Die Herren von Telkor - Die Trollhöhle

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Die Herren von Telkor - Die Trollhöhle
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Die Herren von Telkor

-

Die Trollhöhle

Impressum:

Die Herren von Telkor - Die Trollhöhle

Daniel Sigmanek

Copyright: © 2013 Daniel Sigmanek

Umschlaggestaltung: © 2013 Daniel Sigmanek

DieTrollhoehle@web.de

www.sigmanek.de

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-6789-1

Danksagung

Mein besonderer Dank gilt meinem Vater, der mich fortwährend zum Weiterschreiben animierte und nicht unerheblich an der Korrektur der endgültigen Version beteiligt war.

Der Auftrag

Es regnete. Schon seit Stunden ergossen sich riesige Wassermassen über die niedrigen Häuser und Straßen und verwandelten den vormals trockenen Boden zusehends in Schlamm. Mächtige, dunkelgraue Wolken verdeckten den Himmel und vereitelten jegliche Versuche der warmen Sonnenstrahlen, sich bis zur Erde vorzutasten. So war es trotz des erst wenig vorangeschrittenen Tages bereits sehr dunkel und allem Anschein nach würde bald ein heftiges Gewitter aufziehen.

Tado störte all dies nicht. Er ging ruhig, aber dennoch schnell durch die verlassenen, unbefestigten Straßen, denn kein Mensch und kein Tier wagten sich bei diesem Wetter hinaus. Er hielt sich dicht an den Häuserwänden, sodass die wenig hervorstehenden Holzdächer ihn wenigstens ein kleines bisschen vor den Wassermassen schützten. Leider funktionierte dieser Plan nicht sehr gut, und so stand er schließlich völlig durchnässt vor einem breiten, etwas höheren Gebäude. Hier arbeiteten die Botschafter. Sie überbrachten Nachrichten oder wertvolle Objekte von einer Stadt zur anderen, sie waren eine Elitegruppe, vom Erfolg ihrer Aufträge konnte die Entscheidung über Krieg oder Frieden abhängen.

Lange hatte Tado auf diesen Tag gewartet. Schon als er noch sehr klein war, hatte er sich gewünscht, später einmal Botschafter zu werden. Nun hatte er endlich das nötige Alter erreicht, um sich der Aufnahmeprüfung zu unterziehen. Mit einem Gefühl von Freude und Angst betrat er das große Gebäude, in dessen Innern eine angenehme Wärme herrschte. Durch das wenige Licht, das von draußen herein schien, wirkte die Halle, in der er sich nun befand, unfreundlich und unbewohnt. Ein älterer Mann führte ihn eine Treppe hinauf. Vermutlich wurde er schon erwartet. Sie betraten einen kleinen Raum, der nahezu gänzlich von einem Tisch und drei Stühlen ausgefüllt wurde. Auf einem dieser Stühle saß jemand, den Tado nur allzu gut kannte und dessen Anwesenheit ihn mit Unbehagen erfüllte: Haktir.

Haktir war ein Jahr älter als er und daher schon seit einiger Zeit Botschafter. Innerhalb weniger Monate war es ihm gelungen, so weit aufzusteigen, dass er nun nicht mehr selbst Aufträge erfüllen musste, sondern diese lediglich verteilte. Und genau das stellte das Problem dar. Tado und er verstanden sich nicht sehr gut, genauer gesagt verband sie eine abgrundtiefe Feindschaft.

„Du bist vier Minuten zu spät“, schleuderte ihn Haktir an den Kopf, noch bevor er den Raum überhaupt betreten hatte. Er saß auf einem der Stühle, die Füße lagen auf der Tischplatte. Missbilligend sah er Tado an.

„Du bist durchnässt“, stellte er schließlich fest. Der alte Mann, der ihn hierher geleitet hatte, bedeutete dem Neuankömmling, sich zu setzen, und nahm indes seinerseits Platz.

„Ja, immerhin regnet es draußen“, antwortete Tado, bemerkte jedoch wenig später, dass seine Aussage völlig überflüssig war, da sich auf der gegenüberliegenden Seite der Tür ein großes Fenster befand, durch das man den Wassertropfen zusehen konnte, wie sie auf den Straßen eine Pfütze nach der anderen bildeten.

