Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

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Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie
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Daniel Siegel

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

Ein umfassender Leitfaden zum Verständnis der Funktion von Gehirn und Geist

Übersetzt von Mike Kauschke


Für Alex

© 2012 Mind Your Brain, Inc.

© 2014 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH Freiburg by arrangement with W.W. Norton & Company, Inc., New York Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

Pocket Guide to Interpersonal Neurobiology. An Integrative Handbook of the Mind

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

1. Auflage 2020

Lektorat: Anne Nordmann, Georg Hehn

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book 978-3-86781-337-2

Inhalt

Reflexionen und Danksagungen

Einleitung

1 Geist

2 Beziehungen

3 Gehirn und Körper

4 Das Dreieck des Wohlbefindens

5 Gewahrsein

6 Achtsames Gewahrsein

7 Aufmerksamkeit

8 Neuroplastizität

9 SNAG: „Neuronen, die zusammen aktiviert sind, vernetzen sich“

10 Das Gehirn in der Handfläche

11 Rückenmark und Lamina I

12 Hirnstamm

13 Der limbische Bereich

14 Cortex

15 Das Gehirn als System

16 Integration

17 Kreativität, Gesundheit und der Fluss der Integration

18 Beziehungen und integrative Kommunikation

19 Die Neurobiologie des Wir

20 Bindung

21 Die Bindungskategorien

22 Mindsight

23 Einstimmung

24 Wiederverbindung nach einem Bruch

25 Einkehrzeit und Übungen des achtsamen Gewahrseins

26 Das Bewusstseinsrad

27 Die mittleren präfrontalen Funktionen

28 Energie- und Informationsfluss

29 Die Möglichkeitsebene

30 Erinnerung

31 Narrative

32 Emotion

33 Toleranzfenster und Reaktionsflexibilität

34 Interpersonelle Einstimmung formt die Selbstregulation

35 Geisteszustände

36 Mentale Prozesse: Modi und Stimmungen, Aktivitäten und Repräsentationen

37 Mentales Wohlbefinden und das Menü des gesunden Geistes

38 Ungesund-Sein und Krankheit

39 Trauma und Heilung verstehen

40 Die Bedeutung des Wohlbefindens

41 Integrationsbereiche

42 Vom Ich zum Wir: Synapse, Gesellschaft und erweitertes Selbst

43 Innere Bildung

Abbildungen

Kommentierter Index

Knotenpunkt-Netzwerk

Zum Autor

Reflexionen und Danksagungen

Vielen Dank, dass Sie mich auf dieser Reise in die Natur des Geistes begleiten! Die Zusammenstellung der Beiträge dieses Handbuchs, die das Wissen zum Ausdruck bringen, das der Interpersonellen Neurobiologie zugrunde liegt, war eine aufregende Herausforderung. Ich hoffe, dass Ihnen diese Erforschung von Geist, Gehirn und Beziehungen in Ihrem beruflichen und persönlichen Leben von Nutzen sein wird. Es ist zutiefst erfüllend, Mitbegründer und Teil einer Gemeinschaft von Menschen zu sein, die Integration und Wohlbefinden in unserer Welt fördern wollen. Ob wir uns persönlich bei unseren monatlichen Seminaren oder auf der jährlichen Konferenz für Interpersonelle Neurobiologie (IPNB) an der University of California in Los Angeles (UCLA) treffen oder ob wir online in unserer globalen Mindsight-Gemeinschaft verbunden sind –, Teil dieser Arbeit zu sein, deren Anliegen es ist, mehr Mitgefühl und Güte in die Welt zu bringen, ist ein großes Privileg.

In den letzten zwei Jahrzehnten hatte ich das Glück, den wunderbaren Dialog fördern zu dürfen, durch den eine gemeinsame Grundlage für eine tiefe und respektvolle Begegnung von Wissenschaft und Subjektivität geschaffen wurde. Unsere interdisziplinäre Gemeinschaft wächst weiter, und ich bin vielen Menschen sehr dankbar, dass sie Teil dieses neu entstehenden innovativen Ansatzes des Verstehens des Geistes und der Förderung mentaler Gesundheit in der Welt sind.

