Fürstin des Lichts

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Hinter mir ertönte: „Zu Fuß? Echt?“

Ganz früher einmal hätte ich als Antwort sarkastisch Lauflernschuhe zur Ausleihe angeboten. Stattdessen deutete ich auf das hell erleuchtete Vorderhaus und erklärte: „Dort wohnen sie.“

Wenige Schritte vor ihrer Haustür zündete ich einen perfekten Rohrkrepierer. „Meine Freunde heißen übrigens Jay und Schorsch.“

Bei jedem Schwulen würde es auf der Stelle klicken. Von Axel hingegen kam keine Reaktion.

Das wird entweder ein extrem langer Abend oder ein totales Fiasko. Habe ich Recht?“

Die Sternelben pflichteten mir bei.

Doch meine Freunde verhielten sich absolut brillant. Ihr ganz normales, lockeres Paarleben lief vor Axels wachsamen Augen ab. Diese Selbstverständlichkeit löste irgendwann während der nächsten drei Stunden sachte jenen Schalter, der im Innenleben meines Kollegen klemmte. Als sein Gesicht vor Glück glühte, atmete ich auf.

Schorsch behielt bis zum Schluss fest die Zügel in seiner Hand. „Morgen Abend gehen wir mit ein paar Freunden ins Kino. Wie wär’s, kommst du mit, Axel?“

„Ja, super Idee und echt ein dickes Danke für den tollen Abend bei euch.“

Das bestellte Taxi verschluckte den Bierseeligen und ich stöhnte: „Gebt mir mehr Wein.“

Jay und Schorsch bogen sich vor Lachen.

Dann aber wurde Schorsch unerwartet ernst. „Ich weiß aus eigener Erfahrung genau, was Axel durchmacht. Und da er ein netter Kerl zu sein scheint, sollten wir ihn vorerst unter unsere Fittiche nehmen. Oder, Jay?“

Meine Freunde klatschten ab, und ich fiel ihnen dankbar um den Hals. Manche Menschen besaßen eben ihre ganz eigene, wunderbare Magie.

Die verlockende Aussicht, noch vor Mitternacht freie Zeit für mich zu haben, erwies sich beim Verlassen ihres Hauses als Trugschluss. Vor dem Tor wieselte Konny herum.

Wie sehr Katja und er sich manchmal ähneln!“ Alarmiert fragte ich nur: „Wo brennt es?“

Verlegen entgegnete er: „Ich könnte deine Spürnase gebrauchen, inoffiziell.“

Noch während wir den Kiesweg entlang gingen, sprudelte sein Anliegen ohne Punkt und Komma heraus. Konny berichtete von einem Informanten, der behauptete, an brisantes Material über einen globalen Konzern gelangt zu sein.

„Du willst wissen, ob an der Sache was dran ist“, riet ich und öffnete dabei „menschlich“ die Haustür.

„Na ja, das wäre ein ziemlicher Brocken, vorsichtig formuliert.“

„Schon kapiert. Hast du Hunger?“

„Ehrlich gesagt, mein Magen klebt unter der Schuhsohle. Ich habe mal was von deinen genialen Sandwiches läuten hören“, meinte er hoffnungsvoll.

So lotste ich den zweiten Gast dieses überlangen Abends in meine Küche. „Setz dich doch.“

Um ihn keine Magie sehen zu lassen, holte ich die gezauberten Sandwiches mitsamt der Milchflasche aus dem Kühlschrank.

„Milch?!“, sagte Konny exakt so, als würde ich ihn für einen Dreijährigen halten.

Immer das gleiche Theater“, dachte ich meine Augen verdrehend. „Absolut Milch. Du stärkst dich und ich benötige ein paar Minuten zum Denken.“ Damit zog ich mich in den Wintergarten zurück.

Dort begann ich auf und ab zu schlendern, derweil die Sternschalte anlief.

Seid ihr für Wirtschaftskriminalität überhaupt zuständig?“

Sehr komisch, Lilia. Das ist keine klassische Wirtschaftskriminalität. An den Händen des Konzernvorstands klebt literweise Blut. Konrad könnte in ernste Gefahr geraten, wenn seine Ermittlungen durchsickern.“

Soll ich Konny abraten?“

Nein, du musst jedoch auf sein Team achtgeben.“

Habt Ihr Informationen für mich?“

Selbstverständlich“, brummten sie, „aber öffne zuerst deinen Zauberkasten, sonst stehst du heute früh noch hier.“

Mit einer frisch geöffneten Worddatei setzte ich mich Konny gegenüber. Bevor er fragen konnte, versetzte ich: „Sei bitte still, bis ich wieder rede.“

Entspannt griff der Kommissar nach dem letzten Sandwich. Sein Milchglas war übrigens fast geleert.

