Der Tote vom Oberhaus

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Mit einem scheuen Blick in den Rückspiegel überprüfte Franziska Steinbacher ihr Gesicht. Ihre Wangen glühten, was nicht nur an der Hitze lag, die seit Tagen die Passauer Bevölkerung zum Schwitzen brachte. Seit dem Mittag fuhren ihre Gefühle Karussell, schürten in ihr gleichermaßen Zweifel und sinnliches Verlangen und ließen ihr Gesicht von einem geheimnisvollen Lächeln erstrahlen. Heute war sie zu allem bereit. Verträumt zupfte sie sich eine Strähne ihrer langen Haare aus dem Gesicht, um ungehindert ihre Lippen mit Lipgloss bemalen zu können, bis ihr auffiel, dass man sie von der Straße und den Häusern rundum sehen konnte. Hastig riss sie sich von ihrem Spiegelbild los und stieg aus. Sie war ohnehin ein bisschen spät dran, was heute aber nicht an ihrem Job bei der Passauer Mordkommission, sondern nur an einer einzigen Frage lag: Was ziehe ich an?

Normalerweise hatte es Franziska nicht nötig, sich mit solchen Problemchen zu beschäftigen, schließlich gehörte sie zu den beneidenswerten Frauen, die es sich leisten konnten, fast alles zu tragen. Am heutigen Tag jedoch war nichts normal. Denn letztlich ging es nicht nur um die Auswahl der richtigen Garderobe, sondern vor allem um die Frage: Wie ziehe ich es nachher möglichst eindrucksvoll wieder aus?

Mit schnellen Schritten lief sie die Treppe zur Künstlerwerkstatt des städtischen Theaters im Maierhof hinauf und drückte zaghaft auf die Klingel. Sie hatte sich für ein leichtes Sommerkleid entschieden, und obwohl es nur aus einem Hauch von Stoff bestand, begann sie zu schwitzen.

Als endlich jemand die Tür öffnete, war es ausgerechnet Carlos Rodriguez, der junge Tenor mit dem weichen Gesicht und den wunderbaren Locken, bei dem sie nie wusste, ob er mit ihr flirtete oder einfach nur nett war. Ihn zu treffen war auf jeden Fall ein Vergnügen, wobei sein anzügliches Lächeln weniger ihrer gemeinsamen Vergangenheit galt, als vielmehr dem Grund, warum sie heute hier war.

„Ist Walter da?“, fragte Franziska nach einem Räuspern und spürte, wie eine leichte Hitze ihr Gesicht überzog.

„Ja, er ist oben.“ Mit dem Kopf zeigte Carlos die hinter ihm liegende Treppe hinauf und ließ sie dann, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, einfach stehen. Gleich darauf vernahm sie seine eindrucksvolle Stimme aus dem großen Malsaal, in dem die Ensembleproben stattfanden. Einen Moment blieb Franziska vor der Tür stehen und lauschte. Sie mochte ihn, würde seine Stimme unter tausend Sängern heraushören, aber in diesem Moment verzückte es sie nicht, ihn singen zu hören. Sie wollte Zeit schinden, denn sie war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob sie das Richtige tat.

Als sie schließlich das obere Stockwerk betrat, schlug ihr stickige Luft entgegen, und ihre Schritte hallten leise von den weißen Wänden wider, an denen hier und da einige Regale mit Bühnenbildmodellen vergangener Aufführungen standen. Zu beiden Seiten gingen Türen zu kleineren Proberäumen für die Musiker ab.

Endlich hatte Franziska die Wohnungstür am Ende des Flurs erreicht und wollte gerade auf den Klingelknopf drücken, als Walter öffnete und sie mit einem breiten Lächeln begrüßte.

„Hallo Frau Kommissarin! Schön, dass du gekommen bist.“

Bei seinem Anblick biss sich Franziska auf die Lippen. Walter sah so gut aus! Groß, durchtrainiert, gut gebaut und braun gebrannt. Die vollen dunklen Haare, die schon vereinzelt von einem silbernen Grau durchzogen wurden, hatte er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Haut glänzte feucht, ob vom Duschen oder der Hitze, wagte Franziska sich nicht auszumalen. Er trug bunte Boxershorts, sonst nichts. Kein T-Shirt, keine Schuhe. Einfach nichts.