Das Mindsight Institute bietet der Interpersonellen Neurobiologie ein wunderbares Zuhause, einen Ort, wo sie wachsen und sich entwickeln konnte. Caroline Welch nimmt in unserer Arbeit eine wichtige Stellung ein, sie hat das Institut so organisiert, dass es eine neue Ebene des Einflusses in der Welt erreichen konnte. Eric Bergemann, Tina Bryson, Erica Ellis und Aubrey Siegel, allesamt Fachleute im Bereich der mentalen Gesundheit, arbeiten seit der Entstehung des Instituts darin mit. Stephanie Hamilton und Whitney Stambler unterstützen regelmäßig unsere vielen Programme, die in der Nähe und weltweit stattfinden. Die vielen Mitglieder der Global Association for Interpersonal Neurobiology Studies (MindGAINS.org) sind eine ständige Quelle der Inspiration und Ermutigung. Bonnie Goldstein und Marion Solomon vom Lifespan Institute waren eine unschätzbare Unterstützung bei der Entwicklung der jährlichen Interpersonal Neurobiology Conference, die in Zusammenarbeit mit der UCLA veranstaltet wird. Deborah Malmud, die Vizepräsidentin und Leiterin von Norton Professional Books, war mir eine große Hilfe beim Aufbau der Buchreihe Norton Series on Interpersonal Neurobiology. Sie weiß viel darüber, was das Forschungsfeld der mentalen Gesundheit weiterbringen kann. Es war mir eine Freude und Ehre gleichermaßen, für die Entwicklung dieser Buchreihe während des letzten Jahrzehnts mit ihr zusammenzuarbeiten. Vanni Kannan, der stellvertretende Leiter des Lektorats bei Norton Professional Books, war ebenfalls eine große Unterstützung. Ich möchte zudem Allan Schore danken, der in den letzten Jahren als Lektor an dieser Buchreihe mitgewirkt hat.

Während der Entstehung dieses Buchs haben Lee Freedman, Laura Hubber, Lynn Kutler, Sally Maslansky, Adit Shah, Aubrey Siegel und Caroline Welch unschätzbare Anmerkungen zum Manuskript gegeben. Die Autoren der Buchreihe Norton Interpersonal Neurobiology Bonnie Badenoch, Lou Cozolino, Pat Ogden, Steve Porges und Ed Tronick waren so freundlich, sich die Zeit zu nehmen, um den kommentierten Index durchzusehen und mir hilfreiche Vorschläge zu unterbreiten. Ich danke jedem einzelnen von ihnen für seine Hingabe an diese Arbeit und für diese ungewöhnliche Art und Weise, wie wir in unserem Forschungsfeld Wissen vermitteln. Die wunderbaren Zeichnungen in diesem Buch schließlich sind das Ergebnis der gemeinsamen künstlerischen Arbeit von David G. Moore (die Zeichnungen des Hand-Modells und des Gehirns in den Abbildungen D-1, 2 und 3) und Madeleine W. Siegel, alias MAWS, und ihres Unternehmens.

Der Ansatz dieses Leitfadens besteht darin, auf nicht-lineare Weise ein umfassendes Handbuch über den Geist zusammenzustellen, damit Sie als Leser diese „Wissenssphäre“ zu ihrer eigenen machen können. Die in diesem Buch enthaltenen Diskussionen der Konzepte und wissenschaftlichen Prinzipien, der Forschungsergebnisse und Tatsachen waren nur durch die harte und sorgfältige Arbeit eines großen Spektrums von Forschern aus über einem Dutzend von Wissenschaftsdisziplinen möglich. Wie in der Einleitung beschrieben, können die Hinweise auf tausende von Studien in den vielen anderen Büchern aus der Reihe Norton Interpersonal Neurobiology und in der zweiten Auflage von The Developing Mind (in deutscher Übersetzung erschienen als Wie wir werden, die wir sind) gefunden werden.

Hier möchte ich auch die Beiträge der Wissenschaftler würdigen, auf deren Schultern wir in der Interpersonellen Neurobiologie stehen. Ihre Arbeit schafft die Grundlagen für uns, um eine interdisziplinäre Sicht des Geistes, des Gehirns und der Beziehungen zu entwickeln. Dadurch können wir versuchen, neue Wege zu finden, um den Geist zu definieren und mehr Wohlbefinden in die Welt zu bringen. Die Entdeckung universeller Prinzipien, übergreifend über viele Wissenschaftsbereiche, ist eine spannende Herausforderung im Kern dieses Ansatzes. Dabei können wir die Übereinstimmungen entdecken, die entstehen, wenn normalerweise unabhängige Forschungsgebiete zusammen untersucht werden. Ich hoffe, Sie werden zu dem Schluss kommen, dass diese Anstrengung Früchte getragen hat. Auch hoffe ich, dass Sie und all die anderen Menschen in den vielen Bereichen Ihres Lebens von unseren gemeinsamen Anstrengungen profitieren werden.

