13zehn

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Dann steht sie vor ihm. Greta. Ihr Fleisch hängt in Streifen von ihren blanken Gebeinen. Es stinkt bestialisch. Dort, wo ihre Augen saßen, steigt Rauch aus Löchern auf. Er spürt ihre knöchernen Finger, die ihm zärtlich durchs Gesicht streichen. Sie lächelt ihn lippenlos an. Die Glieder erreichen den Hals, schließen sich fest um seine Kehle. Tausende Gedanken, nur Streiflichter.

„Schwiegermuttergift“, faucht sie ihm entgegen.

Dann wacht er auf.

23

Dem Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel wird ein Zitat zugeschrieben, in dem es heißt, Träume zeigten, dass wir nicht so fest in unserer Haut eingeschlossen seien, wie es scheine.

Träume sind eine Schwelle, ein Schritt in eine parallele Welt, in der wir zu allem mutieren können, was außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt. Aber in den dunklen Winkeln der Träume lauern die Ängste des Alltags, die Erfahrungen, der Schmerz, die Hiebe der Zeit. Sie zersetzen die Suggestion und spiegeln die Wahrheit in düsteren Fabeln. Wenn wir unsere Träume verlieren, verlieren wir die Macht über unser Leben.

Heiko ruht im Bett, spürt seinen Herzschlag. Horcht hin, schließt die Augen. Stille liegt über dem Haus, die Nacht schmiegt sich an die Fensterscheiben. Er fragt sich, wann er das letzte Mal nervös gewesen ist, um nicht der Frage nachgehen zu müssen, warum er sonst nichts mehr fühlt. Heiko steht an der Schwelle, endlich so wahrgenommen zu werden, wie er es sich immer gewünscht hat. Ansehen. Ruhm. Erinnerung. Im Endeffekt unterscheidet er sich nicht von den anderen. Ihre Ziele sind dieselben. Die Wege, die sie dafür zurücklegen müssen, ähneln sich.

Die heutigen Planungen in den Stunden haben bewiesen, dass er zu mehr im Stande ist, als man ihm weiszumachen versucht. Timing. Es kommt auf das Timing an.

Die Leuchtziffern seines Radioweckers zeigen 23:13 Uhr an. Gestern hat er sich noch gefragt, ob er schlafen können werde. Ein wichtiger Tag. Die große Prüfung.

Ein letztes Mal denkt er an Kathleen. Ihre blonden, langen Haare. Wie sie sie hinter ihr Ohr legt, dabei den Kopf leicht schiefhält und die Augen etwas zu langsam aufschlägt. Ihr Lächeln. Wie sie sich zu ihm umgedreht hat, ihm den Zettel zuschob, der alles veränderte.

18 Uhr. Ehreshoven I. Kastor.

Mit klopfendem Herzen und tiefrotem Gesicht hatte er den Zettel unter seinem Buch hervorgeschoben, ihn mit zitternden Fingern auseinandergefaltet und die Worte wiederholt gelesen. Kathleen.

Die um das Jahr 1860 erbaute Holzkonstruktion, die an acht Stahlseilen hängt, hat eine Länge von 60 Metern und verbindet die Engelskirchener Ortsteile Ehreshoven und Kastor. Die „Schwungbrücke“, wie sie von den Einheimischen genannt wird, wurde zum Wendepunkt in Heikos Leben. Versetzte es in eine eigene Form von Schwung.

Als damals gegen 18 Uhr die Schwingungen einsetzten, als Heiko die Brücke betreten hatte, war er so naiv gewesen, hatte geglaubt, sie verspäte sich nur. Kathleen.

Wenn sie sich vor ihm sitzend streckte, hob sich ihr Oberteil und vergönnte ihm einen Blick auf ihren leicht gebräunten Rücken. Das Muttermal, das knapp über ihrem Lendenwirbel saß. Den Rand des Spitzenhöschens, der unter ihrer engen Jeans hervorlugte. Jeden Abend masturbierte er, stellte sich vor, wie sie auf ihm saß, ihn ritt. Seine Hände ihre Titten kneteten, sie stöhnten, schwitzten, bis er sich in sie ergoss. Die Vorstellung ist die schönste Form der Wahrheit. Ihre Schwester, die Realität, ist ein Menschenfresser.

18 Uhr. Ehreshoven I. Kastor.

Keine Kathleen. Dafür Daren, Alex und Christian. Feist grinsend. Sie näherten sich von beiden Seiten. Die Brücke erzitterte unter ihren Schritten. Daren zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, bevor er sie in den Nebenarm der Agger schnippte.

