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Daisy Koeb

Liebste Mama

Die Geschichte einer Familie

Mariposa Verlag Berlin

Ebook 978-3-927708-53-2, 2013

Druckausgabe 978-3-927708-50-1, 2007

Umschlaggestaltung: Friedericke van Meer

unter Verwendung eines Fotos von Daisy Koeb

© MariPosa Verlag

U. Strüwer, Drakestraße 8a, 12205 Berlin

Fon 030-2157493 Fax 030-2159528

www.mariposa-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Zu diesem Buch

Daisy Koeb wurde 1927 in Wien geboren. Wie viele jüdische Kinder musste sie im Frühjahr 1939 ihre Heimat verlassen. Die Eltern schickten sie nach Schweden, um sie vor den Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen. Ihnen selbst gelang es kurz darauf, illegal nach Palästina auszuwandern. Erst am 23. Mai 1946 sahen sich Mutter und Tochter im Hafen von Haifa wieder. Die übrige Familie ist in alle Winkel der Erde zerstreut worden, viele Verwandte sind in Konzentrationslagern umgekommen.

Was blieb, waren Briefe, in denen sich das Schicksal der Autorin und das der ihr nahestehenden Menschen widerspiegelt. Es sind sehr persönliche Zeilen aus den Jahren 1890 bis 1946, die Daisy Koeb veröffentlicht hat. Sie zeigen, wie der Wunsch der Familie, ein ganz normales Leben zu führen, zunehmend erschwert und während der Kriegsjahre und des Terrors der Nationalsozialisten schließlich gänzlich zunichte gemacht wird. Doch es gibt auch die unerschütterliche Hoffnung, die insbesondere die junge Evelyn – kurz Evi –, wie die Autorin sich im Buch nennt, immer wieder auszudrücken vermag.

Daisy Koeb lebt heute in Rishon-Lezion, Israel. Die Originaldokumente befinden sich in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem.

Vorwort der Autorin

Als ich vor einigen Jahren pensioniert wurde, machte ich es mir zu einer meiner ersten Aufgaben, endlich in alten Papieren und Dokumenten Ordnung zu schaffen. Dabei fielen mir Briefe in die Hände, die meine Eltern mir während des Krieges aus dem damaligen Palästina geschrieben hatten, aber auch solche, die ich ihnen geschrieben hatte, sowie Briefe meiner Großmutter an mich oder an meine Eltern und einige Briefe von Geschwistern meiner Großmutter und Geschwistern meines Vaters.

Einige Tage später hatte ich die Briefe gelesen. Es fällt mir schwer zu schildern, was während des Lesens in mir vorging: Ich weiß nur, wie aufgewühlt ich war. Und nun stand ich vor einem Dilemma: Was sollte ich tun mit den Briefen, in denen sich mein eigenes und das Schicksal mir nahe stehender Menschen während solch schwerer Zeiten widerspiegelte?

Meine Kinder sprechen zwar Deutsch, aber ich wusste, dass sie nicht imstande sein würden, die verschiedenen Handschriften zu lesen; meine Großmutter schrieb meist noch Kurrent. Sie würden die Briefe wahrscheinlich eines Tages einfach wegwerfen. Sollte ich dies vielleicht schon selber tun, oder gab es eine Möglichkeit, die Geschichte unserer Familie in einer Form zu erhalten, die sie auch meinen Kindern zugänglich machen würde?

Und so entstand dieses Buch. Aus den Erzählungen meiner Großmutter und ihrer Geschwister während meiner Kindheit, aus den Berichten meiner Mutter, aus den Briefen der Kriegsjahre und aus Aufzeichnungen in den Tagebüchern meiner Kindheit und Jugend webte ich die Geschichte derer, die mit mir so unendlich eng verbunden waren und von denen keiner mehr am Leben ist. Es ist auch meine eigene Geschichte.