Einleitung

„Wenn wir reisen, sind wir alle Fremde. Ob wir in ein anderes Land reisen oder unsere eigene Stadt oder unser eigenes Land erforschen, oft kommen wir in Gebiete, die so unbekannt sind, dass unser Bezugsrahmen nicht mehr angemessen ist. Wir brauchen Orientierung. Nicht nur um Angriffe und Gefahren zu vermeiden, sondern auch, um unsere Erfahrungen reicher, tiefer und freudvoller zu machen.“ So beginnt das Vorwort von Travellers’ Tales, das ich in einem alten Buchladen am Ufer der Seine in den Händen halte. Ich war in Paris, auf der Suche nach einem Ort in Frankreich für einen Think Tank, den wir für eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern aus Asien, Europa und den USA veranstalten wollten. In dem Think Tank sollte es um die Erforschung des Geistes und der mentalen Gesundheit gehen. In diesem Laden, dem ältesten englischen Buchladen in dieser pulsierenden Hauptstadt, bereitete ich mich darauf vor, für Sie ein Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie zu schreiben (ein Forschungsgebiet, das wir manchmal mit den Buchstaben IPNB abkürzen).

 

Ich war auf einer vierwöchigen Reise, die mich von Kalifornien aus ostwärts geführt hatte. Unterwegs hatte ich in Colorado und New York gelehrt, mich in Paris mit einem Philosophen/Physiker/Arzt getroffen und dabei nach einem zentralen, gut erreichbaren Ort, an dem sich Wissenschaftler aus aller Welt treffen können, gesucht. Inmitten all dessen fand ich nun das Buch Travellers’ Tales von O’Reilly, Habegger und O’Reilly, das in einer Perspektive geschrieben ist, die wir alle einnehmen sollten – etwa während unserer Reise mehr „Spaß“ zu haben:

„Es gibt vielleicht keine Stadt, die erhebender auf den menschlichen Geist wirkt [als Paris]. Dieser Ort ermöglicht es Ihnen, die Dimensionen Ihres Selbst oder die Dimensionen eines geliebten Menschen zu erfahren – ein Ort zum gehen und reden, an dem man über das Leben diskutieren und die Ereignisse der menschlichen Geschichte kontemplieren kann, die sich auf diesen Straßen, an den Ufern dieses Flusses, ereignet haben.

So sehr die Stadt des Lichtes auch von Tradition und Kultur geprägt sein mag, so hat sie doch Millionen von Menschen das Geschenk der strahlenden Gegenwärtigkeit gemacht. Eine Erfahrung oder einen Moment, in dem alles Leben verdichtet ist, über den man noch Jahre danach nachdenken wird. Paris ist ein Ort, an dem wir uns besonders lebendig fühlen, und die Stadt ist hier und jetzt für Sie da. Sie wartet darauf, dass Sie ihre Schätze entdecken und sie zu Ihren eigenen machen.“1

So lassen Sie uns unsere Reise in die Interpersonelle Neurobiologie in dieser Stadt beginnen … Ich hoffe, wir werden auf eine Weise reisen, die für den Geist erhebend sein wird, während Sie dazu eingeladen sind, sich selbst und andere besser zu verstehen. Wir werden die weitreichenden Erkenntnisse vieler Forschungsgebiete erläutern, die versuchen, die Natur der inneren und äußeren Wirklichkeiten zu verstehen. Zugleich werden wir tief in die Einsichten des gegenwärtigen Moments eintauchen.