„Heikooo.“ Sie zogen den letzten Buchstaben so unnatürlich lang, als wäre sein Name gleichzeitig eine Mitleidsbekundung. „Auf wen wartest du denn?“ Die Leere in Heikos Kopf verursachte einen trockenen Mund, der staunend offen blieb.

Darens kurzes Nicken bedeutete Christian und Alex, ihn zu packen. Er wehrte sich nicht. Wusste, dass er ihnen körperlich unterlegen war. Dann zogen sie ihn hinter sich her. Von der Brücke auf den Weg, von dort in den Wald.

„Zieh dich aus“, befahl Daren.

Nicht Kathleens Finger fummelten nervös an seinem Hosenknopf, sondern die eigenen. Heiko nestelte umständlich daran herum.

„Na, wird das heute noch was?“ Während Daren selbstsicher vor ihm stand, kicherten Alex und Christian fahrig auf. Die zwei wirkten wie Beavis und Butt-Head. Nur trugen sie keine Metalshirts. Hektisch hatte Heiko sich umgesehen, abgewogen, wie weit er kommen würde, wenn er einfach loslief.

„Runter damit!“ Daren steckte sich eine neue Kippe zwischen die Lippen, schirmte mit einer Hand die Flamme des Feuerzeuges ab. Langsam schob Heiko die Jeans nach unten, seine Beine zitterten. Genüsslich blies Daren Rauchkringel in die Luft, die langsam zerstoben.

„Die auch.“ Er zeigte auf die blaue Boxershort, die um Heikos Oberschenkel flatterte. Beavis und Butt-Head giggelten.

Nicht Kathleen saß vor ihm, zog die Short nach unten und nahm sein erigiertes Glied in eine ihrer reizenden Hände. Nein, vor ihm stand Daren, und als Heiko das Stück Stoff abstreifte, war sein Penis soweit zusammengeschrumpft, dass es wirkte, als wollte er mitsamt den Hoden in die Bauchhöhle zurückkriechen.

Daren lachte auf, hustete. Beavis und Butt-Head prusteten los.

„Da hat Kathleen aber nicht viel verpasst.“

18 Uhr. Ehreshoven I. Kastor.

Erst jetzt war ihm bewusst geworden, dass sie ihn hierher gelockt hatte.

„Hast du Wichser wirklich gedacht, die steht auf dich? Du armseliges Stück Scheiße!“

Tränen stiegen Heiko in die Augen. Aber mit großer Willenskraft unterdrückte er den Drang, einfach loszuheulen, zu betteln, dass sie ihn gehen lassen sollten.

„Weißt du, sie hat uns gesagt, dass sie es hasst, wie du sie ansiehst! Sie fühlt sich bedrängt. Holst du dir mit dem kleinen Ding da einen runter, wenn du an sie denkst? Spritzt nach ein paar Sekunden auf ein Tempo, während du dir vorstellst, wie du sie fickst?“

Heiko zitterte am ganzen Leib.

„Soll ich dir was sagen, du Loser? Du wirst sie nie ficken, niemals in deinem Leben. Und weißt du was noch? Du wirst dir auch nie mehr vorstellen, dass du es tust.“

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es den Anschein, dass auch Beavis und Butt-Head in die Pläne eingeweiht waren, aber alles, was danach geschah, schien allein auf dem kranken Mist Darens gewachsen zu sein.

„Hinlegen!“ Beavis und Butt-Head wirkten erstaunt, als Heiko auf die Knie ging und sich flach auf den Bauch legte. Die abgeworfenen Nadeln der umliegenden Bäume bohrten sich in seine Haut.

Daren bückte sich nach einem der umherliegenden Zapfen. Hob ihn lächelnd auf, warf ihn kurz nach oben, um ihn direkt wieder aufzufangen. Dann trat er an Heiko heran. Er stellte den linken Fuß auf seinen Rücken. Presste unsanft die Luft aus Heikos Lungenflügel. Bohrte die Ferse tief hinein. Er zog an seiner Zigarette, nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte sie auf Heikos linker Arschbacke aus. Heiko stöhnte auf. Beavis und Butt-Head verstummten.

„Daren?“, fragte einer der beiden unsicher.

„Halt’s Maul!“

Heiko spannte den Po an. Wimmerte.

„Entspann dich“, säuselte Daren. Dann stieß er den Zapfen in die Ritze, setzte den linken Fuß von ihm ab, um den rechten auf den Zapfen zu drücken. Heiko wehrte sich, legte alle Kraft in die Muskeln seines Pos.

„Der Einzige, der heute gefickt wird, bist du, mein Lieber …“ Die Bäume trugen viele Zapfen in diesem Jahr.