„Ich weiß“, entgegnete Haktir. „Darum habe ich den Termin für dieses Gespräch doch auch genau für heute festgelegt.“

Tado ertrug geduldig die Sticheleien seines Gegenübers. Er befand sich zurzeit in der niedrigeren Position, und er wollte auf keinen Fall Gefahr laufen, durch seine Aufnahmeprüfung zu fallen, noch bevor diese überhaupt begonnen hatte.

„Da ich nicht sonderlich erpicht auf deine Gesellschaft bin, lass uns das ganze abkürzen“, fuhr Haktir fort. In Tado machte sich ein Gefühl der Aufgeregtheit breit.

„Deine Aufnahmeprüfung besteht aus einem simplen Auftrag. Wenn du diesen erfolgreich beendest, wirst du zum Botschafter erklärt.“

Er atmete innerlich erleichtert auf. Ehrlich gesagt hatte er Schlimmeres erwartet.

„Was für ein Auftrag ist das?“, fragte Tado, wurde jedoch, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, von Haktir unterbrochen: „Es geht um eine kleine Schatulle. Sie wurde vor einiger Zeit gestohlen, als Trolle unser Dorf überfielen. Sie brachten sie tief in die Trollhöhle im Norden und bewahrten sie dort zusammen mit anderen Schätzen auf. Gerüchten zufolge geriet ihre Schatzkammer irgendwann in Vergessenheit, aus einem bis heute ungeklärten Grund. Die Schatulle muss also noch dort sein. Wenn du sie heil zurückbringst, hast du deinen Auftrag beendet. In der Zwischenzeit soll sich dort übrigens eine Person, die sich Lord des Feuers nennt, eingerichtet haben. Du gehst ihr besser aus dem Weg.“

„Und was befindet sich in dieser Schatulle?“, wollte Tado wissen.

„Das hat dich nicht zu interessieren. Ich gebe dir hundert Tage. Die Zeit läuft ab morgen. Wenn du es bis dahin nicht geschafft hast, wirst du niemals Botschafter werden.“

Erfüllt von Euphorie und Tatendrang vergaß Tado, weitere Fragen zu stellen, beispielsweise wusste er nicht einmal, wo genau sich die Trollhöhle befand. Stattdessen gab ihm Haktir eine Zeichnung der zu suchenden Schatulle und bedeutete ihm unmissverständlich, den Raum zu verlassen.

Als die Tür sich wieder schloss, erhob zum ersten Mal der alte Mann die Stimme und richtete sie an Haktir: „Was ist das für ein merkwürdiger Auftrag? Der letzte Angriff der Trolle ist weit über zwanzig Jahre her, damals lebtest du noch gar nicht. Wie kannst du davon wissen?“

„Du hast recht. Der letzte Angriff liegt weit zurück. Ich habe in einem Buch darüber gelesen, und auch über die verschwundene Schatulle“, entgegnete Haktir.

„Aber dieser Auftrag ist viel zu gefährlich für einen Anfänger. Du weißt doch, dass es keine Ausbildung für einen Botschafter gibt.“

„Ja. Wer bei seinem ersten Auftrag erfolgreich ist, wird angenommen, wer versagt, wird aussortiert. Tados Auftrag ist nicht schwieriger als all die anderen.“

Der alte Mann ließ es nicht dabei bewenden: „Aber es gibt Gerüchte, dass die Trollhöhle von einer finsteren Macht beherrscht wird, der nichts und niemand gewachsen sein soll. Es wird sein sicherer Tod sein, wenn du ihn gehen lässt.“

„Wie es scheint, kann ich dir nichts vormachen“, meinte Haktir, nicht sonderlich überrascht. „Selbstverständlich weiß ich von den Gerüchten, ebenso wie ich weiß, dass sie wahr sind. Die Macht geht von dem Lord des Feuers aus. Tado wird von diesem Auftrag nicht mehr wiederkehren.“

„Aber warum schickst du ihn in den Tod?“

„Die Gründe dafür kannst du nicht verstehen, alter Mann. Doch früher oder später werden wir alle sterben. Die Macht ist nicht mehr aufzuhalten. Dennoch soll er der erste sein, der ihr zum Opfer fällt.“ Haktir sprach diese Worte mit einem ausdruckslosen Gesicht. Etwas schien ihn zu betrüben.

„Das kann ich nicht zulassen“, meinte der alte Mann entschlossen und wollte zur Tür gehen.

