Qumran

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Daniel Stökl Ben Ezra

Qumran

Die Texte vom Toten Meer und das antike Judentum

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG


Inhaltsverzeichnis

  Widmung

  Vorwort

  Transkriptionsregeln

 Teil 1: Historische und philologische Einleitung1 Die Bedeutung der Qumranrollen und ihre Entdeckungs- und Forschungsgeschichte1.1 Die Bedeutung der Funde von Qumran1.2 Die Entdeckung 1946/19471.3 Schriftrollenfunde am Toten Meer vor 19471.4 Weitere Entdeckungen der ersten Jahre (1949–1952)1.5 Die „Scrollery“ (1952–1960)1.6 Der akademische Skandal par excellence (1960–1990)1.7 Die Veröffentlichung (1990–2010)2 Wie liest man ein Fragment? Anatomie der ältesten jüdischen Bücher2.1 Buchform und Layout (Kodikologie)2.2 Vom Fragment zur Transkription2.3 Schrift (Paläographie)3 Vom Fragment zur Rolle: Konstruktion, Editionen und Hilfsmittel3.1 Vom Fragment zu Fragmentengruppen3.2 Von der Fragmentengruppe zur Reihenfolge3.3 Abkürzungssystem3.4 Alte Fotos und neue Bildtechniken3.5 Editionen und Hilfsmittel4 Kurze Geschichte Judäas in hellenistisch-römischer Zeit5 Religiöse Bewegungen in Judäa

 Teil 2: Steine, Rollen, Krüge: Archäologie der Texte von Qumran und ihrer Umgebung6 Grundzüge der Archäologie und Aufteilung in Siedlungsphasen6.1 Wie funktioniert eine Ausgrabung?6.2 Chronologie der Siedlungsphasen von Khirbet Qumran7 Leben in und um Qumran: Gebäude und Objekte7.1 Die wichtigsten Gebäude und Objekte7.2 Friedhöfe7.3 Im Keller: Höhlen im Mergelplateau7.4 Schriftrollenhöhlen im Kliff bei Qumran7.5 Höhlen ohne Schriftrollen im Kliff7.6 Ein Feshkha7.7 Wege und Pfade um Qumran7.8 Exkurs: Die anderen Handschriftenfunde am Toten Meer8 Festung, Villa, Töpferei? Qumran im KontextExkurs: Das sogenannte Jachad-Ostrakon9 In und out: Überblick über die Schriftrollen, Autorgruppen, Besitzer und Gegner9.1 War Qumran eine Geniza?9.2 Qumran als Bibliothek? Ein Überblick über die Schriftrollenbestände9.3 Drei Ausreißer?

 Teil 3: Die Geburt der ältesten Buchreligion: Die Rollen von Qumran und die Hebräische Bibel10 Kanon und Kreativität: Konturen der „Bibel“ und „parabiblischer“ Literatur im Zweiten Tempel10.1 Kanon und Heilige Schriften10.2 Die traditionellen Bibeln10.3 Frühe Zeugnisse zur Kanonsgeschichte10.4 Konturen Heiliger Schriften in Qumran11 Kopie, Korrektur, Kreativität: Textkritik und Redaktionskritik „biblischer“ und nicht-biblischer Bücher11.1 Textunterschiede und Textkritik11.2 Textunterschiede und Redaktionskritik11.3 Reworked Pentateuch oder Pentateuch?11.4 Textkritik und nicht-biblische Schriftrollen12 Gottes Wort verstehen: Auslegungstechniken und -themen12.1 Rewritten Scripture12.2 Spin-Offs, Sequels, Prequels12.3 Quellen biblischer Bücher?12.4 Pescharim und andere Kommentare12.5 Hilfsschriften12.6 Übersetzungen