Knapp dreißig Minuten später kotzten Beavis und Butt-Head sich die Seelen aus dem Leib.

Niemandem hat er je davon erzählt. Ist die nächsten Tage aufrecht durch die Schule gelaufen, obwohl alles schmerzte. Hat nicht einmal gezuckt, wenn er sich auf seinen Stuhl gesetzt hat. Ist allein in die Apotheke gegangen und hat sich Bepanthen besorgt. Die Abschürfungen und Kratzer mithilfe eines Spiegels eingerieben. Hat Trockenpflaumen gegessen, literweise Wasser getrunken, um den Druck zu verringern.

18 Uhr. Ehreshoven I. Kastor.

Die Wunde ist verheilt. Äußerlich. Die Narben sind geblieben. Zeichen der Zeit. Hass und Wut in die Haut eingraviert.

Heiko schluckt. Würgt die Erinnerung herunter, um sie zu verdauen, umzuwandeln in die Energie, die er für morgen braucht.

24

Stephan würgt, hustet, spuckt Schleim in einen Eimer, den ihm Greta fürsorglich hinhält. Er riecht den Rauch, schmeckt den Gestank von verbranntem Fleisch.

„Du liebes bisschen, was ist denn los?“

Stephan räuspert sich, wischt sich mit dem Unterarm den Mund ab. „Ich habe einen krassen Traum gehabt.“

Greta streicht ihm über den verschwitzten Rücken. Sein dunkles Haar steht in Büscheln von seinem Kopf ab.

„Du“, er blickt Greta fest in die Augen, „du hast gebrannt!“

Greta stellt den Eimer auf dem Boden ab und sinkt in einen der Sessel. „Gebrannt? Was … warum träumst du so etwas?“

„Ich weiß es doch auch nicht! Du standest da draußen, unter dem großen Baum, in einem Nachthemd und hast meinen Namen gerufen. Plötzlich stieg Rauch aus deinem Mund und nur einen Moment später branntest du lichterloh!“

Greta starrt ihn mit offenem Mund an. „Dein Kopf … ich meine, du hast vielleicht eine Gehirnerschütterung. Du bist ziemlich hart aufgeschlagen, als du vor ein paar Stunden loswolltest.“ Sie steht auf, streckt ihre Hand nach seiner Stirn aus.

 

„Bin ich gestürzt?“, fragt Stephan verwirrt.

„Oh ja, Herzchen. Ich habe dich noch warnen wollen, wegen der Hypnose, aber du meintest ja, dass du fahren könntest. Ich habe dich direkt auf das Sofa verfrachtet, dir einen kalten Lappen auf die Stirn gelegt und dich schlafen lassen.“ Greta greift nach der Decke, die zusammengeknüllt auf dem Fußboden liegt und legt sie zusammen. „Ich dachte mir, dass der ganze Tag wohl ein wenig viel für dich gewesen sein muss.“

Stephan schluckt. „Ich glaube nicht, Greta, dass es vorbei ist.“

„Warum?“

„Dieser Traum! Das war kein normaler Albtraum. Das waren weitere Hinweise.“

Greta versteift den Rücken, sieht ihn erwartungsvoll an. „Los, ich höre zu!“

„Als ich dich brennen sah, wollte ich zu dir, dir helfen. Aber ich konnte mich nicht bewegen, ich stand wie angewurzelt im Türrahmen deiner Terrassentür.“ Stephan tigert durch den Raum, bleibt vor der Tür nach draußen stehen und sieht sein Spiegelbild in der dunklen Scheibe. Im fahlen Licht der alten Stehlampe wirkt er wie ein Geist. „Ich wollte dir helfen, dich löschen. Überall standen diese Dosen, diese Behälter.“ Aus der Dunkelheit tauchen verschwommene Erinnerungen auf.

„Was für Behälter?“

„Gestreifte Behälter. Es stand etwas drauf.“ Er kneift die Augen zusammen, versucht, sie zu schärfen.

„E605!“, platzt es aus ihm heraus.

„Was?“

„Das stand auf den Behältern! E605!“ Er dreht sich zu Greta um.

„Was soll das heißen?“, fragt sie ihn.