So ungefähr musste sich ein Durchlauferhitzer im Betrieb fühlen. Es dauerte und dauerte und dauerte. Gedankenversunken orderte ich magisch Tee. Konny zuckte zusammen.

„Tschuldigung.“

Tapfer blinzelte der Kommissar seine starke Irritation weg.

Unumwunden bekam er nun das Ausmaß seines Vorhabens geschildert. Danach zog ich ein Fazit: „Im Klartext erwarten dich Killer, Korruption und Lebensgefahr für jeden von euch, der es wagt, in dem Sumpf herumzuschnüffeln. Auf der Habenseite stehen für den Anfang 153 Dateien.“

„Für den Anfang?“, rief Konny geschockt aus.

„Für den Überblick, wie fett der Fall ist. Um es deutlich zu betonen, bislang warten die Seelen von sechs Leichen auf Gerechtigkeit. Wenn überhaupt, lässt sich die Hälfte davon als Mord nachweisen.“

Erschüttert kam nur: „Hast du was Hartes im Haus?“

Hinter seinem Rücken zauberte ich Grappa herbei.

Nach einer Runde des Schweigens mit zwei hinunter gekippten Gläsern fragte ich: „Besser?“

„Geht schon.“

„Konny, schlaf erst mal drüber. Aber hör vorab noch meinen dringenden Rat: Bevor du diese Daten bei euch aufspielst, wende dich unbedingt an Axel. Lass ihn zunächst ein absolut wasserdichtes internes Kommunikationssystem für dein Team einrichten.“

„Mein alter Axel?“, überlegte er ungläubig.

„Eben jener“, bekräftigte ich, „eine IT-Perle am falschen Platz.“

Total groggy schaute ich auf die Küchenuhr, kaum dass die Haustür hinter Konny ins Schloss fiel. Beinahe 2 Uhr morgens. Gerade als ich gähnend wie ein Scheunentor die Treppe bettwärts erklimmen wollte, läuteten die Sternelben zur Late Night Show.

Am ersten zu verhindernden Tatort in der City West fand ich sogar eine freie Parkbucht. Noch bevor der Wagen drin stand, drang würgeverdächtiger Gestank durch die Lüftungsschlitze ins Innere. Schockartig fiel mir ein, wer hinter dem Kloakengestank steckte – und haute auf die automatische Türverriegelung.

Bereits vor Längerem bekundeten die Sternelben, dass mein Auto kein luxuriöser Schnickschnack war, sondern bei Dunkelheit als ein galvanischer Käfig gegen die schwarzen Monster dienen sollte. Das würde aber nur bei geschlossenen Türen und laufendem Motor funktionieren, hatten sie mir eingetrichtert. „Magische Physik? Keinen blassen Schimmer.“

Geschlagene elf Minuten saß ich stocksteif, aber mit umherflitzenden Augen, auf dem Fahrersitz und suchte verzweifelt nach hinreichendem Mut, auszusteigen. Übermäßige Kopfverstopfung gepaart mit bleierner Müdigkeit lähmte jede Zufuhr positiver Restenergie. Erst als Elin sich mir zeigte, öffnete ich beschämt und mit puterrotem Kopf die Wagentür.

Dicke Schneeflocken kündigten die Rückkehr des eisigen Winters an.

Kapitel 9

Die sogenannten Tagstunden servierten ein ebenso deftiges Programm. Im frostigen Morgengrauen startete ich mit Überlegungen, wie all jene am Weihnachtsfest zu beglücken wären, die mir im Laufe des Jahres in ihrer Not begegneten. Etwa die frustriert-verhuschte Designerin, die es einfach nicht fertig brachte, ihren alten Studentenjob aufzugeben. Statt Werbung für ihre todschicken Entwürfe zu machen, fristete sie als Garderobenfrau im Volkstheater ihr ärmliches Dasein. Kurz bevor der letzte Lebensfunke erlöschen wollte, zündete ich flammenden Mut in ihr. Oder der arbeitslose Verkäufer von Obdachlosen-Zeitungen, den ich in der S-Bahn traf. Ein talentierter Kopf voller Ideen, der sich mit Suff und Drogen selbst den Boden unter seinen Füßen weggedröhnt hatte. Mit festem Wohnsitz und geringem Startkapital beförderte ich ihn auf eine neue Zielgerade. Jeder noch so winzige Anschub bedeutete ein gerettetes Leben. Und jedes erneut geschenkte Leben versprach wiederum, dass ein weiterer Mensch mit wachen Augen und helfenden Händen durch die Stadt ging. Die Chancen, marodierenden Dämonen ihre Hölle unter den Füßen zu vereisen, mussten eben bloß genutzt werden. „Aber wieso kapiere ich die Zusammenhänge erst jetzt?“