„Entschuldige, ich hab mich verspätet“, entfuhr es Franziska aufgeregt, und gleich darauf ärgerte sie sich, weil sie nichts Originelleres gesagt hatte, wie zum Beispiel: „Du siehst aber lecker aus!“, oder „Ganz schön heiß in deiner Gegenwart.“

„Auf schöne Frauen warte ich gern auch ein bisschen länger“, wiegelte Walter lächelnd ab, trat aus der Wohnung und zog sie an sich, um sie auf beide Wangen zu küssen.

Franziska spürte die Wärme seiner Haut, die Geborgenheit seiner Umarmung und schloss die Augen. Sie schnupperte an seinem Hals, bis ihr vor lauter Aftershave ganz schwindelig wurde, und sie wusste: Diesem Mann würde sie heute nichts abschlagen können.

„Wollen wir?“

Ohne auf ihre Antwort zu warten, schloss er hinter sich die Wohnungstür und nahm Franziska an der Hand. Er führte sie vorbei an den Proberäumen und zwei Praktikanten, die gerade über die verschiedenen Möglichkeiten, ein Modell zu bauen, philosophierten, die Treppe hinunter und bis in den kleinen Malsaal, in dem, im Vergleich zum großen Pendant, noch handwerklich gearbeitet wurde.

Franziska fand weder Zeit zum Luftholen noch um zu fragen, warum er sie ausgerechnet hierher brachte. Als sie aus dem Nebenraum die Stimme von Carlos hörte, der seine Partie jetzt in Begleitung des Klaviers sang, war sie erleichtert, dass Walter die Tür hinter ihnen schloss. Nie würde sie sich an die Freizügigkeit des Theaters gewöhnen, und bestimmt sah man ihr das in diesem Moment mal wieder an.

Doch Walter zeigte sich unbeeindruckt, wies mit einem Kopfnicken auf ein Podest, das mitten im Raum stand, und lud Franziska mit einer schwungvollen Geste ein näherzutreten. Als sie auf das kleine Treppchen steigen wollte, schüttelte er allerdings den Kopf. Sein Lächeln war breiter geworden, und mit sanfter Stimme sagte er: „Erst ausziehen.“

„Was?“

„Alles.“

„Walter, bitte!“, flüsterte Franziska und sah schnell zur Tür. „Was ist, wenn jemand hereinkommt?“

„Was machst du dir nur wieder für Gedanken? Jeder weiß, dass du dich ausziehen wirst!“

Franziska wurde rot. Dass das jeder wusste, hätte er nicht unbedingt sagen müssen.

Im Rahmen ihrer Ermittlungen im Fall Sophia Weberknecht hatte Franziska den Bühnenkünstler des Städtischen Theaters im vergangenen Herbst kennengelernt. Tatsächlich hatte es eine Weile so ausgesehen, als sei Walter Froschhammer in diesem Mordfall der Hauptverdächtige. Doch während Franziska damit beschäftigt gewesen war, ihm seine Tat nachzuweisen, waren sie sich näher gekommen – allerdings nicht zu nah, denn die Oberkommissarin hatte die Bekanntschaft mit Walter immer als einen Teil ihrer Ermittlungen betrachtet. Als dann der wahre Täter gefasst und der Fall abgeschlossen wurde, hatte Walter ihr eine SMS geschickt und sie gebeten, sich von ihm malen zu lassen. Monatelang hatte Franziska gezögert, ihn hingehalten und vertröstet. Und Walter hatte nicht lockergelassen, bis sie endlich zugesagt hatte. Doch das war nicht der einzige Grund, warum sie heute hier war.

Viel zu schnell hatte Franziska sich in den Bühnenkünstler verliebt, und eigentlich wäre Walter auch der Richtige für sie gewesen, wenn, ja wenn er nicht diesen speziellen Ruf gehabt hätte. In Theaterkreisen tuschelte man, dass er jede Frau, die er malen wollte, zuvor verführte. In diesem delikaten Umstand begründet lägen das Mysterium seiner wunderbaren Bilder und das Schönheitsgeheimnis einer jeden Frau, die er auf der Leinwand festhielt. Natürlich hätte Franziska das Ganze für ein Gerücht halten können. Verwirrend daran war nur, dass Walter sich nie davon distanzierte, nie das Gegenteil behauptet hatte.