„Hast du einen Computer?“

25

Das Licht einer Schreibtischlampe und der Computerbildschirm erhellen das schmale Mansardenzimmer. An den Wänden hängen Stofftücher mit gedruckten Mandalas darauf. Ein Bücherregal, vollgepackt mit Werken großer Philosophen und Literaten, ragt bis unter die Decke. Stephan spürt immer mehr, dass auch die Begegnung mit Greta kein Zufall ist. Inmitten ihres liebevoll-verschrobenen Charakters, ihrer Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft fühlt er sich geborgen. Die letzten Stunden haben im zugesetzt, ihn an den Rand von Realität und Fiktion geschoben, und Greta ist in der Lage, ihn im Hier und Jetzt zu halten. Gemeinsam stehen sie gebeugt nebeneinander und starren auf den Wust an Zetteln.

Feuer. Buch. 1964. E605 – Schwiegermuttergift.

Wie Kinder, die vor einem Puzzle sitzen, überlegen beide fieberhaft, wie die Teile zusammenpassen.

„Ein Pflanzenschutzmittel“, wiederholt Greta.

„Es wird Schwiegermuttergift genannt, weil es bei zahlreichen Morden und Suiziden eingesetzt wurde“, zitiert Stephan den Artikel des Online-Lexikons.

„Es reicht trotzdem nicht aus.“ Greta scrollt mit der Maus den Artikel weiter nach unten.

„Wie meinst du das?“

„Ja, es ist toll, dass wir jetzt wissen, was sich hinter dem Wort des Toten in Nümbrecht verbirgt, aber einen Reim kann ich mir trotzdem nicht darauf machen.“

„Was steht denn dort noch?“, fragt Stephan.

„Die berühmteste Mörderin, die E605 verwendet hat, heißt Christa Lehmann. Sie hat ihren Mann damit vergiftet.“

„Hmm“, Stephan kratzt sich nachdenklich am Hinterkopf.

„War das vielleicht 1964?“

Er sieht zu, wie Greta den Mauszeiger auf den Namen der Täterin führt und einmal klickt.

„Nein. Das war 1952“, antwortet Greta.

„Verdammt!“ Krachend landet Stephans Faust auf der Schreibtischplatte. Die Zettel wirbeln durcheinander.

„Hey, was soll das?“, fährt Greta ihn an.

„Tut mir lei…“, setzt Stephan mit rotem Kopf an, doch weiter kommt er nicht. Sprachlos starrt er auf die beiden verbliebenen Zettel.

Feuer. 1964.

Mit zitternden Fingern tippt Stephan die beiden Begriffe in das kleine Fenster der Suchmaschine ein und drückt die Enter-Taste.

Lauf, Liebchen, lauf!

26

Heiko muss sich beeilen. Verschlafen. Ausgerechnet heute. Ausgerechnet an diesem wichtigen Tag. Er steigt zitternd in die Jeans, greift nach den schwarzen Bundeswehrstiefeln, die er im Keller gefunden hat. Die gehörten seinem Vater, von dem er nicht mehr weiß, als dass er die gleiche Schuhgröße hat wie er.

„Heiko? Du musst los!“, tönt es aus der Küche. Mutter. Als wenn die das interessierte, ob er zur Schule geht oder nicht. Als er damals nach Hause gekommen war, sein Arschloch wie Feuer brannte, die Augen rotgeweint, da hatte sie ihn nur kurz angesehen und lapidar gemeint: Was auch immer passiert ist, lass mich mit dem ganzen pubertären Kack in Ruhe!

„Jaja!“, ruft er nur.

Er schaut auf die Leuchtziffern seines Radioweckers. Heiko muss sich definitiv beeilen. Timing. Das ist es, worauf es ankommt. Die ganze Nacht ist er den Ablauf noch einmal durchgegangen. Jeden Schritt. Hat sich die Gesichter vorgestellt. Heute ist sein Tag. Niemand wird sich danach mehr an das Geschehen im Wald erinnern. Seine Geschichte wird neu geschrieben. Daren. Kathleen.

Er rauscht durch den Flur und reißt die Jacke von der Garderobe. Im Vorbeigehen wirft er einen Blick in die Küche, in der seine Mutter am Tisch sitzt und raucht. Sie blickt nicht auf, sieht ihm nicht nach, sagt kein Wort. Heiko wirft die Tür ins Schloss.

Jetzt nur noch am Schuppen vorbei, dann zur Schule – und dann kann es auch endlich losgehen. Timing.

Fühlte sich gestern sein Inneres an wie ein undefinierbarer, schwarzer Klumpen, so spürt er heute, wie der sich bewegt und formt.

Heute lernt ihr mich kennen.

27

Obwohl beide von der Frau und der schrecklichen Tat nie zuvor gehört haben, fühlt es sich für Stephan und Greta an, als stünde sie mit ihnen in diesem viel zu kleinen Zimmer und erzählte ihre grausame Geschichte.