 Teil 4: Der Jachad: Quellen, Organisation und Religion der Bibliotheksbesitzer13 Die Quellen des Jachad13.1 Die Damaskusschrift (D) (Zadokidisches Werk)13.2 Die Gemeinschaftsregel (S) und verwandte Texte (Sa und Sb)13.3 Hymnenrolle (H)13.4 Milchama-Texte (M)13.5 Andere Texte: Berakhot, Pescharim, Flor, Test, 11Q1314 Jachad und Neuer Bund: Organisationsformen15 „Pflanze der Gerechtigkeit“: Ursprung, Geschichte und Protagonisten16 „Das Gute und Rechte vor Dir tun“: Rituale des Jachad16.1 Riten des Lebenszyklus: Kindheit, Beitritt und Bestattung16.2 Kalender, Fest- und Wochentagsliturgien16.3 Tagzeitenliturgie: Morgen- und Abendgebet, Gemeinschaftsmahl und ewiges Studium16.4 Gebet vs. Opfer16.5 Reinheit17 „Einen Mann im Herzen erleuchten“: Zur Ideologie des Jachad17.1 Gott, Engel, Mensch17.2 Dualismus17.3 Doppelte Prädestination17.4 Mysterium, Esoterik, Geheimlehren und Schriftauslegung17.5 Präsente Eschatologie, Auferstehung

 Teil 5: Schlüsselloch Qumran: Neue Einblicke ins antike Judentum18 „Das Ende der Tage“: Eschatologie, Apokalyptik und Messianismus – Qumran und das christliche Judentum19 „Das Verborgene erkennen“: Weisheit, Wissenschaft und Magie20 „So lasst unsre Lippen Stiere opfern“: Liturgie, Gebet, Mystik20.1 Gebete: Qumran und das synagogale Gebet20.2 Mystik: Qumran und die Hekhalotliteratur21 „Gottes Willen ordnen“: Tora und Halakha – Qumran und das Rabbinische Judentum

  Abbildungsverzeichnis

 Allgemeine Bibliographie1 Übergreifende Internet-Datenbanken und digitale Handschrifteneditionen2 Datenbanken auf CD-Rom3 Kataloge4 TextausgabenHebräische und griechische BibelnPhilo und JosephusPseudepigraphenTexte aus Qumran und anderen Orten um das Tote MeerNeues TestamentRabbinische LiteraturHekhalotJüdische LiturgieKlassische Autoren zu Juden und Judentum5 Archäologie6 HilfsmittelKonkordanzenKodikologie und PaläographieWörterbücherGrammatikenBibelzitate und -anspielungenEnzyklopädien und NachschlagewerkeBibliographien7 Moderne EinleitungenAlte Geschichte der LevanteAntikes JudentumEntdeckungs- und ForschungsgeschichteHebräische und griechische BibelQumranNeues Testament8 Auswahl zentraler Konferenzbände außerhalb von STDJ

 Anhang1 Karten und Pläne2 Zeittafel3 Glossar

 Quellenverzeichnis1. Hebräische Bibel2. Apokryphen und Pseudepigraphen3. Qumran4. Philon von Alexandrien5. Josephus6. Neues Testament7. Frühchristliche Literatur8. Klassische Literatur9. Gnostische Literatur10. Rabbinische Literatur

  Personenregister

  Sachregister

  Archäologische Loci

[Zum Inhalt]

|V|Meinen Jerusalemer Lehrern

[Zum Inhalt]

|VII|Vorwort

Dieses Lehrbuch ist Ausdruck meiner Überzeugung, dass sich die Welt des frühen Judentums – und darunter fällt auch das Urchristentum – nur im parallelen Studium aller antiken jüdischen Quellen, schriftlichen wie archäologischen, begreifbar machen lässt. Auch sind alle Methodologien, Philologie, Geschichte, Archäologie, Religions- und Sozialwissenschaften und nun auch die Informatik, wo sie vergangene Welten mit Licht erhellen können, zu verwenden.

Ich danke meinen Schülern in Paris und in Bern, die mit mir einige der hier enthaltenen Materialien erprobt haben. Sehr herzlich möchte ich Jonathan Ben-Dov, Katell Berthelot, René Bloch, Yehuda Cohn, Lutz Doering, Gilles Dorival, Jörg Frey, Florentino García-Martínez, Charlotte Hempel, Jodi Magness, Dennis Mezzi, Konrad Schmid, Günter Stemberger, Herzeleide Stökl, Jonathan Stökl, Eva Tyrell und Eibert Tigchelaar sowie dem Lektor meinen Dank aussprechen, die sich mit zahlreichen Korrekturen und Hinweisen viel Mühe gegeben haben, das Buch oder das ihm zugrundeliegende Projekt vor einigen Fallen zu bewahren. Verbliebene Fehler möge der Leser mir zur Last legen.