Ein kurzer historischer und konzeptueller Hintergrund

Viele Forschungsgebiete haben die Natur des mentalen Lebens untersucht – von der Psychologie bis zur Philosophie, von der Literatur bis zur Linguistik. Nie aber wurde ein gemeinsamer Rahmen geschaffen, in dem all diese wichtigen Perspektiven wertgeschätzt und integriert werden können, ein Rahmen, in dem Menschen auf der Suche nach kollektiver Weisheit Antworten auf die Grundfragen des Lebens finden können. Diese Suche hat unsere Spezies jahrhundertelang umgetrieben. Was ist der Sinn des Lebens? Warum sind wir hier? Warum wissen wir überhaupt etwas? Warum können wir uns unserer selbst bewusst sein? Was ist ein Gedanke oder ein Gefühl? Was ist der Geist? Was macht den Geist gesund oder krank? Und in unserer modernen Welt können wir sogar fragen: Was ist die Verbindung zwischen dem Geist, dem Gehirn und unseren Beziehungen, die wir miteinander und mit diesem Planeten teilen, auf dem wir alle leben?

Als Schüler in der Highschool und später als Student am College haben mich diese menschlichen Grundfragen sehr fasziniert. Tagsüber studierte ich Biochemie und erforschte den Stoffwechsel der Fische und abends arbeitete ich bei einer Notfallhotline für Selbstmordgefährdete. Schon damals hatte ich die Sehnsucht, einen Weg zu finden, um die Kraft der objektiven Wissenschaft mit der zentralen Bedeutung unseres subjektiven inneren Lebens zu verbinden. Im Labor untersuchte ich die Moleküle, die es Lachsen ermöglichen, sich sicher vom Frischwasser ins Salzwasser zu begeben. Konnte dieses Phänomen mit der ebenso wichtigen Tatsache in Verbindung stehen, dass die Art und Weise, wie wir in einer Krise mit einem anderen Menschen kommunizieren, Leben oder Tod bedeuten kann? Meine ärztliche Ausbildung hatte ich mit der Neugier begonnen, die wechselseitigen Verbindungen zwischen der Wissenschaft und der Subjektivität zu erforschen – die verschiedenen Wege, wie wir die Wirklichkeiten unseres Lebens erkennen können. Dabei stellte ich fest, dass die verschiedenen Teilbereiche der Medizin, die bestimmte Systeme des Körpers untersuchen, nicht gut miteinander kommunizierten. Eine Internistin konnte beispielsweise die Organe des Körpers sehr genau kennen, doch sie kommunizierte nicht gut mit dem Chirurgen, der einem Eingriff an ihrem Patienten vornehmen sollte. Ein Kinderarzt konnte einem Kind helfen, aber ihm wurde nicht beigebracht, auf welche Weise die psychische Erkrankung eines Elternteiles die Entwicklung des Kindes negativ beeinflusst haben könnte. Auch während meines eigenen Studiums behandelten viele unsere ansonsten guten Lehrer ihre Patienten so, als ob sie kein Zentrum der inneren Erfahrung hätten – keinen subjektiven inneren Kern, den wir unser mentales oder psychisches Leben nennen können. Es war so, als wären wir nur ein Gefäß, das chemische Substanzen und Körperorgane enthält, aber ohne ein Selbst, ohne einen Geist ist. Ich ließ mein Studium ruhen und verbrachte ein Jahr mit Reisen und einer inneren Suche. Als ich mich dann entschloss, meine medizinische Ausbildung fortzusetzen, dachte ich zum ersten Mal darüber nach, mich der Psychiatrie zu widmen.

Damals, in den frühen 1980er Jahren, befand sich der Bereich der Medizin, der sich mit psychischen Krankheiten befasste, im Krieg mit sich selbst. Aufgrund der historisch begründeten Unstimmigkeiten zwischen den Allgemeinärzten, den Psychiatern, die vor allem mit Medikamenten behandelten, und den Psychoanalytikern, stand das ganze Forschungsgebiet unter starker Spannung. Als Student lernte ich diese verschiedenen Lager kennen und war erstaunt, wie wenig Zusammenarbeit oder Respekt es zwischen ihnen gab. Ich wählte dann stattdessen die Kinderheilkunde als Spezialgebiet, musste aber schnell feststellen, dass meine Begeisterung für Themen, die sich auf das Leben des Geistes bezogen, ungebrochen war, und begann daher schließlich – trotz der vielen Spannungen und Unstimmigkeiten, die in diesem Forschungsgebiet herrschten, – mit der Ausbildung zum Psychiater. Zum Ende meiner klinischen Ausbildung – erst in der Behandlung von Erwachsenen und später auch in der von Kindern und Jugendlichen – war ich unzufrieden über das, was ich lernte – oder genauer gesagt, über das, was ich nicht lernte. Ich hatte das Gefühl, dass wir die Diagnose und Behandlung von Störungen beigebracht bekamen, aber dass wenig darüber gesprochen wurde, was Gesundheit schafft oder was Gesundheit eigentlich ist. Das war damals der allgemeine Stand der Ausbildung, nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch in den anderen Fachbereichen der Psychologie und mentalen Gesundheit.