Daisy Koeb

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zu diesem Buch

Vorwort der Autorin

Wien, 13. März 1890

Wien, 3. August 1891

Wien, 8. Mai 1893

Wien, 9. Mai 1893

Wien, 13. August 1893

Mariaschein, 10. November 1894

Mariaschein, 30. November 1897

Mariaschein, 5. Dezember 1897

Mariaschein, 8. Oktober 1902

Mariaschein, 1. November 1902

Mariaschein, 10. Mai 1905

Mariaschein, 30. November 1905

Teplitz-Schönau, 14. April 1907

Teplitz, 3. Dezember 1907

Teplitz, 8. Jänner 1908

Teplitz, 13. Juni 1908

Teplitz, 20. Juni 1908

Lyon, 6. März 1910

Teplitz, 19. Oktober 1911

Teplitz, 26. Jänner 1912

Teplitz, 15. August 1912

Teplitz, 5. März 1913

Berlin, 29. Juni 1913

Feldpostbrief, 19. November 1914

Teplitz, 9. Mai 1915

Feldpostkorrespondenzkarte, 17. August 1915

Teplitz, 20. August 1915

Teplitz, 2. September 1915

Feldpostkorrespondenzkarte, 7. Februar 1916

Teplitz, 23. Mai 1916

Feldpostkorrespondenzkarte, 12. November 1916

Feldpostkorrespondenzkarte, 3. Jänner 1917

Wien, 10. März 1917

Feldpostkorrespondenzkarte, 26. November 1917

Teplitz, 18. Februar 1918

Teplitz, 23. Oktober 1918

Teplitz, 15. November 1918

Wien, 6. Februar 1919

Berlin, 3. März 1919

Teplitz, 10. Juni 1919

Wien, 27. Juni 1919

Teplitz, 23. November 1919

Teplitz, 5. Mai 1920

Wien, 9. September 1920

Wien, 15. Oktober 1920

Wien, 16. März 1921

Wien, 9. November 1921

Wien, 27. April 1922

Wien, 6. Juni 1922

Teplitz, 30. November 1922

Wien, 15. Dezember 1922

Wien, 13. Dezember 1923

Berlin, 9. Mai 1925

Teplitz, 21. Oktober 1925

Wien, 5. März 1926

Wien, 3. April 1926

Wien, 20. Februar 1927

Wien, 3. April 1929

Teplitz, 5. April 1929

Teplitz, 20. Oktober 1930

Abschrift Im Namen der Republik!