„Bei meinem ersten Auftrag vor einem Jahr lernte ich eine Gruppe Waldmenschen kennen“, sagte Haktir, den Blick aufs Fenster gerichtet. Der alte Mann hielt inne. „Sie lehrten mich, einen begangenen Mord zu verschleiern. Wenn du also den Versuch unternehmen solltest, ihn irgendwie zu warnen, dann seid ihr beide schon morgen nur noch zwei leblose Hüllen, verscharrt unter den Wurzeln eines alten Baumes in der Nähe der südlichen Sümpfe.“

Der alte Mann verließ den Raum wortlos.

Tado hatte das Gespräch zwischen ihm und Haktir nicht mehr mitbekommen, zu schnell war er zurück auf die noch immer den herabstürzenden Wassermassen ausgesetzten Straßen gegangen.

Zuhause angekommen, kramte er einen verstaubten Rucksack hervor, den ein reisender Händler einmal als Geschenk zurückgelassen hatte, befreite ihn vom Dreck, und füllte ihn mit Dingen, die er für seine Reise als wichtig erachtete. Dazu gehörten unter anderem ein Seil, falls er irgendwo eine Klippe hinuntersteigen musste, denn er beabsichtigte, um Zeit zu sparen, den Weg durchs Mauergebirge zu nehmen, eine Axt zum Holzfällen, die ihm als Waffe diente, eine Decke, ein Messer und Verbandszeug. Leider steckte er nur sehr wenig Proviant ein, sodass er schon nach wenigen Tagen auf die Jagd würde gehen müssen - eine Tätigkeit, die er bisher noch nicht einmal im Ansatz beherrschte.

Tado verspürte große Aufregung über das, was auf ihn zukommen mochte. Aus diesem Grund ging er an diesem Abend ungewöhnlich früh schlafen, ehe die Sonne, die sich nach vielen Stunden endlich wieder durch die schweren Regenwolken gekämpft hatte, ihre letzten Strahlen hinter dem Horizont verbarg.

Noch bevor der erste Hahn krähte, schreckte er hoch. Es war noch mitten in der Nacht, da aber im gesamten Dorf keine Lichter mehr brannten, musste es gegen vier Uhr sein.

Er hatte einen merkwürdigen Traum gehabt. Er schwebte über der Erdscheibe, die zur einen Hälfte aus Feuer und zur anderen aus Eis bestand. Unter sich sah er zerstörte Städte und Horden von gigantischen Kreaturen und dann rauschte etwas mit gewaltigen Flügeln über seinem Kopf hinweg und...

Das war es auch, was ihn geweckt hatte: das Schlagen von Flügeln. Tado stand auf. Vorsichtig wankte er zum Fenster, um nach der Ursache für das Flattern zu suchen. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihm den Atem stocken. Riesige Fledermäuse, deren Schwingen eine Spannweite von ungefähr zwei Armlängen haben mussten, flogen zu tausenden über die nassen Holzdächer, und dass sie nirgendwo anstießen, glich einem Wunder. Inmitten des Getümmels stand eine Person. Sie trug einen schwarzen Umhang und blickte in seine Richtung. Tado atmete schneller - zumindest versuchte er das. Es war, als hätten seine Lungen plötzlich Löcher bekommen. Er konnte einatmen, so viel er wollte, er bekam keine Luft. Gleich würde er ersticken. Nein, zuerst vielleicht in Ohnmacht fallen, dann wäre sein Tod nicht ganz so grässlich. Gleich...

 

Mit einem Hustenanfall kam er wieder zu sich. Es schien nur ein Traum gewesen zu sein. Das beruhigte ihn zunächst. Vielleicht hätte ihm dieser jedoch eine erste Warnung auf das Bevorstehende sein sollen. Doch stattdessen tat er ihn nur als Nebenprodukt seiner Aufregung ab.

Unsicher prüfte Tado schließlich, ob er wieder normal atmen konnte. Er lag noch immer im Bett, allerdings schien draußen bereits die Sonne.