Um mehr über gesunde Entwicklung zu lernen, bewarb ich mich um ein Forschungsstipendium beim National Institute of Mental Health, wo ich die Natur des Narrativs, der Erinnerung und der Kommunikation in Familien untersuchte. Ich wollte herausfinden, ob es eine Möglichkeit gab, die Zusammenarbeit und Synthese zwischen einer großen Breite von Wissensansätzen über unser Menschsein zu unterstützen und sich dem anzunähern, was Menschsein eigentlich bedeutet.

Damals, in den frühen 1990er, verstärkte die Forschung im Bereich der Psychiatrie ihren Fokus auf die „biologische Grundlage“ psychiatrischer Störungen wie Schizophrenie und manisch-depressiver Störung. Dies wurde möglich durch die neuen Erkenntnisse in Bezug auf Korrelationen zwischen atypischen Hirnfunktionen und mentalen Störungen. Es waren wichtige Anstrengungen, um Erkrankungen mit effektiven Behandlungsmethoden, wie dem Einsatz von Medikamenten, zu lindern. Die farbigen Hirnscans, die durch neue technologische Entwicklungen wie die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder die funktionale Magnetresonanztomographie (fMRI) möglich wurden, waren ein faszinierender Anblick. Doch schon damals war es wichtig, nicht zu vergessen, dass diese kraftvollen Einsichten in ihrem nuancierten Kontext betrachtet werden müssen – und das ist auch heute noch der Fall. Veränderungen der Blutverteilung im Gehirn – oder metabolische Veränderungen, die mit diesen Veränderungen einhergehen – können gemessen werden. Als Wissenschaftler sind wir von numerischen Messgrößen abhängig, um unser Interessengebiet zu erforschen. Aber Aussagen, dass wir durch diese Scans dem Geist bei der Arbeit zusehen könnten, sind wohl eine enthusiastische Übertreibung. Ist denn die Veränderung des Blutzuflusses wirklich eine Messgröße des Geistes? Was genau ist der Geist? Ist der Geist nichts weiter als die Aktivität des Gehirns?

Nach meinen Vorträgen werde ich oft von Wissenschaftler angesprochen, die mir erklären, dass die Antwort auf die letzte Frage ganz klar „Ja“ laute und dass alles andere „die Wissenschaft rückgängig mache“. Aber ich erwidere diesen Wissenschaftlern immer wieder, dass die Antwort komplexer ist als die einfache Aussage „der Geist entspricht der Hirnaktivität“ – und diese Aussage möchte ich hier auch mit Ihnen untersuchen. Wie wir sehen werden, hält eine unvoreingenommene Herangehensweise an diese grundlegende Frage einige wirkungsvolle Einsichten in die innere Natur der subjektiven Erfahrung bereit. Die Antworten auf diese eine Frage – Was ist der Geist? – führen zu heftigeren Diskussionen als jede andere Frage, der ich nachgegangen bin. Der „integrative“ Teil des vorliegenden Buches bezieht sich auf die vielen Ebenen von differenzierten Elementen, die miteinander verbunden sind: Wir werden eine ganze Reihe von unterschiedlichen Wissenschaften in einem Bezugsrahmen zusammenbringen. Wir werden nichtwissenschaftliche Untersuchungen der Realität, die auf der direkten Erfahrung beruhen, mit unseren Ausführungen über die Wissenschaft verbinden. Und wir werden sogar die Möglichkeiten untersuchen, wie Sie als Leser ein „umfassender integriertes“ mentales Lebens für sich selbst und andere schaffen können. Daher die vielen Bedeutungsebenen dieses „integrativen Leitfadens“.

Ich lade Sie ein, vollkommen präsent zu sein, wenn Sie sich in dieses Buch vertiefen. Ich werde auch hier sein, wir werden uns also zusammen auf eine Reise begeben. Eventuell werden sich am Ende mehr Fragen ergeben haben, als wir konkrete, endgültige Antworten geben konnten, aber vielleicht ist genau das die Natur des Geistes: die Schaffung von Möglichkeit, statt der Konstruktion von Begrenzung. In einer unvoreingenommenen Betrachtung der Tatsachen werden wir möglicherweise genau zu dieser Erkenntnis kommen.