Die Sternelben kappten meine ausschweifenden Gedanken, indem sie noch vor dem Frühstück weitere Arbeit anmeldeten. „Raimund quält sich, besuche ihn bitte am Nachmittag.“

Was treibt ihn nun wieder um?“

Er sah abermals Licht in der Kirche und hat eine Erklärung verdient.“

Finden die Fragen meiner Mitmenschen denn nie ein Ende?“, maulte ich.

Frag dich selbst!“

Haha, überaus witzig.“

Im Kommissariat saß Katja ebenfalls auf vor Neugierde glühenden Kohlen.

„Du siehst ziemlich alt aus“, bemerkte sie in ihrer direkt-schmeichelhaften Art, als ich auf ihren Schreibtisch zusteuerte.

„Danke, die Gnade herrlichen Schlafes wurde mir leider verwehrt.“

Sofort besorgt, übte sie mütterliche Kritik: „Du treibst es mit deiner Maloche echt ziemlich auf die Spitze.“

„Klar, der super Aussicht wegen“, hielt ich flapsig dagegen.

„Du, sag mal, was ist denn jetzt mit Konny und der Weihnachtsfeier?“

„Och, der ist inzwischen mein größter Fan.“

„Lilia!“

„Katja!“

„Nun sag schon“, quengelte sie wie auf Schokoentzug.

„Hab ich doch!“

Sie machte auf Rumpelstilzchen, biss bei mir jedoch auf Granit. Schmollend blieb sie hinter ihrem Schreibtisch zurück.

Am Ende unserer morgendlichen Teamrunde schwärmten die Kollegen in Zweiergrüppchen zu ihren Einsätzen oder zumindest entsprechenden Vorbereitungen aus.

 

Der Gebrauch von Headsets war mir schlicht ein Gräuel. Aber Vierteilung war nun mal keine machbare Option, um überall gleichzeitig mitzumischen. Folglich mussten die Trupps bei überlanger Arbeitsliste, so wie heute, aus dem Konferenzraum heraus von mir dirigiert werden.

Die Kommissare hingen bereits halb in ihren Urlaubsseilen. Freie Bahn für geistige Aussetzer.

„Lilia, wir haben den Kerl festgesetzt.“

„Und seine Komplizin?“

„Häh?“

„Ich hatte John doch gebrieft, dass sie zu zweit arbeiten.“

Jan brüllte in mein Ohr: „John, du Vollidiot!“

Axel und Katja bewältigten ihren Zugriff erst im dritten Anlauf. Der getürkte Dealer wollte auf sehr spezielle Art selbst mal den Racheengel spielen. Also verschenkte er reines, todbringendes Heroin an seine besonders zahlungssäumigen Kunden. Da der Mauerpark sein angestammtes Revier war, kannte er jedes Versteck, jede Fluchtachse. Und außerdem roch er Bullenpack bereits 100 Meter gegen den Wind.

Mit Wucht hätte ich sie allesamt in den Allerwertesten treten mögen.

Letztlich ging auch dieser Tag vorüber.

Total genervt begab ich mich auf den Weg zur geistigen Baustelle im Pfarrhaus.

Die mit jedem städtischen Staukilometer anwachsende Vorfreude auf frisch gebackenen Trostkuchen wurde herb enttäuscht. Raimunds wunderbare Backgöttin weilte im Urlaub und so öffnete er selbst die Haustür.

„Na, Weihnachtspredigten fertig?“, begrüßte ich meinen Freund, der ungesund fahl im Gesicht wirkte. Ein leises Schnuppern an seiner Gefühlslage katapultierte mich auf Trockeneis.

Tonlos antwortete der Priester: „Nicht mal angefangen.“

Mit gebeugten Schultern klebte Raimund in den Abgründen einer Sinnkrise fest. Ich hakte mich bei ihm unter und bugsierte meinen Seelenpatienten ins Wohnzimmer an den runden Tisch.