Teplitz, 7. Februar 1931

Teplitz, 11. September 1931

Teplitz, 8. Mai 1932

Wien, 18. August 1932

Berlin, 15. August 1933

Wien, 17. September 1933

Wien, 15. Feber 1934

Teplitz, 23. Mai 1934

Teplitz, 6. Juni 1934

Wien, 6. Juni 1934

Wien, 10. Juli 1934

Wien, 27. Juli 1934

Wien, 28. September 1934

Teplitz, 1. Oktober 1934

Wien, 4. Oktober 1934

Wien, 20. September 1936

Wien, 15. November 1936

Teplitz, 2. März 1937

Teplitz, zum 19. Februar 1938

Teplitz, 6. April 1938

Wien, 3. Mai 1938

Lyon, 15. Juni 1938

Wien, 10. Juni 1938

Wien, 30. Juni 1938

Teplitz, 1. Juli 1938

Wien, 18. September 1938

Wien, 20. September 1938

Wien, 1. Oktober 1938

Prag, 12. Oktober 1938

Lyon, 6. November 1938

Telegramme

Wien, 15. November 1938

New York, 19. Dezember 1938

Prag, 30. Januar 1939

Göteborg, 28. Februar 1939

Prag, 17. März 1939

Wien, 20. März 1939

Wien, 23. April 1939

Abschied von Wien

Göteborg, 25. April 1939

Wien, 25 April 1939

Prag, 27. April 1939

Göteborg, 2. Mai 1939

Göteborg, 15. Mai 1939

Berlin, 18. Mai 1939

Göteborg, 28. Mai 1939

Göteborg, 30. Mai, 1939

Wien, 7. Juni 1939

Haifa, 4. Juni 1939

Prag, 9. Juni 1939

Prag, 11. Juni 1939

Tel Aviv, 15. Juli 1939

Göteborg, 4. September 1939

Prag, 13. Oktober 1939

Prag, geschrieben am 13. Oktober, abzugeben am 24. November 1939

Göteborg, 20. September, für den 24. November 1939

Verona, 14. November 1939

Göteborg, 25. November 1939

Göteborg, 15. Jänner 1940

Berlin, 3. Februar 1940

Verona, 19. März 1940

Tel Aviv, 9. April 1940

Göteborg, 15. Mai 1940

Göteborg, 1. Juni 1940

Tel Aviv, 11. Juni 1940

Askerud, Närke, Schweden, 14. Juli 1940

Göteborg, 18. September 1940

Prag, 3. Oktober 1940, zum 24. November

Göteborg, 10. November 1940

Göteborg, 15. Dezember 1940

Bnei-Brak, 15. Jänner 1941, zum 19. Februar

Prag, 12. Februar 1941, zum 19. Februar

Göteborg, 5. März 1941

Bnei-Brak, 8. März 1941

Göteborg, 14. Mai 1941

Göteborg, 22. Juni 1941

Prag, 21. Juli 1941

Göteborg, 2. September 1941

Prag, 12. Dezember 1941

Göteborg, 28. Dezember 1941

Göteborg, 31. Dezember 1941

Prag, 24. März 1942

RASC, Middle East Forces, 16. April 1942

Göteborg, 26. Mai 1942

Prag, 29. Juni 1942

Prag, 16. Juli 1942

Göteborg, 16. Juli 1942

Göteborg, 18. August 1942

Göteborg, 9. September 1942

Göteborg, 29. November 1942

Berlin, 15. Dezember 1942

Göteborg, 26. Dezember 1942

Tiberias, 11. Januar 1943

Göteborg, 13. Februar 1943

Göteborg, 3. März 1943

Army Form B 104-82 (Pal.)

Vejbystrand, 3. August 1943

Göteborg, 29. Oktober 1943

Göteborg, 31. Dezember 1943

Bnei-Brak, 27. Februar 1944

Berlin, 3. April 1944

Vejbystrand, 18. Juni 1944

Bnei-Brak, 18. September 1944

Göteborg, 5. November 1944

Bnei-Brak, 25. November 1944

Göteborg, 26. Dezember 1944

Göteborg, 14. Jänner 1945

Bnei-Brak, 23. Feber 1945

Göteborg, 27. März 1945

Göteborg, 28. April 1945

Göteborg, 10. Mai 1945

Göteborg, 11. Juni 1945

Vejbystrand, 16. Juli 1945

Göteborg, 4. November 1945

Göteborg, 31. Dezember 1945

Kurt Spielmann, London, 20. Jänner 1946

Wien, 22. Feber 1946

An Viktor Bermeiser, Wien

Göteborg, 12. März 1946

Göteborg, 15. März 1946

Göteborg, 7. April 1946

Bnei-Brak, 25. Mai 1946

Epilog

Worterklärungen

Stammbaum

Wien, 13. März 1890

Gestern war mein 16. Geburtstag, und ich hab ein Tagebuch bekommen. „Damit du lernst deine Gedanken zu bändigen“, sagte Mama. Aber warum soll ich meine Gedanken denn bändigen? Das Schöne an Gedanken ist doch, dass sie einen so weit weg führen, ins Unbekannte, in Abenteuer, die man in Wirklichkeit ja nie erleben kann. Doch gestern hatte ich ein richtiges Abenteuer: Ich hab den Kaiser gesehen! Er fuhr in seiner Equipage1 den Ring entlang, und da standen ich und Schwester Bertha. Wir hatten die Haare aufgesteckt, und ich hatte einen neuen Hut, denn es war ja mein Geburtstag. Bertha hatte mir Veilchen gekauft, die warf ich in die Kutsche. Wir konnten sehen, dass Franz Joseph uns zuwinkte, aber der Hofknicks auf der Straße drohte den Saum meines Kleides staubig zu machen, und das hätte Mama geärgert; als ich die Falten des Rocks fein säuberlich zusammengerafft hatte, war die kaiserliche Equipage schon vorbei.

Wien, 3. August 1891

Jetzt ist Jenny, meine große Schwester, schon eine Woche lang verheiratet und auf der Hochzeitsreise in Venedig. Wir Geschwister sorgten ganz allein für die Unterhaltung; Ernst und ich sangen die Verse, die Alfred und Adele geschrieben hatten, nach den Melodien der „Schönen Helene“, die Bertha am Klavier spielte. Eine richtige „Jenny-Oper“ war das! Max war der Conférencier.

Ob Jenny wohl glücklich wird? Sie kennt ihn doch kaum, ihren Mann. Jetzt sind wir nur noch sechs Geschwister im Haus.

Wien, 8. Mai 1893

Mir zittert noch die Hand! Papa ließ mich rufen; er ging im Wohnzimmer auf und ab, und Mama saß am Diwan und schaute auf den Tisch – nicht auf mich.

Dann lud Papa mich ein, mich in seinen Lehnstuhl zu setzen, und ich verstand, dass er mir etwas sehr Ernstes zu sagen hatte. Und deshalb zittere ich noch.

Mein Verlobter – mein zukünftiger Gemahl –, den ich noch nie gesehen hab, heißt Bernhard Back; er ist schon 28 Jahre alt, fast 30. Wir werden in Böhmen leben, im Sudetenland, und morgen kommt er auf Besuch. Grethe – Back?