Mit diesen Gedanken im Kopf öffnete Franziska der Reihe nach die Knöpfe ihres Sommerkleides, streifte die Träger über die Schultern und ließ den Stoff an ihrem Körper entlang zu Boden gleiten. Sie spürte seinen Blick auf ihrer Haut und sah auf.

„Weiter.“ Er schien völlig unbeeindruckt.

Franziska löste den Verschluss ihres Büstenhalters und streifte die Träger über die Schultern, um ihn dann, versucht gleichgültig, neben ihr Kleid fallen zu lassen. Während sie noch zögerte, trat Walter auf sie zu und schob ihr den Slip über die Hüften.

Als er sich wieder aufgerichtet hatte, ließ er seinen Blick prüfend von oben nach unten und wieder zurück wandern.

„Weißt du eigentlich, wie schön du bist?“, fragte er und hob mit einer zarten Geste ihr Kinn in die Höhe, sodass sie ihn ansehen musste. Seine Augen fixierten die ihren, und Franziska wollte nur noch darin versinken, wollte vergessen, dass jeden Moment einer der Sänger hereinkommen konnte.

So standen sie dicht beieinander, die Sekunden zogen sich in die Länge, aber nichts geschah. Franziska wünschte sich, er würde endlich seinem Ruf gerecht werden, sie umarmen und küssen und was auch immer mit ihr tun, doch er sah sie nur an, mit diesem Blick, dem sie nichts entgegenzusetzen hatte. Wie ein hungriger Löwe, der beschlossen hatte, künftig als Vegetarier zu leben.

Mühsam versuchte sie, sich zu beruhigen, nahm ihren Blick von dem Mann, den sie so sehr begehrte, und ließ ihn stattdessen durch den Raum schweifen. Sie registrierte den großen Tisch, auf dem neben unzähligen Malutensilien Skizzenbücher lagen. Unter Tüchern entdeckte sie einen Stuhl, in der Ecke einen Kleiderständer und an der Wand unter dem Fenster eine Werkbank mit allerlei Gerätschaften darauf. Daneben lehnten Bilder in unterschiedlichen Entwicklungsstadien und Größen, und in einem Regal lagerten Papiere, Pappe, Dosen und Schachteln. Am auffälligsten aber waren die großen Holzplatten, die im hinteren Teil der Werkstatt darauf warteten, bearbeitet zu werden.

Während sie sich noch überlegte, was er wohl daraus bauen wollte, umfasste Walter auf einmal ihre Taille und hob sie wie eine Schaufensterpuppe auf das Podest.

„Entspann dich, du siehst wirklich ganz bezaubernd aus“, schnurrte er und ließ seine Hände auf ihrer Hüfte ruhen. Franziska stand ganz still, versuchte zu nicken, doch ihre Gedanken überschlugen sich, und ihr sonst so vernünftig denkendes Gehirn versagte seinen Dienst.

„Mit deinen Armen müssen wir allerdings noch etwas machen.“

 

Franziska sah ihn an und musste lachen. Die ganze Situation war einfach zu verrückt! Da stand sie nun, nackt und erregt vor einem Mann, der vorgab, sie zu begehren, und über dessen Verführungskünste die halbe Stadt sprach, und alles, was ihm wichtig schien, waren ihre Arme! Walter deutete ihr Lachen falsch.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Es kommt bestimmt niemand rein. Die sind doch alle mit ihrer Probe beschäftigt.“

Beim letzten Satz war seine Stimme zu einem sanften Flüstern geworden, das ihr wie ein sommerlicher Regenschauer über den nackten Körper lief.

Franziska nickte, genoss seine Worte, die langsam über ihre Haut perlten, und fühlte sich sehr sexy, als Walter seine Hände in einer sanften Bewegung so weit nach oben schob, dass sie ganz automatisch ihre Arme hob und eine weitere Welle der Erregung Franziskas Körper überflutete.

Sie schloss die Augen. Gleich würde er sie küssen. Ihre Lippen bebten in heißem Verlangen. Sie konnte sich nicht rühren, war betört von seinem Duft, dieser berauschenden Komposition aus männlichem Aftershave und seinem eigenen Körpergeruch. Sie wusste, dass er ganz nah vor ihr stand, konnte seinen Atem spüren. Sie beugte sich ein wenig vor und verging dabei fast vor Sehnsucht.

Als sie die Augen schließlich öffnete, sah er sie zufrieden an. „Das ist perfekt, bleib so, wie du bist.“

Er drehte sich von ihr weg und ging zu einem Stuhl, auf dem ein Stapel zusammengefalteter Tücher lag.