„Na komm, erzähl, gib dir einen Ruck.“ Nebenbei ersetzte ich heimlich den abgestandenen Tee in der Kanne, das ausgebrannte Teelicht im Stövchen und beugte mich zuletzt noch unter den Tisch. Eine Tüte gezauberter Schokoladenplätzchen kam aus dem Shopper zum Vorschein. „Hier, greif zu, hilft prima gegen Gedankentriefen.“

„Ach Lilia, wo soll ich überhaupt beginnen?“

„Bei dem unbekannten Verursacher des Lichts?“

Seine Miene hellte sich geringfügig auf. „Weißt du denn die Antwort?“

„Sicher kenne ich die Antwort. Wir beide sprachen neulich sogar darüber.“

Erstaunt schaute er auf. „So, tatsächlich?“

„Elben, lieber Raimund.“

Mit vollem Mund brachte er nur ein gekeuchtes „Wos?“ hervor.

„Einige wenige befinden sich auf der Erde.“

„Großer Gott“, entschlüpfte es ihm, begleitet vom nächsten Gefühlsschwall.

Aus Selbstschutz zog ich eine innere Wand dagegen hoch. „Nein, falsch“, korrigierte ich Raimund. „Das Licht ist göttlich, gut und weiblich, die Finsternis ist göttlich, böse und männlich. Ergibt in der Summe also Götter, wie du dich vielleicht erinnerst.“ Am Ende meiner Geduld angelangt, gab ich schnodderig hinzu: „Brate dir daraus, was du willst für deine Predigten.“

Lilia!“, pfiff es misstönend aus der Sphäre.

Ruhe da oben!“

„Was tun sie hier?“, fragte Raimund jetzt ratlos.

Okay, weiter im Takt“, seufzte ich still und ergeben. „Dasselbe wie ich, sie nehmen in der Kirche ihre lebensnotwendige Lichtenergie auf.“

Ungeduldig fuchtelte er mit den Armen. „Ja sicher, aber was tun sie?“

„Sie kämpfen gegen Dämonen.“

Zusammenhanglos stieß Raimund unvermittelt bitter aus: „Du darfst sie sehen!“

Aha, das ist also sein Casus Knacktus. Und ich kann seine Sehnsucht niemals lindern. Fremde Menschen mit einem neuen Leben beschenken, aber dann den eigenen Freund hängen lassen.“ Verstohlen wischte ich mir Verzweiflungstränen aus den brennenden Augen. „Liebster Freund, bitte glaube mir, spätestens bei den Dämonen ist ‚dürfen‘ die falsche Umschreibung. Sei froh, dass sie vor euch verborgen bleiben. Im Angesicht ihres teuflischen Treibens fühlst du dich als Mensch echt miserabel. Jedenfalls, sofern sie dich dafür lange genug am Leben lassen.“

Weder in meinen eigenen Ohren noch in Raimunds aufgeputschtem Geist klang das Argument überzeugend. Eben dies stand auf seiner gefurchten Stirn. Fieber bekämpfte man nicht mit Ratio, sondern mit Eis.

Hat euer Lichtgeschwader da oben rein zufällig eine Eisbombe für mich?“

Seinen vermeintlichen Gott bekam er niemals zu Gesicht!“

Das ist knallhart gefühllos!“, warf ich ihnen entrüstet vor.

Dann mach es besser, Lilia“, erwiderten die Sternelben pikiert.

Pah, geht euch etwa tatsächlich auch mal die Puste aus?“

Mäßige dich!“

Ich hatte kein bisschen ein schlechtes Gewissen.

Raimund wartete noch immer auf mehr.

Eine vernünftige Eingebung, bitte!“

Was ich etliche Sekunden später absonderte, war weit entfernt von hitverdächtig: „Fast dein gesamtes Leben glaubst du an einen Gott, ohne ihn jemals gehört, geschweige denn gesehen zu haben, Raimund. Und ausgerechnet jetzt, wo du von mir exklusiv mehr Erkenntnisse über das Göttliche bekommst als jeder andere Priester, was sage ich, jeder andere Mensch auf diesem Planeten, läuft deine demütige Wissensaskese regelrecht Amok.“

Damit traf ich voll ins Schwarze. Mein Priester machte mit reuiger Miene und erhobenen Händen das Peace-Symbol.

„So, nun schreibst du brav eine Predigt über das Seelenleuchten in der Finsternis. Das passt zum Fest, zur Jahreszeit, zum Stadtmoloch und überhaupt. Noch Fragen?“

„Aber …“

„Was noch?“, stöhnte ich auf.

„Warum existieren dann überhaupt unsere Religionen?“

„Diese Frage musst du bitte an die versammelte Menschheit richten“, kam meine prompte Antwort aus dem Bauch heraus.

„Ich gebe mich geschlagen, Einstein.“

Für meinen Hinterkopf war Raimunds spannende Frage dagegen alles andere als abgehakt.

