „sollen die gewählten Farben dein Schicksal symbolisieren. Du stammst von uns ab, dein Weg wird für sämtliche Elben von größter Bedeutung sein.“

Instinktiv wusste ich, zu diesem Punkt würde sie keine Fragen zulassen. „Der Fragenberg wächst grundsätzlich schneller als das Häuflein magerer Antworten“, stellte ich zum x-ten Mal frustriert fest.

Geduld, Lilia. Immer nur so viel, wie es deinen Fortschritten entspricht.“

Bin ich dermaßen langsam?“ Schnelligkeit gehörte eben nie zu meinen herausragenden Eigenschaften.

Keineswegs, wenn du deine eigenen Stolpersteine aus dem Weg räumst, lernst du hervorragend.“

Nebenbei „organisierte“ Elin frischen Tee. Ein guter Übergang für die nächste offene Frage, bei der ich mir allerdings reichlich albern vorkam. „Tust du etwas Ähnliches wie Magie, so wie Zauberei im Märchen?“

Daran ist gar nichts Geheimnisvolles, du siehst lediglich die gebündelte Macht des Lichts.“

Ihre Antwort klang so lapidar, als hätte ich nach ihrem neuen Strickmuster gefragt.

Heißt das, ich kann auch … wie nennst du es?“

Dafür existiert keine Entsprechung in eurer Sprache. Doch die Menschen nannten unsere Fähigkeiten vor ewigen Zeiten tatsächlich Magie oder Zauber.“

Das fand ich irgendwie enttäuschend.

Möchtest du es lernen?“

Die Frage kam absolut unerwartet.

„Ja, bitte!“ Vor Begeisterung wusste ich kaum wohin mit mir.

Zum ersten Mal lachte Elin.

Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Höchst konzentriert versuchte ich, mittels Geisteskraft einfache Dinge zu bewegen. Nachdem mein Frühstücksteller in Trümmern auf den Fliesen lag, was ich als tollen Erfolg bejubelte, stieg ich auf den Scheuerschwamm, die Spülbürste und andere unkaputtbare Utensilien um. Elin amüsierte sich königlich, was ich beinahe noch schöner fand als die mäßig erfolgreichen Flugversuche.

 

Himmel, wie anstrengend!“ Der Schweiß rann mir aus sämtlichen Poren. Erst als mein Magen so laut knurrte, dass stures Ignorieren zwecklos wurde, beendeten wir unser Treiben.

Bedenke bitte, du darfst Magie niemals in der Gegenwart von Menschen nutzen.“

Dazu müsste ich sie erst einmal beherrschen“, lachte ich. „Aber du hast vollkommen Recht, das wäre ein echter Schocker.“ Dabei flitzte eine Szene mit fliegenden Gegenständen durch meinen Kopf und ich gluckste. Verlockend war die Vorstellung wirklich, im Supermarkt per Handschlenker binnen Minutenfrist die lästigen Einkäufe zu erledigen.

Elin schlenkerte einen Teller mit dick belegten Sandwiches und ein großes Glas kalte Milch auf den Küchentisch.

„Nanu?“

Probieren bitte, und schön aufessen. Du isst viel zu wenig.“

Erst zögerlich ein Eckchen von der ungewohnten Kost knabbernd, biss ich schnell herzhaft hinein. „Sind die Sandwiches lecker!“

Zufrieden verschwand sie.

Verflixt, ich wollte sie doch nach meinen Pflanzen fragen.“

Ganz schwach vernahm ich aus der Ferne ihre Antwort: „Ich habe mich nur ein wenig mit ihnen unterhalten.“

Beinahe hätte ich mich verschluckt.

Gerade als mein Entschluss feststand, den Nachmittag zum Zwecke der Gefühlskunde in der City zu verbringen, läutete es an der Haustür. Ohne Nachdenken riss ich die Tür auf, nur um in das fiese Gesicht meines Nachbarn aus dem Haupthaus zu blicken. „Wozu“, schalt ich mich, „hast du eine Überwachungskamera?“

„Hallo, Frau Nachbarin, wie ich sehe, ist Ihr Umzug bereits überstanden.“

Ich bat ihn nicht herein. „Ja, Schnee von gestern“, entgegnete ich kurz angebunden.

„Dann darf ich Sie hoffentlich am nächsten Samstag auf meiner Party begrüßen? Es werden selbstverständlich eine Menge interessanter Leute da sein.“

Keine Ahnung, was mich ritt, oder ob ich ihn einfach schnellst möglich loswerden wollte, jedenfalls kündigte ich mein Erscheinen an.

„Das Buffet wird um Punkt 21 Uhr eröffnet.“ Damit trollte er sich.

„Wieso nehmen immer alle das Essen so wichtig? Wenn ich Hunger bekomme, esse ich oder auch nicht, basta. Punkt 21 Uhr. Seit wann hat mein Magen eine Zeitschaltuhr?“, schimpfte ich vor mich hin.

Aus dem Buch „Inghean“

Der schwarze Fürst muss seine versammelten Sklavenhorden offensichtlich bei Laune halten. Die Jagd auf mich ist eröffnet.