Wien, 9. Mai 1893

Bernhard war da! Er ist groß und blond und ich hab keine Angst mehr; ich konnt ja kein Auge schließen die ganze Nacht. Um 10 Uhr in der Früh stand ich dann, hinterm Vorhang versteckt, im Wohnzimmer und schaute auf die Straße, bis er kam. Ich hab mir dabei die Lippe blutig gebissen.

Mama hat für nächste Woche Fräulein Krause bestellt; die soll meine Aussteuer nähen, so wie für Jenny vor zwei Jahren.

Wien, 13. August 1893

Ich steh jeden Abend vor den Toiletten2, die mir Fräulein Krause genäht hat. Manchmal zieh ich ein neues Kleid an und betrachte die fremde Grethe im langen Spiegel. Das tu ich natürlich nur, wenn ich ganz allein bin, denn ich muss doch erst selber diese neue Person kennen lernen.

Wer bist du, Grethe? Ich hab ja bis jetzt nur so in den Tag hinein gelebt. Da war die Schule, und da waren die Nachmittage mit Mademoiselle, en francais naturellement. Adele kam zu kurz dabei, die ist zu intelligent, wir andern hatten wenig Geduld für philosophische Gespräche. Arme Adele! Es muss schrecklich sein, einen Buckel zu haben und nicht größer zu sein als ein 5-jähriges Kind. Wenn ich damals auch Rippenfellentzündung bekommen hätte, ob ich dann auch trotzdem so lieb und gut wäre wie Adele? Sie scheint mich gar nicht zu beneiden, trotz der neuen Kleider und der Briefe, die so oft von Bernhard kommen. Sie ist schon 22 und schreibt so schöne Gedichte.

Die Bertha ist anders, die wäre aber auch nicht gern an meiner Stelle, und sie ist ja erst 16. Sie will nur Klavier spielen, den ganzen Tag, so wie ich singen möchte. Bernhard hat mir versprochen, dass ich weiter Stunden nehmen darf, auch nachdem wir verheiratet sein werden. Aber Bertha will Pianistin werden und bittet und bettelt Papa und Mama seit Jahren um Erlaubnis. Ich verstehe ja, dass das nicht geht – eine Dannhauser soll öffentlich auftreten? Maxl lacht sie immer aus, aber er hört ihr doch auch gerne zu. Der lacht auch über alles! Unlängst hat er nachts die Eingangstür verbarrikadiert, und als Alfred gegen früh, viel später als ihm erlaubt war, so leise wie möglich ins Haus schleichen wollte, fiel er mit Gepolter direkt ins Vorzimmer und einem verärgerten Papa in die Arme. Alfred ist fesch, alle Mädels schauen ihm nach, und das ärgert den Max. Dabei sollte er doch mit seinen 26 Jahren schon ernster sein, und Alfred, mit 28, erst recht, besonders wo er doch verlobt ist und bald heiraten wird. Auch Max hat schon Fühler ausgestreckt, wie er sagt; er hat sie bis nach Frankreich ausgestreckt, attrahiert von einer „süßen“ Dame in Lyon.

Das Haus wird leer sein ohne meine großen Brüder, denn mit wem wird man dann lachen? Ernstl nimmt sich noch zu ernst, er ist erst 17. Aber dichten, Klavier spielen, singen und schauspielern kann er auch; und die Mädels auf der Straße drehen sich schon nach ihm die Köpfe aus. Ich werd ja auch bald nicht mehr zu Hause sein, das hätt ich fast vergessen, und ob Bernhard so lachen kann wie Alfred und Max, weiß ich nicht.

Das grüne Kleid ist besonders schön; der Stoff schillert in Hellgrün und Gold und passt zu meinen Haaren „wie Kastanien“, sagt Mama. Ich hab damit Fräulein Krause an der Nase herumgeführt, das war eine Hetz! Sie rief mich zum Probieren, und ich stand am Piedestal3, von dem ich die chinesische Vase heruntergenommen hatte, mitten im Salon. Den schillernden Stoff hatte ich umgenommen wie das Gewand einer griechischen Göttin. Ich stand ganz regungslos, die Arme hinterm Kopf, und kein Mensch sah mich, obwohl sie alle durch die ganze Wohnung und dabei an mir vorbeiliefen und meinen Namen riefen. Ich stieg erst dann von meinem Piedestal herab, als Mama schon ganz ärgerlich wurde. Beinahe hätte Bertha das grüne Kleid statt meiner bekommen; ich war zu schlimm, um beschenkt zu werden.

Mariaschein, 10. November 1894

Geliebte Mama!