Ausgebrannt sprang ich ohne Kirchenbesuch ins Auto. „Genug! Keine Ergüsse menschlicher oder göttlicher Gehirnwindungen mehr in meine bemitleidenswerten Ohren.“

Sie gaben sich und mir für die Abkühlungsphase noch weitere neun Minuten.

Lilia.“

Nein!“

Wir bitten dich“, säuselten sie.

Also wirklich! Jetzt kommt ihr mir auf die Tour?“

Ein Kinderheim?“

Ergeben steuerte ich den Wagen in die nächste Haltebucht für Linienbusse. „Also schön. Wie, wo, was, warum und so weiter, schießt los.“

Keine zwei Minuten danach empörte ich mich: „So eine Sauerei! Wenn ich die alte Hexe zu fassen kriege, klaut das Geld für die Weihnachtsgeschenke der Heimkinder. Erst Hexe einbuchten oder erst Geschenke organisieren?

Lass Konrad die Übeltäterin schnappen, du hast Einiges gut bei ihm.“

Auch wieder wahr.“ Sofort griff ich zum Handy. „Hallo, Konny. Könntest du für mich eine Hexe fassen?“

„Bist du betrunken?“

„Sie ist Leiterin des Kinderheims Bärwald.“ Atemlos spulte ich die Fakten herunter, bis er einlenkte.

„Wir rücken ihr auf den Buckel.“

Offensichtlich besaß er doch ein klitzekleines bisschen Humor.

Einen Kleintransporter, vollgepackt mit Geschenken, mal eben in die Nähe des Lankwitzer Kinderheims zu zaubern, kostete mich eine geballte Ladung an Energie. Augenblicklich bereute ich den starrsinnigen Aufbruch von Santa Christiana. Doch meine Sorge, der interne Akku könnte warnblinken, erwies sich als grundlos.

Beim Entladen der vielen bunt verpackten Pakete mangelte es keineswegs an hilfreichen Händen. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Kunde über das Wundermobil unter den kleinen Bewohnern ausgebreitet. Logisch, dass sie am liebsten auf der Stelle ihre Bescherung wollten. Darauf war ich vorbereitet. Zum Schluss kam ein mächtig großer Karton, beklebt mit funkelnden Sternen, zum Vorschein. Daraus verteilte ich lauter kleine Überraschungen, die die ungeduldigen Kinderseelen bis Heiligabend besänftigen würden.

„Bist du ein Weihnachtsengel?“, erkundigte sich ein braungelockter Dreikäsehoch mit gewichtiger Miene, als er sein Päckchen bekam.

„Und falls ja?“

„Dann wünsche ich mir von dir statt Geschenke ganz liebe neue Eltern.“

Am liebsten hätte ich den Bengel einfach unter den Arm geklemmt und mitgenommen. Doch genauer hinschauend, stand in den viel zu ernsten Augen all der anderen Kinder derselbe Wunsch geschrieben – in Großbuchstaben. Das tat schrecklich weh.

Die neue Heimleitung wird sich gut um sie kümmern, Lilia.“

Lächelnd blickte ich reihum in ihre zarten Gesichter. „Alles wird gut.“ Zu mehr als dieser blöden Floskel sah ich mich außerstande. Dann winkte ich zum Abschied.

Mit verdächtig feuchten Augen wieder hinter meinem Lenkrad hockend, vergaß ich den Motor zu starten. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Kleinen glücklich werden. All diese bösartigen Menschen, wo kommen die bloß her? Das Christentum appelliert doch pausenlos an das Gute im Menschen, von Kindesbeinen an.“

Du kennst die Antwort darauf, Lilia.“

Innerlich ausgequetscht wie eine Zitrone, verschob ich unter heftigen Gähnattacken das Thema. Vor allem mochte ich keinesfalls daran denken, wieviele Kinderheime noch in dieser Stadt existierten. Egal in welches Fass die Lichtwesen meinen Kopf steckten, grundsätzlich fehlte der Boden. Energisch wischte ich mir über die Augen, bevor ich endgültig den Motor anwarf.

Sechs Stunden geschlafen, welch ein Luxus. Beinahe wäre Katjas neues Schlachtmenü für den letzten Arbeitstag vor der Weihnachtspause verspätet in ihrem Postfach gelandet.

Was ist das für eine merkwürdige Geschichte mit Amelie?“, begehrte ich von den Sternelben während des Frühstücks zu erfahren.