Eine halbe Stunde später machte er sich auf den Weg. Das Dorf, in dem er - seit er denken konnte - lebte, schrumpfte schnell hinter ihm zusammen. Es lag im Südwesten Gordoniens, eines kleinen Kontinents inmitten eines gigantischen Ozeans. Noch nie hatte Tado bisher seine Heimat für länger als einen Tag verlassen, daher kannte er sich in der Gegend, in die er nun marschierte, nicht besonders gut aus. Er war direkt nach Norden gegangen, in Richtung des Grünen Waldes, an den das Mauergebirge grenzte. Was sich dahinter befand, entzog sich seinen Kenntnissen. Nicht viele, die sich dorthin begaben, kehrten je wieder zurück, um davon zu berichten. Darum wagte sich auch keiner, der nicht danach strebte, zu sterben, zu nah an das Mauergebirge heran. Aus diesem Grund hatte man eine große Straße um die Berge herum gebaut. Tado wollte jedoch keine Zeit verlieren und den Umweg von mehreren hundert Kilometern vermeiden, sodass er voller Tatendrang und Freude über seinen ersten Auftrag jegliche Gefahren vergaß.

Der Weg bis zum Grünen Wald verlief ohne nennenswerte Probleme. Nach einer guten Stunde Fußmarsch erreichte er die ersten Bäume und stand bald darauf am Saum des Idylls, hinter dem sich majestätisch die schneebedeckten Gipfel des Mauergebirges erhoben. In den Wipfeln der riesigen Eichen nistete eine Vielzahl von Vögeln, deren Federkleid die unterschiedlichsten Farben aufwies. Doch so schön der Wald auch aussah, so tückisch konnte er sein, wenn man sich darin verlief.

Tado hatte schon Geschichten gehört, in denen Menschen von riesigen Erdschrandern angegriffen worden waren. Als Erdschrander bezeichnete man marderähnliche Wesen mit langem, braunem Fell, das oftmals auf dem Boden schleifte.

Trotz allem zögerte er nicht, den Wald, der größtenteils aus Laubbäumen - überwiegend Eichen - bestand, zu betreten. Er war hier schon einige Male gewesen und kannte sich zumindest im südlichen Bereich sehr gut aus.

Durch das in den unterschiedlichsten Grüntönen schimmernde Blätterdach drang gerade so viel Licht, dass er einen Weg erkennen konnte, der tiefer in den Wald hineinführte. Seine Schritte und das Knacken einiger Zweige auf dem Boden, auf die er versehentlich trat, wurden vom Gezwitscher der Vögel größtenteils übertönt.

Stunde um Stunde verging. Der Wald war nicht besonders groß, sodass Tado sich schon bald Gedanken darüber machte, ob er sich nicht vielleicht verlaufen hätte. Schließlich blieb er stehen, um sich einen Platz zu suchen, an dem er etwas essen konnte.

Plötzlich vernahm er ein Knacken. Er hielt mitten in der Bewegung inne. Aus den Augenwinkeln sah er einen Schatten vorbeihuschen. Ein Tier? Erneut knackte ein Zweig, diesmal hinter ihm.

Er war nicht allein.

Wie ein kalter Schauer traf ihn diese Erkenntnis. Mit einem Ruck wandte er sich um, nahm neben sich eine Bewegung wahr und sprang zur Seite.

Seine Reaktion kam zu spät. Etwas Hartes, Kühles, donnerte mit gewaltiger Kraft gegen seine Schläfe. Er taumelte und fiel überaus unsanft auf eine Baumwurzel. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er sah noch, wie sich einige Männer um ihn herum versammelten und verlor dann endgültig das Bewusstsein.

* * *

Das leise Gemurmel von Stimmen weckte ihn. Er befand sich, so weit er das beurteilen konnte, unter der Erde. Man hatte ihn auf einer Art Steinbett aufgebahrt, das direkt aus der Wand herausgemeißelt war.

Tado setzte sich auf. Er suchte seinen Rucksack. Dieser lehnte unweit an der grauen Felswand. Sein Blick glitt weiter und blieb schließlich an einer kleinen Gruppe von Männern hängen, die um ein Feuer saßen und eifrig diskutierten.

Unter ihnen befand sich auch ein Junge, der ungefähr im gleichen Alter sein musste wie er. Sie waren allesamt in grünbraune Umhänge gekleidet und trugen Hosen und Schuhe der gleichen, nicht genau zu definierenden Farbe. Neben ihnen lagen lange Bögen, vermutlich ihre Waffen.