Geistesgegenwärtig öffnet Greta das schmale Fenster. Kalte Luft flutet das Zimmer, Stephan zittert. In der Ferne erkennt er erste Sonnenstrahlen, die sich aufmachen, den Horizont zu erklimmen.

Böses kann überall passieren.

Er schafft es nicht, seine Augen von dem Artikel zu lösen, den die Suchmaschine nach der Eingabe als Erstes anzeigte.

„Das ist es also?“, fragt Greta. Ihre Stimme klingt belegt. Es scheint, als wäre sie in den letzten Minuten um Jahre gealtert. Mit gesenkten Schultern steht sie inmitten des kleinen Raums, und Stephan spürt die Sorge. Die Sorge, Greta in etwas hineingezogen zu haben, das so groß geworden ist, dass es mehr von ihnen verlangt. Ein Opfer. Hastig verdrängt er die Erinnerung an ihre brennende Gestalt aus seinem Kopf.

„Es passt alles zusammen.“ Stephan ordnet die kleinen, handbeschriebenen Zettel neu an. Sie ergeben ein erbarmungsloses Bild.

1964

Er tippt auf den ersten Zettel.

„Vor 45 Jahren, um zehn Minuten nach neun“, beginnt Stephan, als wollte er von einem düsteren Märchen der Gebrüder Grimm erzählen. Sein Finger fährt zum nächsten Zettel.

Buch

Er nimmt den Stift und kritzelt das Wort Amoklauf darunter. „Der Tag des ersten Amoklaufs der deutschen Geschichte.“ Stephan erinnert sich an die Worte des vermeintlichen Bruders von Carola Herzog. In 19 Minuten kann viel passieren. Ein Amoklauf.

Feuer

Er schluckt, als er sich daran erinnert, dass die Kinder in Volkhoven damals geglaubt hatten, die Mitschüler spielten ein Indianerspiel auf dem Schulhof. Viel zu spät erkannten sie, dass es sich um keine Federn handelte, die die Haare der Mädchen und Jungen schmückten. Es waren die Flammen.

„Er hat sie angezündet. Einfach so“, sagt er tonlos.

E605 – Schwiegermuttergift

„Das hat der Feigling geschluckt.“ Gretas Worte klingen verächtlich, als sie den kleinen Zettel in die Hand nimmt. Stephan schaut sie an, erkennt die aufkeimende Wut in ihr.

„Es wird wieder passieren“, flüstert er. Er greift nach Gretas Arm. „Das ist es! Das ist das, was dieser ganze Scheiß bedeuten soll!“

„Aber was hast du mit Volkhoven zu tun? Wo soll das überhaupt sein?“

Stephans Gehirn läuft heiß. Es ist ihm kaum möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Irgendetwas hat er übersehen. Dann schnappt er sich einen weiteren Zettel: Rosebud. Er legt ihn in die Mitte des Tisches. Wortlos nimmt Greta ihm den Stift aus der Hand, beugt sich über die Platte und schreibt: Marienstatt.

„Dort gibt es eine Schule, oder? Ein Gymnasium?“

„Du hast recht!“ Stephans Augen weiten sich. „Das ist es, ich muss zurück zu dem Ort, der mir damals das Leben gerettet hat, um dort jetzt selbst Leben zu retten.“

Neben ihm tippt Greta wild auf der Tastatur herum. Dabei schüttelt sie unentwegt den Kopf.

„Was? Was ist los?“

„Das ergibt keinen Sinn.“

„Wie? Warum nicht?“ Stephan merkt nicht, wie laut er vor Aufregung wird.

„Marienstatt liegt in Rheinland-Pfalz. Da haben am Freitag die Herbstferien begonnen.“

Zum zweiten Mal rauscht Stephans Faust auf die Tischplatte. Fast gleichzeitig entschuldigt er sich bei Greta für seinen erneuten Ausbruch.

„Wir sind nah dran, Stephan. Irgendetwas übersehen wir einfach noch.“ Sie legt den Zettel zurück auf den Tisch.

„Du hast dort den Bruder meiner Nachbarin getroffen. Er hat dieses Buch gelesen: 19 Minuten. Was, wenn Rosebud nur der Hinweis auf den Amoklauf war und nicht auf den Ort, sondern nur auf die Schulform?“, fragt sie hastig.

„Du meinst, uns fehlt noch ein Hinweis?“

„Genau. Was haben wir vergessen?“ Nervös sammelt Greta die Zettel ein, ordnet sie neu.

„Bevor ich hier gelandet bin, war ich in Marienstatt, davor in Nümbrecht. Dazwischen ist nichts passiert“, überlegt Stephan laut.