Die Kommissarin hat an einem Beichtstuhl gelauscht.“

Unsere tugendhafte Amelie?“

Leider fehlen ihr die Beweise, um einer mordsmäßigen Heiratsschwindlerin das Handwerk legen zu können.“

Aber ihr habt Beweise?“

Eine heikle Aufgabe für die Spurensicherung. Nur ein falsch gesetzter Fuß, und aus.“

Ach so, das ist deren Spielwiese.“

Irrtum, Lilia. Denn Katja erhält von dir den Wohnungsgrundriss mit eingezeichneten Nummern. Eine Liste schlüsselt die dazugehörigen Beweisstücke auf.“

Ich lachte rau. „Ihr klingt inzwischen wie die Rentner-Gang der Kripo.“

Meist traf ich eine halbe Stunde vor meinen Kollegen im Kommissariat ein. Dann saßen Katja und ich in ihrem Chefbüro zusammen. Wir tranken Tee beziehungsweise tintenschwarzen Kaffee und besprachen dabei ihre Detailfragen zum Tagesmenü.

Heute dagegen blieb ich mit dem Wagen im „Blitzeisberufsverkehrschaos“ stecken, wie es der Radiomoderator nannte.

Gemeinsam mit Jan und Axel traf ich erst zehn Minuten nach dem regulären Beginn unseres Meetings ein. Doch es hatte noch gar nicht begonnen, als wir schnell unsere Plätze einnahmen.

„John hängt mitten in der Vollsperrung der Stadtautobahn, also fangen wir an“, bestimmte Katja.

Zunächst ließ sie Amelie ihre Zufallsentdeckung mit der Heiratsschwindlerin schildern.

„Die wollte sich doch nur beim Priester wichtigmachen, vielleicht steht sie auf den.“ Thomas, Oberschwafler vom Dienst und Experte für Handfestes, verpasste mal wieder als Einziger, dass ich Amelie bestätigend zunickte. Die Verständigung per Mimik unter Kollegen endete regelmäßig mit seinem Einwurf: „Kann mir mal einer sagen, was gebacken wird?“

Doch siehe da, Axel machte ihn rund. „Mann, Thomas, halt die Luft an. Je schneller wir fertig werden, desto eher fängt der Urlaub an. Oder, Lilia?“

Innerlich schmunzelnd dachte ich an seine freudig-erregte Vorstellung von Urlaub, nämlich komplexe Programmierarbeiten bei den Wirtschaftskollegen. Laut forderte ich: „Ihr müsst bewerkstelligen, dass kein noch so winziger Beweis vernichtet wird.“

„Das bedeutet Zugriff auf die Tatverdächtige außerhalb ihrer Wohnung“, zog Katja die richtigen Schlüsse aus meinen Unterlagen. „Lil, kannst du die Frau aufspüren?“

„Klar.“

Katja erteilte Amelie zum ersten Mal das Kommando.

Bildfetzen, wie aus einem unscharfen Clip, funkten meine grauen Zellen an. „Was ist das denn?“ Mich aus der Besprechung abkoppelnd, schien es, als säße ich vor einer Kinoleinwand. „Der Jungenstrich am Bahnhof Zoo?“ Jugendliche steigen ein und aus …

 

„Lilia. Lilia?“

Verwirrung, das Bild verzerrte, löste sich auf.

„Lilia, wann soll es losgehen?“

Lilia, du musst zurück in deinen Geist, schnell! Die Heiratsschwindlerin in zwei Stunden“, kommandierten die Sternelben im Marschgesang.

Hektisch rief ich: „In zwei Stunden. Stellt sofort ein weiteres Team auf. Absolute Funkstille für mich!“

Die aufkeimenden Frustgesichter im Konferenzraum verblassten, je stärker sich mein Blick nach innen richtete.

Der Junge, kleinwüchsig und dürr, beugt sich in ein geöffnetes Wagenfenster, feilscht um den Preis. Er steigt ein. „Ist das bereits Vergangenheit?“ Sofort fährt der SUV los und verlässt die City. Der Fahrer lenkt seinen Wagen in ein Neuköllner Wohngebiet und steuert dort eine Tiefgarage an. Oben drüber befinden sich Eigentumswohnungen aus den 80ern.

Unterirdischer Filmriss für anderthalb Minuten.

Die Zwei tauchen aus dem Fahrstuhl im Dachgeschoss auf. Es enthält lediglich eine einzige Wohnung.