Nun möchte ich aber zu unserer Hintergrundgeschichte zurückkehren. Als ich gebeten wurde, zum Beginn des Jahrzehnts des Gehirns das Ausbildungsprogramm in der Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie am UCLA zu leiten, lud ich etwa vierzig Wissenschaftler aus über einem Dutzend verschiedener akademischer Abteilungen in eine Studiengruppe ein, in der wir uns einer einfachen Frage widmeten: Was ist die Verbindung zwischen dem Geist und dem Gehirn? In dieser Gruppe gab es Wissenschaftler aus folgenden Disziplinen: Anthropologie, Molekularbiologie, Kognitionswissenschaft, Pädagogik, Genetik, Linguistik, Neurowissenschaft, Neurochirurgie, Physik, Psychologie, Psychiatrie, Mathematik, Computerwissenschaft und Soziologie. Es war eine Zusammenkunft von Professoren, Studenten, Klinikern und Forschern. Als Moderator der Gruppe fand ich die ersten Treffen der Gruppe faszinierend, sie bereiteten mir aber auch Kopfzerbrechen, weil die Gruppe keinen Konsens darüber finden konnte, was der Geist ist. Das Gehirn war der einfache Teil unserer Frage: Es ist ein Organ des Körpers, das über das erweiterte Nervensystem, das sich vom Kopf bis zu den Füßen erstreckt, auf komplizierte Weise mit dem ganzen Körper verbunden ist. Immer, wenn wir in diesem Buch über das „Gehirn“ sprechen, meinen wir genau genommen das weit verteilte Netz von Neuronen, das wir als „Nervensystem“ bezeichnen.

Aber was ist der Geist? Jede der verschiedenen Disziplinen hatte eine ganze Reihe von Erklärungen, um diesen wichtigen Teil des menschlichen Lebens in Worte zu fassen. Ein Anthropologe sagte, dass der Geist dasjenige sei, was über Generationen hinweg geteilt wird. Ein Neurowissenschaftler erklärte, dass der Geist einfach die Aktivität des Gehirns sei. Ein Psychologe war der Ansicht, dass der Geist aus Gedanken und Gefühlen bestehe und sowohl unser Bewusstsein und die subjektive Natur unseres inneren Lebens umfasst, als auch die Ausdrucksformen des Geistes, die sich in unserem Verhalten zeigen. Derartige Beschreibungen ermöglichten es diesen ernsthaften und sorgfältigen Forschern, die Arbeit in ihren eigenen Disziplinen weiterzuführen. Aber sie halfen uns nicht dabei, in unserer interdisziplinären Gruppe eine gemeinsame Grundlage zu finden. Viele Bücher, die das Wort „Geist“ im Titel haben, beschreiben den Geist (Gedanken und Gefühle, ein „Selbst-Konzept“, ein „undeutlicher Begriff“ usw.) aber sie definieren nicht, was der Geist oder auch nur ein Teil des Geistes in Wirklichkeit „ist“. In unserer Gruppe schaukelte sich dieses Fehlen einer Definition zu einer so destruktiven Spannung zwischen den verschiedenen Mitgliedern auf, dass ich schon befürchtete, die Gruppe würde sich nach nur wenigen Treffen wieder auflösen.

 

In Zeiten, in denen uns derlei Sorgen umtreiben, können Gewässer eine beruhigende Quelle der Inspiration sein. Deshalb machte ich einen Spaziergang am Meer (so wie ich an der Seine in Paris entlanggelaufen war, als ich mich darauf vorbereitete, dieses Handbuch zu schreiben), und dabei kam mir der Gedanke, dass diese verschiedenen Beschreibungen der Natur des Geistes eine gemeinsame Grundlage finden könnten, wenn wir zumindest eine Arbeitsdefinition des Geistes hätten. Ich lege nicht allzu viel Wert auf Definitionen, aber manchmal kann uns die genaue Klärung eines Begriffes dazu inspirieren, tiefere und universell gültige Bedeutungen zu finden, die in den verschiedenen Beschreibungen verborgen sind. Am Ufer des Pazifiks beobachtete ich, wie die Wellen auf dem Sandstrand heranrollten und sich wieder zurückzogen. Da kam mir die Idee, dass jede der verschiedenen Disziplinen in ihrer Beschreibung den Fluss von etwas durch die Zeit hindurch meint. Der Aspekt der Wirklichkeit, der sich im Laufe der Zeit verändert, ist der Fluss eines wichtigen Bereiches unseres Lebens: Energie.