 

[Zum Inhalt]

|XIII|Transkriptionsregeln

Entsprechend den Regeln der Lehrbuchreihe wird ein der deutschen Sprache angemessenes stark vereinfachtes Transkriptionssystem angewandt, das Konsonanten im Allgemeinen mit den folgenden Äquivalenten wiedergibt und Vokale nach der vereinfachten modernen hebräischen Aussprache ergänzt. Personennamen sind allgemein nach der griechischen Weise transkribiert (Demetrios statt Demetrius).


alef ’ / ø (am Wortanfang und -ende) ‎‏א‏‎
bet b / v ‎‏ב‏‎
gimel g ‎‏ג‏‎
dalet d ‎‏ד‏‎
he h / ø (am Wortende) ‎‏ה‏‎
waw w / o / u ‎‏ו‏‎
zain z ‎‏ז‏‎
chet ch ‎‏ח‏‎
tet t ‎‏ט‏‎
jod j / i ‎‏י‏‎
kaf k / kh ‎‏כ‏‎
lamed l ‎‏ל‏‎
mem m ‎‏מ‏‎
nun n ‎‏נ‏‎
samekh s ‎‏ס‏‎
ajin ‘/ ø (am Wortanfang und -ende) ‎‏ע‏‎
pe p / f ‎‏פ‏‎
tsade tz ‎‏צ‏‎
qof q ‎‏ק‏‎
resch r ‎‏ר‏‎
schin sch ‎‏ש‏‎
tav t ‎‏ת‏‎

[Zum Inhalt]

|1|Teil 1: Historische und philologische Einleitung
|3|1 Die Bedeutung der Qumranrollen und ihre Entdeckungs- und Forschungsgeschichte

Allegro, John, Die Botschaft vom Toten Meer, Frankfurt 1957.

Burrows, Millar, Die Schriftrollen vom Toten Meer, München 1957;

Burrows, Millar, Mehr Klarheit über die Schriftrollen, München 1959.

Cross, Frank, Die antike Bibliothek von Qumran und die moderne biblische Wissenschaft, Neukirchen-Vluyn 1967.

Dimant, Devorah/Kottsieper, Ingo (Hgg.), The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective. A History of Research, Tübingen 2012.

Fields, Weston, The Dead Sea Scrolls. A Full History. Vol. 1, Leiden 2009.

Golb, Norman, „Who Were the Maġārīya?“, Journal of the American Oriental Society 80 (1960) 347–359.

Israeli, Raphael, Piracy in Qumran. The Battle over the Scrolls of the Pre-Christ Era, New Brunswick 2008.

Maier, Johann/Schubert, Kurt, Qumran-Essener. Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde, München 1991.

Milik, Józef, Ten Years of Discovery in the Wilderness of Judaea, London 1959.

Reiner, Fred, „C.D. Ginsburg and the Shapira Affair. A Nineteenth-Century Dead Sea Scrolls Controversy“, The British Library Journal 21 (1995) 109–127.

Rengstorff, Karl-Heinrich, Hirbet Qumran und die Bibliothek vom Toten Meer, Leiden 1960.

Schiffman, Lawrence, Reclaiming the Dead Sea Scrolls, New York 1994.

Segal, Moshe, A Grammar of Mishnaic Hebrew, Oxford 1927.

Stec, David, The Genizah Psalms. A Study of MS 798 of the Antonin Collection, Leiden 2013

Stegemann, Hartmut, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 1993, 102007.

Tov, Emanuel, The Discoveries in the Judaean Desert Series: History and System of Presentation. In: ders. (Hg.), The texts from the Judaean desert: Indices and an introduction to the ‚Discoveries in the Judaean desert‘ series, (DJD 39) Oxford 2002, 1–25.

Trever, John, Das Abenteuer von Qumran, Kassel 1967.

Vermes, Géza, The story of the scrolls, London 2010.

1.1 Die Bedeutung der Funde von Qumran

Qumran – wenige Worte haben im letzten Jahrhundert eine größere, fast magische Anziehungskraft auf Erforscher des Judentums und Christentums, Scharlatane und Sensationslustige, Journalisten und Kriminalautoren, Fachleute und Laien ausgeübt als der Name |4|des Fundortes der Qumran-Rollen am Toten Meer. Filmreif ist nicht nur die Entdeckungsgeschichte durch Beduinen, der erste Ankauf am Vorabend des UNO-Votums zum Teilungsplan des britischen Mandatsgebiets Palästina, sondern auch die Beteiligung des israelischen Geheimdiensts an späteren „Erwerbungen“, der dreißigjährige Krieg um ihre Publikation, Verdächtigungen, der Vatikan verhindere die Veröffentlichung wichtiger Schriften, antisemitische Ausfälle zentraler Beteiligter, „Pirateneditionen“ durch Reverse Engineering junger Computerfreaks, Gerichtsprozesse um Diebstahl geistigen Eigentums und Annahme falscher Identitäten, um andersdenkende Forscher zu diffamieren. Manchen Forschern fiel es nicht leicht, in derartig ungewöhnlichen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Doch ganz objektiv haben nur wenige archäologische Funde eine ähnliche Neuinterpretation bekannter Daten in gut erforschten Forschungsgebieten ausgelöst. Die Fakten sprechen für sich:

Die Fragmente von mehr als 1000 Schriftrollen stellen die größte Sammlung antiker religiöser Schriftengrößte Sammlung antiker religiöser Schriften dar. Die frühesten datieren aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., die jüngsten aus dem ersten Jahrhundert n. Chr., einer Schlüsselperiode für die Geburt zweier noch heute lebendiger Religionen: rabbinisches Judentum und Christentum. Vor 1946 gab es eine große Lücke zwischen der vermuteten Redaktionszeit der jüngsten Bücher der Hebräischen Bibel in der hellenistischen Zeit (zweites Jahrhundert v. Chr.) und den ältesten erhaltenen hebräischen Handschriften vom Ende des ersten Jahrtausends n. Chr. Dazwischen liegen zwar die Redaktionszeiten der klassischen rabbinischen Texte, Mischna, Talmud, Midrasch. Doch auch sie waren bis ins frühe Mittelalter nur mündlich überliefert. So bleibt, selbst wenn man die Redaktionszeit des frühesten dieser Texte, der Mischna, im dritten Jahrhundert als Maßstab nimmt, immer noch eine Kluft zwischen dem zweiten Jahrhundert vor und dem dritten Jahrhundert nach Christus.

Mit der Entdeckung gibt es plötzlich Reste hunderter hebräischer und aramäischer Bücher aus eben dieser unbekannten Zwischenzeit. Die entdeckten Handschriften von Büchern der Hebräischen Bibel, ungefähr ein Viertel aller um Qumran gefundenen Rollen, sind immerhin etwa 1000 Jahre älter als die bis dato älteste vollständige Bibelhandschrift. Sie geben völlig neue Einsichten in die Textgeschichte. Zum Beispiel liefern sie für die antike griechische Übersetzung der Bibel (die sogenannte Septuaginta) Belege, dass es den dahinter liegenden hebräischen Text wirklich einmal gegeben hat. Ja, für manche Bücher geben sie sogar Einblick in den Vorgang der Fortschreibung. Nicht nur das! Differenzen in der Orthographie relativieren die traditionelle Tiberiensische Vokalisierung. |5|Die Kanongeschichte kann völlig neu aufgerollt werden. Ohne Zweifel haben die Rollen und Fragmente unser Verständnis der Überlieferung und Überarbeitung der Bücher der Hebräischen Bibel und ihrer Übersetzungen grundlegend geändert.

Die Rollen von Qumran verschaffen uns die Möglichkeit, das Judentum des Zweiten Tempels Direktzugangdirekt zu studieren. Bis 1946 war dies nur indirekt möglich. Man vergisst oft, dass wir bis auf ein paar Papyrusfragmente alle anderen Texte, Flavius Josephus, Philon, Pseudepigraphen und Apokryphen nur dank christlicher Schreiber aus der Antike und dem Mittelalter haben. Auf jüdischer Seite ist neben der Hebräischen Bibel nur die rabbinische Literatur überliefert worden, die zu einem neuen Kanon des nun erst entstandenen rabbinischen Judentums geworden ist. Alles, was nicht in die christliche oder die rabbinische Sichtweise passte, wurde nicht weiter abgeschrieben. Auf christlicher Seite hieß das oft, dass nur Schriftstücke, die in der Perspektive der kopierenden Mönche einen Beitrag zum Verständnis des Neuen Testamentes leisteten, der Mühe des Abschreibens wert waren. Dazu gehörten neben der Septuaginta und den anderen Übersetzungen der Hebräischen Bibel in erster Linie Josephus (eine der ganz wenigen antiken Quellen, die Jesus, Jakobus und Johannes den Täufer erwähnen); Philon von Alexandrien (der manchen als zum Christentum konvertierter jüdischer Philosoph galt); Schriften wie 1. Henoch, die im Neuen Testament zitiert werden, oder 4. Esra und die Psalmen Salomos, die über die Ankunft des Messias sprechen. Und wo diese Zeugnisse christologisch nicht deutlich genug waren, wurden sie im Laufe der Zeit von den christlichen Kopisten „verbessert“ oder überhaupt erst in die Quellen hineingeschrieben (z.B. in den Testamenten der Zwölf Patriarchen).