Mit gespielt lässiger Neugier betritt der Junge, sicher höchstens 15 Jahre alt, die fremde Wohnung. Der kräftig gebaute, etwa 50-jährige Freier holt aus seiner Küche zwei Gläser Bier. Das geübt präparierte Glas in seiner linken Hand reicht er dem Jungen. Gemeinsam setzen sie sich auf die rustikale Couch. Plötzlich hebt der Junge mit verwirrtem Blick seinen Kopf, der nur Sekunden später vornüber sackt. Sein Freier trägt ihn in das schallisolierte Hinterzimmer. Dort wirft er den Jungen auf das Bett, zerrt ihm sämtliche Kleider vom Leib und fesselt ihn an das Geländer des massiven Bettgestells.

Jan, Thomas sowie der mittlerweile eingetroffene John saßen, geduldig wartend, mir gegenüber.

Lilia, ihr müsst in 25 Minuten dort sein, sonst ist es zu spät.“

„Keine Zeit für Erklärungen. Wer kann Türen aufbrechen?“

Thomas hob den Arm.

Die Kollegen spurteten hinter mir her zu den Fahrzeugen.

In allerletzter Minute hob ich diesen schmächtigen Körper, der sich sofort in purer Verzweiflung an mich klammerte, hoch. Der Servierwagen neben dem Bett, vollgepackt mit penibel sortierten Folterinstrumenten, zeigte erst geringe Blutspuren. Schiere Verzweiflung packte mich.

Lilia, verschließe deine Augen, du marterst sie.“

„Entschuldigt bitte“, flüsterte ich und kümmerte mich um die Schnittwunden des Jungen.

Jan kämpfte mit ihren Tränen, John starrte eine Wand an. Thomas führte das Schwein ab.

Mit dem vor Schock zitternden Jungen betrat ich kurz darauf das Wohnzimmer. Krampfhaft versuchte ich zu witzeln: „Na dann, veranstalten wir mal Tütentango.“ Von der Couch aus dirigierte ich das Team durch die Wohnräume.

Was wird nun aus dem Jungen? Er soll nie wieder auf den Straßenstrich!“

Fahre den Jungen nach Bärwald.“

Ist er für das Heim nicht zu alt?“

Keine Sorge. Erzähle ihm unterwegs die Geschichte von dem gestohlenen Geld.“

Wieso?“ Wo war jetzt der Zusammenhang?

Ihre kryptische Ansage: „Darin steckt seine einzige Chance, den neuen Schicksalsweg für sich zu erkennen.“

Am frühen Abend versammelte sich nach und nach die komplette Mannschaft im Konferenzraum. Der Duft von Kerzen, Kuchen und Punsch hing schwer in der Luft.

Auf meinem Platz stapelten sich Geschenke zu einem beachtlichen Haufen. Sehnsüchtig wartete ich auf Santa Christiana, aber das Team verdiente Vorfahrt. Für ihre Aufmerksamkeit klopfte ich resolut mit dem Teelöffel gegen meinen Becher. „Einige, die nichts Besseres vorhaben, feiern das Fest bei mir. Euch übrige“, verkündete ich auf die Pakete deutend, „beschert schon vorab der Weihnachtsengel“.

„Hey, wenn ich das geahnt hätte, läge deine Einladung jetzt in der Tonne“, protestierte John zwinkernd.

„Pech für dich, her mit den Geschenken“, lärmten die Kollegen fröhlich durcheinander und schmatzten mir großzügig Küsschen auf die Wangen.

Übermorgen ist Silvester!“ Kaum zu fassen, wie schnell mir die herrlich normal menschlichen Urlaubstage durch die Finger glitten. Allmählich verstärkte mein ausgeruhter Hinterkopf seine grüblerischen Aktivitäten. Etliche gewichtige Fragen tauten auf seiner Eisschicht an. Zum Beispiel, ob es den Menschen erheblich besser ginge, wenn sämtliche Dämonen erledigt wären. Nein, daran glaubte ich keinen Fingerbreit mehr. Und bestand das einzige Ziel der Elben im Dämonenkampf? Auch das würde keineswegs sämtliche Vorgänge erklären. Welches Ziel, quasi als persönlichen Leitstern, wollte ich mir für das kommende Jahr selbst stecken? „Austauschen müsste frau sich können.“ Warum trudelte erst jetzt der Einfall herein, dass ich dafür im Urlaub nach Schottland hätte düsen können? „Gelaufen, na toll.“ Als Nächstes fiel mir Leya ein. „Die verstreuten Elben kommunizieren doch bestimmt untereinander? Ob auch Halbelben das, genauso wie den Umgang mit Magie, während ihrer Ausbildung erlernen?“ Jede Frage poppte eine neue Frage auf, Fragenpopkorn, Fragensalat, Quizfrage. „Mensch, hör auf mit dem Mist!“, keifte mein Alter Ego. „Spreng deiner ewigen Fragerei mal die Abschussrampe weg.“ „Ja, ja. Was hältst du von folgendem Vorschlag? Erst frühstücken und danach im Feenhaus eine Runde brauchbarer Antworten einsammeln.“ „Wenn’s unbedingt sein muss.“