Obwohl auch Physiker uneins darüber sind, was Energie ist, scheint es doch einen Konsens darüber zu geben, dass „Energie die Fähigkeit ist, etwas zu tun“. Energie zeigt sich in verschiedenen Formen, zum Beispiel Lichtenergie, Elektrizität, Bewegungsenergie, Hitze und im Falle der neuronalen Aktivierung als elektrochemische Kraft. Wenn wir versuchen, uns den Energiefluss vorzustellen, dann ist es vielleicht hilfreich, wenn wir mit dem Bild der Elektrizität beginnen, in dem sich Elektronen entlang eines Drahtes bewegen. Aber ein Energiefluss zeigt sich auch, wenn Hitze von einem Objekt auf ein anderes übertragen wird. Oder Klangwellen bewegen sich durch die Luft, und eine Stimme, die hier spricht, erreicht das Ohr eines Menschen dort drüben. Energie ist auch im Spiel, wenn die Photonen, die von diesen geschriebenen Symbolen namens Worte abprallen, in Ihre Augen gelangen. Energie ist ein realer Aspekt der physischen Welt, in der wir leben.

Doch obwohl wir in unserem mentalen Leben viele Energieflüsse finden, ist der Geist mehr als ein Überträger von Energie, der mit einem elektrischen Draht vergleichbar wäre. Von Natur aus ist das subjektive innere Leben, das wir als unsere „mentale Welt“ bezeichnen, voll von vielen wunderbaren und auch erschreckenden Dingen: Wir können Gefühle der Ekstase, der Freude, des Enthusiasmus, der Erfüllung, des Stolzes, des Glücks und der Klarheit erfahren. Zudem können wir die subjektive Erfahrung von Trauer, Verlust, Angst, Wut, Bedrohung und Schrecken machen. Erinnerungen an freudvolle Momente oder furchterregende Geschehnisse aus der Vergangenheit können vor unserem geistigen Auge als Bilder wieder aufleben. Und durch unsere Vorstellungskraft können wir sogar gänzlich neue Bilder erschaffen. Wie wir wissen, ist unser mentales Leben voll von inneren Erfahrungen wie Gefühlen, Gedanken, Bildern, Erinnerungen, Hoffnungen, Meinungen, Absichten, Überzeugungen und Träumen. Diese und viele andere Prozesse sind die Aktivitäten des Geistes. Zudem erleben wir die Erfahrung des Wissens, die subjektive Wahrnehmung, uns dieser verschiedenen Aktivitäten des Geistes bewusst zu sein, von den Körperempfindungen bis hin zu den Konzepten. Aber was sind diese Prozesse wirklich? Was ist die Erfahrung des Wissens innerhalb des Gewahrseins? Gibt es jenseits von Beschreibungen der Natur der subjektiven Erfahrung und des Bewusstseins auch eine Möglichkeit, um zu definieren, was der „Geist“ wirklich ist?

Eine philosophische und wissenschaftliche Haltung dazu, die oft eingenommen wird, lautet, dass wir es einfach nicht wirklich wissen. Es gäbe noch so viel, das es herauszufinden gelte, sagen uns richtigerweise viele Akademiker, dass es besser sei, wenn wir uns nicht durch die Grenzen einer Definition einschränkten. Wir könnten auch der Haltung folgen, die viele Vertreter der wichtigen Disziplinen vertreten, die besagt, dass der Geist überhaupt nicht definiert werden sollte. Der Geist wird dort praktisch als Synonym für das Unbekannte gebraucht – ein Begriff, der etwas bezeichnet, das wir noch nicht verstehen und vielleicht auch nie vollkommen verstehen werden. Vielleicht ist das der Grund, warum so viele Forschungsfelder, die sich mit dem „Geist“ beschäftigen, ihn nicht definieren. Einige Philosophen haben zu mir gesagt, wir würden unser Verständnis dieser wichtigen Dimension des Menschseins begrenzen, wenn wir den Schritt zu einer Definition des Geistes gingen. „Tun Sie es nicht“, rieten sie mir. Und einige Wissenschaftler meinen, dass es nicht einmal möglich wäre, weil wir nicht wissen, was genau der Geist eigentlich ist.