Die Rabbinen verzichteten ganz auf die eigenständige Überlieferung nachbiblischer vorrabbinischer Texte und integrierten allenfalls gewisse Traditionen in ihre neuen Kompositionen. Die von rabbinischen und christlichen Schreibern überlieferten Texte und Traditionen schränken also unsere Wahrnehmung des antiken Judentums auf diejenigen Texte und Traditionen ein, die späteren orthodoxen Kreisen genehm waren.

Qumran ermöglicht den direkten Einblick in gewisse Teile des Judentums des Zweiten Tempels ohne die Selektionsgeschichte der christlichen und jüdischen Tradition. Bis 1946 nur äthiopisch, griechisch, lateinisch oder syrisch überlieferte Schriften wie 1. Henoch, das Jubiläenbuch, Tobit oder Sirach wurden in ihrem hebräischen oder aramäischen Original zugänglich. Für eine Anzahl zentraler Genres jüdischer Literaturgeschichte geben die Qumranrollen das älteste Zeugnis ab: für die ersten exegetischen Werke, die den zitierten |6|Text explizit von seiner Auslegung trennen; bestimmten Themen gewidmete halakhische Traktate; liturgische Gebetsbücher; magische Schriften, mystische Vorstellungen, vorher für unmöglich gehaltene Verbindungen von Weisheit und Apokalyptik. Erst in den letzten Jahren sind die Qumranrollen als Zeugnisse für das antike Judentum, nicht nur einer exklusiven jüdischen Sekte, dem Jachad, wirklich ernst genommen worden.

 

Auch wenn wir die Standardthese vertreten, die die Besitzer der Bibliothek mit den Essenern identifiziert, werden wir in diesem Lehrbuch für die Gruppe hinter diesen Schriftrollen ihre Selbstbezeichnung verwenden, also „JachadJachad“ (und „jachadisch“), um nicht durch die Verwendung von „Essenern“, „Sekte“ oder „Qumrangruppe“ soziologische oder geographische Vorentscheidungen für die Interpretation treffen zu müssen. Auch in englischen Publikationen sind viele dazu übergegangen, neutral von „Yahad“ (und „Yahadic“) zu sprechen.

Die neu entdeckten halakhischen Handschriften gestatten Einsicht in die unterschiedlichen Lehrmeinungen, die in den jüdischen Strömungen zum Ende der Zeit des Zweiten Tempels eine Rolle spielten. Juristische Fachtermini, literarische Genres, Ableitungen aus biblischen Texten stimulieren die Diskussion zu den Entstehungsumständen auch des rabbinischen Judentums.

Und doch wäre all dies vermutlich nur für einen begrenzten Kreis von Spezialisten und Freunden des antiken Judentums von herausragender Bedeutung gewesen, gäbe es da nicht noch die zeitliche, geographische und oftmals inhaltliche Nähe zu Jesus, Johannes dem Täufer und Paulus, zum Urchristentum und seinen Schriften. Bis 1946 musste man zum Studium des Neuen Testamentes vor allem gute Griechischkenntnisse vorweisen. Jesus sprach zwar Aramäisch. Doch dafür gab es keine zeitgenössische Literatur. Hebräisch selbst aber galt meist als tote Sprache, auch wenn Segal angefangen hatte zu beweisen, dass dem nicht so war. Vergleichsliteratur zum Neuen Testament waren die Schriften des hellenistischen Judentums, Kirchenväter und klassische Autoren. Dazu kamen auch die Schriften der Hebräischen Bibel, des Alten Testamentes, relevant allerdings nicht in ihrer hebräischen Fassung, sondern in griechischer Übersetzung, in der Form der Septuaginta. Das Studium der restlichen hebräischen Literatur – Mischna, Talmud, Midraschim – diente in den allermeisten Fällen dazu, die große Differenz des Christentums zum rabbinischen Judentum herauszustreichen. Von jüdischer Seite konnte das Christentum als marginale Interpretation hellenisierter Strömungen des Judentums des Zweiten Tempels abgetan werden.