„Ich hab noch was für dich“, rief Walter, und als er zurückkam, hielt er ein großes, helles Seidentuch in der Hand und lächelte geheimnisvoll. „Sonst fühlst du dich vielleicht ein bisschen nackt …“

„Oh, ich fühle mich großartig!“, log Franziska und versuchte, wieder Herrin der Lage zu werden.

„Dann lass auch schön die Arme oben“, forderte er, und sie gehorchte.

„Ich habe heute etwas ganz Besonderes mit dir vor. Eine neue Kunstrichtung sozusagen. Es wird dir gefallen!“

„Okay“, antwortete Franziska zögerlich, und für einen Moment beschlich sie der Verdacht, es ginge ihm wirklich nur um Kunst. Doch dann wanderten seine Hände mit dem Tuch über ihren nackten Körper und brachten mit seinen Berührungen ihre Haut erneut zum Brennen. Während er den Stoff in Falten legte und mit einer Spange an der Schulter zusammenhielt, stöhnte sie leise auf und biss sich gleich darauf auf die Lippen, bis sie zu kichern begann. Sie wusste selbst nicht warum, aber auf einmal fand sie alles überhaupt nicht mehr peinlich, sondern einfach nur schön und erregend. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er nie wieder von ihr lassen dürfen.

Entsprechend enttäuscht war sie, als er sie plötzlich stehen ließ und zu seinem Arbeitstisch ging, um einen dicken Pinsel, ein Glas mit Wasser und eine Farbpalette zu holen.

Ohne ein Wort zu verlieren, stellte er das Wasser auf einen kleinen Tisch, der neben ihrem Podest stand, tunkte den Pinsel hinein und blickte auf die Farben, als gäbe es in diesem Augenblick nichts Wichtigeres zu entscheiden.

Dann sah er sie an und murmelte: „Rot. Rot wie die Liebe.“ Mit dem Pinsel nahm er Farbe auf, hob die rechte Hand und hielt einen Moment inne, bevor er sehr konzentriert begann, den Seidenstoff direkt über ihren Brustwarzen damit zu betupfen. Überrascht von der Kälte der Farbe wich Franziska ein wenig zurück, musste lachen und nahm dabei die Arme etwas herunter.

Mit einem unschuldigen Blick fragte Walter: „Warum lachst du?“

Franziska zuckte mit den Schultern, sie wusste es selbst nicht, konnte aber auch nicht aufhören. Die ganze Situation war so unwirklich. So ganz anders, als sie es erwartet hatte.

„Du musst schon stillhalten, sonst wird das nichts“, ermahnte er sie streng.

„Ja“, seufzte sie und richtete sich erneut auf. Aber auf ihrem Gesicht lag jetzt ein laszives Lächeln. Sie hatte sein verräterisches Grinsen gesehen, nur ganz kurz, aber es reichte, um seine Masche zu durchschauen.

Als Walter beim nächsten Mal den Pinsel hob, klebte ein sattes Orange an den Borsten. Damit zeichnete er die Erhebung ihrer Brüste, die Konturen der Taille und den Venushügel nach.

Von Bodypainting hatte Franziska schon gehört. Dass man ein Seidentuch direkt auf dem Körper seines Models bemalte, war ihr jedoch nicht geläufig gewesen.

„Ich hatte mir das heute irgendwie anders vorgestellt“, gestand sie kleinlaut, vielleicht, um einfach etwas zu sagen.

„So? Wie denn?“

„Na ja, ich dachte mehr an Papier oder eine Leinwand.“

„Würde dich das anmachen?“

Bei dieser Frage sah Walter sie an, doch keine Regung verriet seine Gedanken.

Franziska schüttelte fast unmerklich den Kopf. „Nein. Aber du scheinst ja auch nicht erregt zu sein.“

Das war jetzt wieder ein typischer Franziskaspruch! Immer, wenn es am schönsten war, musste sie so etwas sagen. Trotzdem war sie gespannt, wie er darauf reagieren würde.

„Woher willst du das wissen?“, fragte er lässig, aber das Grinsen, das in diesem Moment über sein Gesicht huschte, verriet ihn. Franziska konnte nicht antworten. Noch nie hatte ein Mann mit einem einzigen Blick ihren ganzen Körper so in Aufruhr versetzt.