Doch als Lehrer, die in unseren Schülern einen starken und resilienten Geist heranbilden wollen, tappen wir im Dunkeln, wenn wir den Begrifft „Geist“ nicht definieren. Als Eltern sind wir ohne eine Arbeitsdefinition des Geistes als Ausgangspunkt sehr beschränkt, wenn wir uns bemühen, unsere Kinder in der Entwicklung eines gesunden und flexiblen Geistes zu unterstützen. Und für diejenigen von uns, die als Psychologen und Psychiater arbeiten – als Therapeuten des Geistes –, stellt sich noch eine weitere Frage: Können wir überhaupt berechtigterweise sagen, dass es in unserem Forschungsgebiet um den gesunden Geist geht, wenn wir uns noch nicht einmal bemüht haben, eine Arbeitsdefinition davon zu finden, was das eigentlich bedeutet? Das schien mir nicht ganz stimmig zu sein. In diesem Buch werden wir untersuchen, was vielleicht getan werden kann, um der klinischen Arbeit, der Organisationsberatung, der Praxis der Reflexion, der Pädagogik, der Kindererziehung und anderen Bereichen, in denen es um die Kultivierung eines gesunden Geistes geht, einen Ausgangspunkt zu geben.

Seinerzeit am Strand des Pazifiks hatte ich den Eindruck, dass das Fehlen einer klaren Definition (und sei es nur eine Arbeitsdefinition) des Geistes den Zusammenhalt und Erfolg unserer interdisziplinären Gruppe bedrohte. Das Ringen um einen Ausgangspunkt, wodurch eine „Arbeitsdefinition“ entstehen konnte, die mit dem übereinstimmte, was die Teilnehmer als ihren Fokus auf bestimmte mentale Funktionen beschrieben, schien wichtig, um unsere Diskussionen fruchtbar zu machen.

Wenn man darüber nachdachte, was jede der verschiedenen Disziplinen als mentales Leben beschrieb, schien der Geist etwas mit der Regulierung eines Flusses zu tun zu haben, der nicht nur aus Energie besteht, sondern aus bestimmten Mustern von Energieflüssen, die wir als „Information“ bezeichnen. Eine Information steht für etwas anderes als sich selbst. Eine Information ist ein symbolisches Energieflussmuster, ein Muster, das etwas bedeutet. Wenn ich zum Beispiel „Eiffelturm“ schreibe, dann sehen Sie vermutlich vor Ihrem geistigen Auge (was immer das sein mag) ein Bild der Eisenkonstruktion in Paris. Diese Formen des geschriebenen Wortes oder die Klänge des gesprochenen Wortes sind nicht der Turm selbst – sie stehen für den Turm. Der Turm wiederum ist der Turm selbst. Symbole des Turmes können in Ihrem, nun ja, Geist als Information existieren – in Ihrer subjektiven Erfahrung in diesem Moment. Sie stehen möglicherweise nicht nur für die architektonische Struktur, sondern vielleicht auch für Ihre erste Reise nach Paris, als Sie verliebt waren, sich unabhängig fühlten oder Heimweh hatten. Für mich war es der Moment in einer Beziehung zu einem Freund, in dem wir beide einige Meinungsverschiedenheiten zu klären hatten, weil wir uns uneins waren, wohin wir auf unserer Reise durch Europa als nächstes fahren sollten. Dennoch ist der Turm selbst immer noch der Turm. Ich schaue den Fluss entlang und kann ihn sehen, aber meine Wahrnehmung des Turmes ist nicht der Turm selbst. Und die Information des Turmes kann für jeden von uns ziemlich unterschiedlich sein. Unser Geist ist voller Informationen – symbolischer Bedeutungen, die aus Energieflussmustern entstehen, die für viele damit verbundene Dinge stehen. In der Tat ruft die Information selbst, wie wir noch sehen werden, einen Fluss vieler weiterer Informationen hervor. In uns entstehen so Kaskaden von Bedeutung, die jeden von uns einzigartig machen und jeden Moment zu einer einmaligen Erfahrung werden lassen.