Einer der Männer sah auf und richtete dann ein paar Worte an die anderen. Das Gespräch verstummte augenblicklich. Nun sahen alle zu Tado hinüber. Schließlich erhoben sich drei des halben Dutzend Leute und steuerten ihn an.

Tados Haltung versteifte sich. Sein Rucksack stand nur wenige Meter entfernt. Er könnte aufspringen, sich ihn schnappen und würde vielleicht verschwunden sein, noch ehe die anderen überhaupt mitbekamen, was eigentlich geschah.

Doch leider wusste er weder, wo er war, noch, ob sein Körper diese Anstrengung aushalten würde. Also entschloss er sich widerwillig, erst einmal abzuwarten.

Doch zu seiner Überraschung wie zu seiner völligen Verblüffung starrten ihn die drei Männer, die schnurstracks auf ihn zumarschierten nicht misstrauisch oder gar feindselig an, sondern lächelten nur entschuldigend.

„Endlich bist du aufgewacht“, sagte der Älteste unter ihnen, vermutlich ihr Anführer, erleichtert.

„Du musst entschuldigen, wir wollten dich wirklich nicht verletzen.“

Erst jetzt bemerkte Tado, dass seine Schläfe mehr oder weniger gut verbunden worden war.

„Habt ihr aber“, erwiderte er fast feindselig.

„Ich kann verstehen, dass du sauer bist. Aber wir haben dich nur gerettet“, meinte der Mann ernst.

„Gerettet?“, entfuhr es Tado.

Doch noch bevor er noch etwas sagen konnte, fuhr der andere im gleichen Tonfall fort: „Trolle. Hättest du weiterhin deinen merkwürdigen Kurs nach Norden hin gehalten, wärst du ihnen direkt in die Arme gelaufen.“

Tado schwieg. Seit wann gab es hier in der Gegend Trolle?

„Wo wolltest du überhaupt hin, dass du so eine merkwürdige Richtung einschlägst?“

Tado ignorierte die Frage.

„Wohin sind die Trolle gegangen?“, fragte er, ohne den vermeintlichen Anführer anzusehen.

„Nach Norden. Warum?“

Tado überging auch diese Frage. Etwas in ihm drin atmete erleichtert auf. Er wusste nicht, wie er reagiert hätte, wenn sie nach Süden, auf sein Dorf zugehalten hätten.

Dem grünbraun gekleideten Mann schien das Schweigen allmählich unbehaglich zu werden, denn er versuchte erneut, ein Gespräch anzufangen: „Verzeih meine Unhöflichkeit. Ich hätte mich vielleicht erst einmal vorstellen sollen. Mein Name ist Natrell, Anführer des Volkes der Waldtreiber. Wie heißt du?“

„Tado“, erwiderte Tado so kurz wie möglich, um zu sehen, wie Natrell nun wieder versuchen würde, ein Gespräch zu beginnen.

Er hatte sich vorgenommen, den Anführer auf diese Weise zu ärgern, weil er diesem die Wunde an seiner linken Schläfe immer noch nicht verziehen hatte.

„Tado? Ein komischer Name.“, murmelte Natrell vor sich hin.

Tado hatte es allerdings vernommen und beschloss, von nun an am besten gar nicht mehr auf seine Fragen einzugehen.

„Es tut uns wirklich sehr Leid“, beteuerte Natrell noch einmal. „Wenn wir irgendetwas für dich tun können, lass es uns wissen.“

Tado sah sich nun allerdings doch gezwungen, etwas zu erwidern: „Ihr könntet mir sagen, wie ich wieder auf meinen alten Weg zurückfinde und mich in Ruhe lassen.“

„Natürlich“, antwortete der Anführer der Waldtreiber sofort. „Das ist nicht besonders schwer. Du befindest dich nämlich keine zweihundert Meter östlich deines Weges. Aber du könntest jemanden von unserem Volk mitnehmen. Er ist dem Leben als Waldtreiber überdrüssig geworden und sehnt sich nach einem Dasein als Bewohner eines Dorfes oder einer Stadt.“

Das passte Tado gar nicht. Aber er widersprach nicht. Immerhin hatten die Waldtreiber ihm das Leben gerettet, auch wenn sie selbst es eher weniger so sahen.

Natrell winkte den Jungen, der noch am Feuer saß, zu sich heran. Dieser hatte seinen Umhang abgelegt. Er wirkte etwas... tollpatschig.