Den Bauch erheblich zu vollgestopft für die weite Strecke, kam ich im Jogger-Outfit schliddernd bis zum Gartentor. Die Nachtfröste, kombiniert mit sonnigem Tauwetter am Tage, hatten den allerorts festgetretenen Schnee in spiegelglatte Eispanzer verwandelt. „Spikes müsste frau haben. Niemand in Sichtweite?“ Abwechselnd hielt ich die Schuhsohlen zwecks magischer Nachrüstung in die Luft. Blieb nur noch zu hoffen, dass auf den Waldwegen keine Schneeverwehungen lagen.

Bald lief ich, die klare Luft tief inhalierend, mit Wonne durch die winterstille Landschaft. Hier und da wurde sie von einem rötlich-goldenen Sonnenstrahl beleuchtet.

Och nö, sie sind fort!“ Das Feenhaus lag verlassen da. Erschöpft machte ich mich im Garten breit und grinste vergnügt über Leyas skurriles Kontrastprogramm. Im Haus hatte ich ein Übermaß höchst ausgefallener Weihnachtsdekoration bestaunt. Etwa tönerne Gnome, denen gläserne Engel mit dem Nudelholz drohten. Oder rote Filzteufel, die auf Eisschollen bibberten. Draußen wie immer flirrende Sommerzeit. „Eiskrem-Wetter mit Blues im Gehirn.“ Über diesen komischen Gedanken schlief ich ein.

Nun seht euch diese Faulenzerin an“, empörte sich Leya, als ich von dem Duft heißen Kakaos aufwachte.

Na, eine muss ja nach dem Rechten sehen, ihr Rumtreiberinnen“, konterte ich. „Wo wart ihr denn?“

Wir haben bei Tageslicht die Fresken in Santa Christiana bestaunt.“ Leichthin bemerkte die Elbe: „Unsere Fürstin ist ausnehmend gut getroffen.“

Entgeistert stand mir der Mund offen. „Sie hängt unter der Decke?“

Die Zwei amüsierten sich königlich. So gegensätzlich waren sie in ihrer Art, dass sie einander wie Magnete anzogen.

Wieso sagt mir das keiner?“, nörgelte ich und rief die Malerei in meinem Gedächtnis auf. „Welche ist es denn?“

Die Elbe mit der winzigen Krone“, half Elin.

Die Krone war mir völlig entgangen. „Oh, Joerdis ist … ihre Augen sind …“ Mir fehlten die Worte für das Sehen und Fühlen beim Anblick der überirdisch schönen und stolzen Elbenfürstin. „Aber, sah sie denn wirklich so aus?“

Beide bestätigten es. Nun konnte ich gar nicht genug von ihrem Antlitz bekommen.

Reiß dich mal los, du brauchst doch bloß in den eigenen Spiegel zu schauen“, polterte Leya ungeduldig.

Das Bild verflog.

Du bist echt doof, niemals könnte ein Mensch so wundergeheimschön aussehen.“

Elin und Leya guckten sich an und brachen in trällerndes Gelächter aus.

Doch genau mit dieser fatalen Reaktion, so dämmerte Elin wenige Augenblicke später, hatten sie die nächste Chance verspielt, mich von dem real existierenden Double zu überzeugen.

Lässt sich mit euch heute noch vernünftig reden? Ich müsste ein paar Fragen loswerden.“

Ergeben hockten sich die Elben vor mir auf den Rasen und wir begannen unseren Gedankenaustausch.

Ja, Lilia, die Dämonen sprechen unsere universelle Sprache, denn wir besitzen einen gemeinsamen Stamm“, beantwortete Elin meine erste Frage.

Und ihr verstreuten Elben, wie könnt ihr untereinander Kontakt halten?“

Überraschend traurig erklärte Leya, dies sei einzig über die Sternelben möglich.

Das war mir echt zu hoch. „Aber ihr besitzt doch die Fähigkeit, da zu erscheinen, wo immer ihr wollt.“

Die Grenzen der Kontinente begrenzen auch unsere Fähigkeit des Seelensprungs von Ort zu Ort. Wir müssten wie die Menschen reisen. Doch ist es uns untersagt, unseren Wirkungsort zu verlassen.“