„Dazwischen nicht …“

„Die Aggertalsperre!“, platzt es aus ihm heraus.

„Befindet sich dort eine Schule?“

„Genau genommen nicht. Die Aggertalsperre liegt ja irgendwie zwischen Gummersbach und Bergneustadt.“

„Gibt es in beiden Orten ein Gymnasium?“

„Ja! Gummersbach hat sogar zwei.“ Stephan legt den Kopf in den Nacken und seufzt.

„Und woher wissen wir überhaupt, wann dieser Amoklauf passieren wird?“

Stephans Schädel rauscht. Ein hoher Pfeifton schraubt sich in seinen Gehörgang. Am unteren Bildschirmrand zeigt der Computer Datum und Uhrzeit an.

„Stimmt das?“ Stephan zeigt auf die Anzeige.

„Ja, warum?“, fragt Greta irritiert.

„Wir müssen herausfinden, wo wir hinmüssen, Greta! Und zwar schnell!“

„Was? Wieso? Wie kommst du jetzt darauf?“

Stephan denkt an das Schlafzimmer des Toten in Nümbrecht zurück. Irgendetwas hatte ihn dort kurz irritiert.

„Das … das Datum“, stottert er.

„Es stimmt!“, wiederholt Greta unruhig.

„Das ist es ja! Gestern, als ich im Schlafzimmer des Toten stand, hing dort ein Abreißkalender!“

„Und der hatte irgendeinen Kalenderspruch parat, der die Lösung des gesamten Rätsels verrät?“

„Nein, er zeigte eine Zahl an.“ Stephan erinnert sich an den Raum, die Trauernden, die blauen Lippen, die kalten Finger um sein Handgelenk. In Gedanken steht er wieder in dem Schlafzimmer, der Tote liegt im Pyjama unter der gestärkten Bettwäsche. Da war dieser Kalender. Die Zahl.

„Stephan, du machst mich verrückt!“ Greta steigt nervös von einem Fuß auf den anderen.

„Jetzt warte doch mal! Er zeigte die Vierzehn an. Nur, dass nicht gestern der Vierzehnte war …“

„Sondern heute!“, unterbricht sie ihn.

„Richtig! Vielleicht war das der Hinweis auf das Datum! Die Zeit? Der Amoklauf in Volkhoven begann um 09:10 Uhr. Das Risiko mag groß sein, dass wir uns irren, aber ich will es lieber versuchen.“

Greta nickt.

„Jetzt müssen wir nur noch wissen, wo wir in knapp einer Stunde sein müssen.“

„Wir sind so verdammt nah dran! Ich halte das nicht aus!“

Stephan stürmt aus dem Zimmer, die Treppe nach unten, und reißt die Terrassentür auf. Vor ihm türmt sich der Baum auf, der in seinem Traum in Flammen stand. Der Himmel mischt in sein Tiefblau orange-rote Striemen.

Die frische Luft tut ihm gut, vertreibt aber nicht die nervöse Unruhe.

Denk nach. Denk nach. Was hast du noch gesehen?

Plötzlich erfasst ihn eine Windböe und schlägt die Terrassentür mit einem lauten Knall zu. Erschrocken dreht Stephan sich um. Im Wohnzimmer steht Greta, vor ihr auf dem Boden liegen Scherben. Sofort öffnet er die Tür wieder und hastet zurück.

 

„Was ist passiert?“

„Die Tür.“

„Ja, der Wind …“ Wieder kommt Stephan nicht weiter, denn auf einen Schlag setzen sich die letzten Teile zusammen. Er braucht nicht lange, um zu erkennen, was dort in Scherben auf dem Boden liegt. Das ganze Zimmer ist voll von den Figuren. Engel.

„Es ging nie um das Gymnasium in Marienstatt.“

Greta hebt den Blick, schaut Stephan an.

„Ich habe Carola Herzogs Bruder in der Kirche getroffen.“

Gretas Augen verraten, dass sie ihm nicht folgen kann.

„Jeder Ort war nicht nur ein Hinweis, sondern mehrere auf einmal, bunt zusammengewürfelt. Wie die Tüte einer Blütenmischung.“ Stephan bückt sich, hebt eine der Scherben auf.

„Marienstatt hat uns nicht nur die Schulform und den Amoklauf verraten. Es hat auch einen Teil des Ortes preisgegeben. Und du hast mir nicht nur bei der Klärung des Begriffs Schwiegermuttergift und dem Bezug zu Volkhoven geholfen. Dein ganzes Wohnzimmer steht voll von kleinen Engelfiguren.“

„Engelskirchen“, haucht Greta.