„Tado, das ist Spiffi.“

Nachdem er nun die Gelegenheit hatte, sich die ihm vorgestellte Person genauer anzusehen, beschloss er, seinen Auftrag doch keiner Gefahr in Form dieses Waldtreibers auszusetzen.

„Ich muss euch leider enttäuschen. Aber ich habe nicht vor, in naher Zukunft zu einer Zivilisation zurückzukehren“, log Tado. „Ich bin gewissermaßen auf Reisen.“

„Umso besser“, meinte Natrell. „Dann sieht er wenigstens etwas von der Welt außerhalb unseres Lagers.“

Tado biss sich auf die Zunge. Egal, was er versuchte, der Waldtreiber hatte immer eine Antwort parat. Und so musste er wohl oder übel Spiffi als Reisegefährten mitnehmen. Spiffi selbst schien glücklich darüber zu sein. Auf dem Weg durch die Höhle nach draußen bewahrheitete sich Tados Gedanke über seinen neuen Begleiter: Spiffi war ein Tollpatsch. Mehr als einmal stolperte er über einen Stein, den er mit geschlossenen Augen hätte wahrnehmen können. Mehr als einmal rutschte er auf dem Boden aus, der so rau war, dass jeder Versuch, irgendetwas darauf umher zu schleifen, kläglich misslingen müsste.

Doch schließlich kamen sie ohne schwere Verletzungen aus der Höhle heraus. Was Tado sah, verschlug ihm geradezu den Atem. Das „Lager“, als welches es Natrell bezeichnet hatte, stellte sich als eine riesige Anzahl von Baumhäusern heraus! Manche waren um den Stamm einer großen Eiche gebaut, andere befanden sich in den Baumwipfeln, sodass man sie von bestimmten Positionen aus nicht einmal sehen konnte. Diese stellten vermutlich eine Art Wachturm dar. Aber das war nicht alles. So einfach die Häuser auch gebaut sein mochten, so reich schienen ihre Besitzer zu sein, denn überall standen massive Truhen herum. An sich nichts besonderes, fast jeder in Gordonien hatte seine eigene „Schatztruhe“, in der er seine Klamotten und wertvolle Dinge verstaute. Aber manche dieser Truhen hier standen offen, sodass Tado ihren Inhalt sehen konnte: Gold. In einigen glitzerten zwar auch einige Edelsteine, aber größtenteils herrschte Gold vor: goldene Armbänder, Ketten, Ringe, Goldmünzen, Kerzenständer, teils sogar Schwerter aus Gold. Der Wert dieser Dinge musste so gewaltig sein, dass kein Mensch der Welt sie zu kaufen vermochte.

In Natrells Gesicht, der Tados Faszination bemerkte, erschien ein stolzer Ausdruck.

„Wir überfallen Räuber und Wegelagerer“, sagte er zur Erklärung. „Die gibt es hier wie Felsen im Gebirge. Du solltest dich vorsehen, vielleicht machst du sonst schon bald Bekanntschaft mit ihnen.“

Tado hatte zwar noch nie von Räubern im friedlichen Grünen Wald gehört, aber das interessierte ihn im Moment auch gar nicht. Er war immer noch fasziniert von der Einfachheit der Baumhäuser, die aber gleichzeitig sehr effektiv im Kampf zu sein schienen. Die Leitern, die die einzige Zugangsmöglichkeit darstellten, konnte man bei Bedarf hochziehen. Den Angreifern blieb nun keine Möglichkeit mehr, auf die Bäume zu gelangen, ohne von Pfeilen durchbohrt zu werden. Für den Reichtum interessierte sich Tado nach einem kurzen Moment des Erstaunens weniger. Er hatte schon von Königen gehört, deren Schätze - aufeinander gestapelt - so hoch wie ein Berg waren. Natürlich übertrieben die Erzähler bei solchen Geschichten immer maßlos, aber ein Körnchen Wahrheit mussten sie wohl enthalten, wenn er sich die Kostbarkeiten der Waldtreiber so ansah.

Spiffi holte noch schnell einen Rucksack, den er auch von einem gewissen reisenden Händler hatte, seinen Bogen und einen prall gefüllten Köcher mit Pfeilen, bevor sich Tado und er von dem sonderbaren Volk verabschiedeten.