Wie gerne möchte ich Dir zeigen, wie sich mein Leben jetzt gestaltet. Ich kann ja kaum glauben, dass ich schon 3 Monate verheiratet bin! In Gedanken bin ich noch immer bei meinen lieben Eltern und Adele, Ernst und Bertha in unserem schönen Haus in Wien. Wie froh muss Alfred sein, dass er und die liebe Julie in der Nähe der guten Eltern wohnen; Bruder Max, Schwester Jenny und mir geht es nicht so gut.

Du weißt ja, dass Mariaschein ein Wallfahrtsort ist. Ein großes Kloster ist hier und eine schöne Kirche; es gibt auch eine Schule, in welcher die Nonnen unterrichten. Dann sind hier Bernhards Fabrik, die kleinen Häuschen der Arbeiter, das Haus von Herrn Dr. Kisch, der sich um die Gesundheit aller Bewohner sorgt, das Pfarrhaus, der Spezereiwarenladen4 und, nicht zu vergessen, das Back’sche Haus. Bernhard hatte alles wunderschön für meinen Empfang vorbereitet. Wir haben einen großen Salon, und mein Gemahl überraschte mich mit einem Perserteppich, den er bei der Ausstellung in Dresden, welche er vor einem Monat geschäftlich besuchen musste, kaufte. Dann wurde plötzlich noch eine große Kiste ins Zimmer getragen; als die Holzwolle daraus entfernt worden war, kam ein wunderhübscher Meissner Luster hervor, mit den schönsten Porzellanvögeln und -blumen geziert. Wie schön wäre es doch, wenn Du und Papa all dies sehen könntet!

Das Musikzimmer ist neben dem Salon, und jede Woche machen wir Kammermusik. Bernhard spielt auf seiner Violine, ich am Klavier, wenn ich nicht singe, Dr. Kisch spielt die zweite Geige, und der Herr Pfarrer hat ein Cello. Oft macht mich die Musik sehr traurig, denn sie erinnert mich an die vertrauten Musikabende mit den lieben Geschwistern in Wien.

Im Parterre ist auch noch die große Küche, in der Bernhards Mali schon seit Jahren waltet, und neben der Küche die Speisekammer. Du hättest Deine Freude an Malis selbst gemachten Würsten, die von der Decke hängen, und den guten Konfitüren, Säften und Gemüsen, die dort fein säuberlich in Gläsern und Flaschen in Reih und Glied stehen. Freilich, weit hat es die Mali nicht zu ihren Beeren, denn im Garten wächst alles in Hülle und Fülle. Da gibt es Stachelbeeren und Johannisbeeren, Himbeeren und Brombeeren, Kirschbäume und Apfelbäume sowie Birnen- und Pflaumenbäume; die Pfirsiche wachsen am Spalier und auch die Erbsen, deren Platz ja eigentlich im Gemüsegarten wäre. Ich sah noch alles in voller Pracht, als ich hier einzog, doch jetzt kommt der Winter, und der Garten ist kahl.

Im 1. Stock befindet sich unser Schlafzimmer und noch zwei Zimmer. Das eine ist für gern gesehene Gäste gedacht – wann kommen Mama und Papa? – und das zweite ... Noch eine große Überraschung hat mir mein lieber Bernhard bereitet. Als ich die vierte Türe im 1. Stock öffnete, bot sich mir der Anblick eines Badezimmers, wie es der Kaiser selbst nicht schöner haben kann. Das Wasser fließt aus Hähnen direkt in die Badewanne, sowohl das kalte wie das warme, und das Handbecken ist an der Wand angebracht, so dass die Wasserhähne der Wanne auch das Becken bedienen können. Bernhard hat selbst die Pläne zum Bau des Badezimmers gemacht und es mit Hilfe des Vorarbeiters der Fabrik gebaut. Im 2. Stock sind Malis Kammer und der geräumige Boden.

Wenn mich gelüstet spazieren zu gehen, besuche ich die alte Rosenburg oben am Berg, die aus dem Mittelalter stammt. Ich habe meinen Namen in die Mauer eingraviert, so wie schon viele vor mir. Oft begeben wir uns nach Teplitz, wohin uns die Eisenbahn in einem Viertelstündchen führt, ergötzen uns am Konzert im Kurpark oder einer Vorstellung im Theater und besuchen Bernhards Mutter, die bei seiner Schwester Hermine lebt. Zur Jahreswende will Bernhard mich seinen andern Geschwistern in Prag vorstellen. Ob ich ihnen wohl gefallen werde?

Euere treue Tochter Grethe

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