„In Engelskirchen gibt es ein Gymnasium. Ich weiß jetzt, ich bin mir vollkommen sicher, dass wir dort hinmüssen!“

Greta schüttelt den Kopf. „Ich versteh nur Bahnhof …“

„Der gestrige Tag begann an der Aggertalsperre. Das Gymnasium in Engelskirchen heißt Aggertalgymnasium.“

28

1985 tauchten bei der Deutschen Post das erste Mal Briefe auf, die an das Christkind adressiert waren. Den Mitarbeitern war schnell bewusst, dass man sie nicht einfach verschwinden lassen wollte. Vielmehr strebten sie danach, dass diese irgendwo bearbeitet, sogar beantwortet werden sollten. Die Wahl fiel auf Engelskirchen.

Über 100.000 Briefe aus über 50 Ländern finden seitdem ihren Weg in die so genannte Christkindpostfiliale. Handgeschriebene Zeilen in krakeliger Schrift, die davon erzählen, was der sehnlichste Wunsch für das nahende Weihnachtsfest ist. Zeichnungen, Bilder, Basteleien werden hinzugefügt, in der Hoffnung, dass man erhört wird.

Das Christkind antwortet jedem Kind. Wünscht frohe Weihnachten, nährt die Aussicht auf Erfüllung, die vielen an jenen Tagen verwehrt bleibt. Wünsche sind fragile Träume.

Heikos Dasein gleicht einem ganzen Haufen aus zerborstenen Wünschen, zertrampelt, zertreten. Angefangen bei einem Vater, der, als er davon Wind bekommen hat, dass die schöne, junge Frau, mit der er sich gerade vergnügt, ein Kind von ihm erwartet, nicht schnell genug das Weite suchen konnte, wuchs Heiko allein bei und mit ihr auf. Es verging kein Tag, an dem ihm nicht wenigstens ein Mal das Gefühl gegeben wurde, dass er ihr das Leben gründlich versaut hat. Sie gab ihm zu verstehen, dass er nicht gewünscht war und nie gewollt sein wird. Dieses Signum ließ ihn zum Opfer werden, man sah es ihm an, roch es aus der Entfernung. Erinnerungen, scharfkantige Stücke, die sich Tag für Tag in die Eingeweide bohren. Das Verfallsdatum seines Lebens hat er längst überschritten, faul und modrig riecht es aus der Hülle Mensch, die gedankenlos über die Straße stapft. Es ist kalt, nass, doch das spürt er nicht. In ihm lodert die Wut. Rache ist leicht entflammbar.

In seinem Rucksack gluckert das Benzin, das in der Gasflasche hin und her schwappt. Den gelben Hochdruckreiniger trägt er vor dem Bauch. Eine Hand an der Schlaufe, die er über die Schultern gelegt hat, eine an dem Rohr, aus dem der Furor wüten wird.

Er weiß genau, wen es zuerst treffen soll. Wer, wann, wo sitzt und nicht im Traum daran denkt, was ihm droht. Danach ist der Rest dran. Hass kennt kein Limit, Rache keinen Extremwert.

Alle sind das Ziel.

Alle, die naiv zur Schule gegangen sind, mit dem sicheren Gefühl, dass dieser Tag nicht der letzte sei. Genau so, wie er damals zur Schwungbrücke aufgebrochen war. An jenem Tag, an dem sein Leben ungenießbar wurde. Für immer.

29

Endlos lang kommt Stephan die Strecke vor, bis er endlich auf die A4 einbiegt. Sein Blick fällt auf die Uhr im Armaturenbrett. Es ist schon fast halb neun. Er erinnert sich an den Artikel.

Vor 45 Jahren, um zehn Minuten nach neun …

Greta sitzt auf dem Beifahrersitz und versucht, mit Stephans Smartphone die Polizei zu verständigen. Sie besitzt kein Mobiltelefon. Die Bedienung fällt ihr schwer.

„Ich hasse diese neumodischen Dinger! Was soll ich denen denn überhaupt sagen?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Die glauben, ich bin irgendeine Verrückte!“

„Wir müssen es versuchen!“

Er setzt den Blinker, zieht nach links und überholt den ersten Lkw.

„Erzähl ihnen, dass du einen Hinweis bekommen hast.“

„Einen Hinweis, dass irgendjemand heute im Aggertalgymnasium einen Amoklauf plant? Und was, wenn die mich fragen, wie ich darauf komme?“

Spätestens jetzt muss Stephan sich eingestehen, dass die ganze Geschichte, die sie sich aus den Hinweisen zusammengesponnen haben, nicht gerade glaubhaft klingt.