|7|Mit der Entdeckung der Qumranrollen gab es plötzlich ein großes Korpus hebräischer Literatur aus den hellenistischen und römischen Epochen mit Bezügen auf exegetische und halakhische Traditionen der rabbinischen Literatur, aber ebenso oft auch mit Kontrasten. Ohne Übertreibung kann man feststellen, dass vor allem auch aufgrund der aus den Qumranrollen gewonnenen Erkenntnisse das Urchristentum in seinen unterschiedlichen Strömungen heute viel stärker im Judentum des Zweiten Tempels verwurzelt gesehen wird, genauer als eine weitere Strömung innerhalb des mannigfaltigen antiken Judentums Judäas/Palästinas.

Vieles von dem, was vorher als christliches Proprium gegolten hatte, war nun erstmals in antiken jüdischen Texten attestiert, noch dazu auf Hebräisch. Besonders große Aufmerksamkeit galt der Messianologie. Eine eschatologische Heilsfigur als Sohn Gottes? Ein leidender Messias? Die Deutung bestimmter prophetischer Texte auf den Messias? Prophetisch inspirierte Schriftauslegung? Seligpreisungen? Ein Kultmahl mit Brot und Wein? Ausdrücke wie „Werke des Gesetzes“? Nicht alles ist stichhaltig, aber die Präsenz all dieser Punkte in den Qumranrollen muss zumindest diskutiert werden.

Und für die Historiker kommt noch dazu, dass – im Gegensatz zum Urchristentum – die Schriftrollen mit archäologischem KontextSchriftrollen einen archäologischen Kontext haben. Wenn man die Siedlung als Wohnsitz der Eigentümer der Rollen identifiziert, wie es die Mehrheit weiterhin tut, können Rolle und Siedlung, Text und Kontext, Anspruch und Wirklichkeit, Ideal und Realität, Reinheitsliturgie und Mikve, Gleichheitsideal und Friedhof miteinander in Beziehung gesetzt werden. Bis vor wenigen Jahren war dieser Punkt vielleicht der umstrittenste, doch haben die Erkenntnisse der modernen Physik und Chemie hier neue Sicherheiten gewonnen. Wie würden sich Historiker des frühen Christentums oder der tannaitischen rabbinischen Literatur über ähnliche Entdeckungen freuen! Bis zu den ersten archäologisch verifizierten christlichen Bauwerken in Dura Europos und Megiddo müssen wir bis ins dritte Jahrhundert warten – ohne darin bislang die Literatur ihrer Bewohner in ähnlicher Masse gefunden zu haben. Die christlichen Papyri stammen fast ausschließlich von antiken Müllhalden in Ägypten, nur selten aus Bauten mit archäologischem Kontext. Die schiere Masse der Qumranrollen stellt alles andere in den Schatten. Alle christlichen griechischen Papyri bis zum fünften Jahrhundert zusammengenommen entsprechen etwa der Hälfte der Zahl der Qumranrollen.

Auch auf sprachwissenschaftlichem Gebiet haben die Qumranrollen unsere Kenntnis der hebräischen Sprache revolutioniert. Das in den Qumranrollen bezeugte Hebräisch schließt eine große Lücke |8|zwischen den jüngeren Werken der Hebräischen Bibel und den ältesten Straten der rabbinischen Literatur. Dies gilt – vor allem auch aufgrund der Bar Kosba Texte von anderen Fundorten um das Tote Meer – auch für das Aramäische.

Schließlich profitiert auch die antike Buchkunde, Kodikologie (Lehre über den Aufbau von Büchern) und Paläographie (Erforschung der Geschichte der Schrift). Für das Studium einer Religion, die genau in dieser Periode begann, das Buch mehr und mehr ins Zentrum ihres Kultes zu stellen, ist das Wissen über die physische Beschaffenheit von Büchern absolut fundamental. Gab es neben Rollen noch andere Buchformen? Gab es schon Rollen, die die ganze Tora einschlossen? Inwiefern bestimmten Inhalt oder Zweck das Layout einer Rolle? Gab es private Abschriften heiliger Texte? Wie unterscheiden sie sich von liturgischen Rollen? Welche Zusatzzeichen erfanden die Schreiber, um Lesen und Vorlesen zu unterstützen (Aufteilung in Paragraphen, Titel)? Wie wurden Korrekturen angezeigt?