Plötzlich wird der Bildschirm in Gretas Hand schwarz.

„Nein!“, schreit sie auf.

„Was ist?“

„Das Ding ist einfach ausgegangen!“

„Der Akku“, stöhnt Stephan.

„Was machen wir denn jetzt?“

„Dann müssen wir es eben selbst verhindern.“

„Sollen wir eine Durchsage machen, dass sich der Amokläufer im Sekretariat melden soll und dann drohen wir mit einem Schulverweis, oder was?“

Stephan hämmert mit dem Handballen auf sein Lenkrad ein.

„Ich habe doch auch keine Ahnung, Greta! Ich weiß nicht einmal, ob ich mir den ganzen Scheiß nicht einfach eingebildet habe und wir uns da gleich zu totalen Affen machen!“

Als Stephan scharf bremst, rollt die Schneekugel zwischen Gretas Füße. Verwirrt schüttelt sie den Kopf und greift danach. „Was ist das?“, fragt Greta.

„Die Schneekugel. Mit ihr hat alles angefangen.“

„Naja, streng genommen hat alles mit der Person angefangen, die du von der Staumauer hast fallen sehen.“

„Was, wenn wir die Hinweise falsch gedeutet haben?“

Der Zweifel sät frische Keime in Stephans Gedanken. Sollte die Dichte der Hinweise tatsächlich so hoch sein, wie sie beide am frühen Morgen vermutet haben, bleiben zahlreiche Variablen übrig, denen sie keinerlei Bedeutung zugemessen haben. Neben ihm studiert Greta die Schneekugel wie ein Artefakt.

„Das wird ein echtes Himmelfahrtskommando“, nuschelt Stephan vor sich hin.

„Du meinst, wir haben eventuell noch etwas übersehen?“

„Uns bleibt einfach keine Zeit mehr! Wir können nur hoffen, dass wir rechtzeitig da sind. An der richtigen Schule. Am passenden Ort. Zur rechten Zeit.“

„Mir wäre es lieber, wir hätten erst gar nicht recht mit dem, was wir vermuten.“

Stephan lenkt den Wagen auf die rechte Spur, setzt den Blinker und befährt mit dem Auto die scharfe Kurve hinter der Ausfahrt. „Was auch immer mir diese ganzen Visionen sagen wollten, ich bin bereit gewesen, ihnen zuzuhören.“ Erst jetzt wird ihm bewusst, dass die Stimmen seit geraumer Zeit verstummt sind.

30

Die Stille fällt ihm zuerst auf. Keine Menschenseele befindet sich im Eingangsbereich des Schulgebäudes, als Heiko die Glastür hinter sich zufallen lässt. Alle Schülerinnen und Schüler sitzen in ihren Klassen- oder Fachräumen. Heiko weiß genau, wo alles seinen Anfang nehmen wird. Timing. Chemie. Wie passend, denkt er, während er den Flur betritt. Ein Schüler öffnet eine Tür zu seiner Linken. Er schaut ihn nur kurz an, sofort gleitet sein Blick zum Boden. Hier wundert sich keiner über seinen verrückten Aufzug. Hier sind alle nur mit sich selbst beschäftigt.

Als Stephan und Greta die Tür aufstoßen, suchen sie sofort nach irgendeinem Hinweis, der ihnen zeigt, wo sich das Sekretariat des Gymnasiums befindet.

„Was machen wir jetzt?“, ächzt Greta, einen Arm auf das Bein gestützt, in der anderen Hand hält sie noch immer die Schneekugel. Die letzten Meter vom Parkplatz aus sind sie gerannt, Stephan ist dabei gar nicht aufgefallen, dass Greta das Fundstück bei sich trägt.

„Wir sollten die Schulleitung informieren. Mir ist eingefallen, dass ich mal etwas darüber gelesen habe, dass Schulen eine Art internen Code haben, der über die Lautsprecheranlage durchgegeben wird und die Lehrer darüber informiert, dass eine bedrohliche Lage herrscht.“

„Herrscht denn eine?“, fragt ihn Greta unsicher.

Dann hören sie die ersten Schreie.

Erst als Heiko vor der Tür steht, fällt ihm auf, dass sie sich nicht von außen öffnen lässt. Die Fachräume im naturwissenschaftlichen Trakt des Gebäudes kann man ausschließlich von innen öffnen. Er räuspert sich kurz, zögert, als würde er sich eine Ausrede überlegen, warum er zu spät zum Unterricht erscheint. Drückt den Knopf. Der Hochdruckreiniger fängt an zu brummen. Dann klopft er an.

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