„Na, siehst du! Und jetzt lass schön die Arme oben und sei ein braves Mädchen.“

Doch sie wollte kein braves Mädchen sein und sie wollte schon gar nicht länger die Arme über dem Kopf halten, sie wollte …

„Fertig!“ Walter legte Palette und Pinsel zur Seite und stieg zu ihr auf das Podest. Dann nahm er ihre Arme, die langsam taub wurden, und bettete sie auf seine Schultern. „Das muss jetzt noch ein bisschen trocknen, aber gleich hast du es geschafft.“ Er lächelte, beugte sich nach vorn und streifte mit seinen Lippen ihren Mund. Einmal, zweimal.

Jetzt hielt es Franziska nicht mehr aus. Stürmisch schlang sie ihre Arme um seinen Nacken, Farbe hin oder her, und zog ihn an sich. Sie wollte sich nicht länger mit diesem flüchtigen Darüberhuschen, diesem lustvollen Knabbern zufriedengeben! Es war so schön mit ihm. Nie wieder wollte sie etwas anderes, als ihn zu riechen, zu schmecken und seine Haut auf ihrer zu fühlen. Endlich ließ sie sich fallen, in ein Spiel, das nur aus Lust und Nacktheit, aus Begehren und dem Wunsch bestand, es möge niemals zu Ende gehen.

Doch schon beim ersten Klingelton wusste sie, dass es vorbei war. Für besondere Anrufer hatte sie besondere Anrufsignale, und dieses hier gehörte eindeutig zu ihrem Kollegen Hannes Hollermann.

Auch Walter ahnte, dass das Liebesspiel urplötzlich ein unerwartetes Ende fand, und ließ Franziska los, um ihre Tasche zu holen und sie ihr zu reichen. Wenn Walter sie auch noch nie so nah gespürt hatte wie an diesem Abend, so kannte er sie doch lange genug, um zu wissen, dass jetzt nicht der Moment für Verhandlungen war.

„Was gibt’s?“, fragte Franziska in ihr Handy, und ihrer Stimme haftete noch immer etwas von dem vorangegangenen Zauber an.

„Wir haben einen Toten im Oberhaus“, erklärte Hannes nüchtern. „Kommst du?“

Franziska zögerte. Was, wenn sie nicht kommen würde? Was, wenn sie einfach hier bliebe und mit Walter weitermachte? Wenn sie einfach so tat, als gäbe es kein Oberhaus, keinen Toten, keine Polizei, keine Kollegen – keine anderen?

„Ähm …“

„Wo bist du?“, fragte Hannes, weil es bei Franziska eigentlich nie ein Zögern gab.

„Wo ich bin?“ Franziska schaute sich suchend um. Wo sie war, wollte sie Hannes nicht sagen. Das ging einfach nicht.

„In einer Ausstellung“, soufflierte Walter leise.

„In einer Ausstellung“, erklärte Franziska.

„Und wo?“

„Wo?“, wiederholte Franziska verzweifelt, weil ihr Gehirn offensichtlich noch immer von zu vielen Hormonen am korrekten Arbeiten gehindert wurde.

„Auf dem Mond“, kam es diesmal von Walter.

„Auf dem Mo … Moderne Kunst. Museum für Moderne Kunst“, stotterte Franziska, verdrehte die Augen und war doch froh, dass sie noch einmal die Kurve bekommen hatte. Walter grinste und löste vorsichtig die Spange an ihrer Schulter, um sie von dem feuchten Seidentuch zu befreien.

„Na, dann hast du es ja nicht weit. Bis gleich also!“

Hannes hatte aufgelegt.

„Was sollte denn das eben mit dem Mond?“, fragte sie und schaute an sich hinunter.

„Du schienst mir so weit weg, als wärst du auf dem Mond. Das ist alles.“

Ja, dachte Franziska, aber dieser Moment musste Lichtjahre her sein. Walter brachte ihr ein Handtuch und begann, sie damit von den Farbresten zu säubern.

Doch Franziska wandte sich ab. „Ich hab keine Zeit mehr, sonst fällt es auf.“ Während sie hastig Slip, Büstenhalter und Kleid anzog, versuchte Walter immer wieder, den einen oder

anderen Fleck zu erwischen. Schließlich gab er auf, stellte sich vor sie hin und zog sie ohne zu fragen in seine Arme, und bevor sie protestieren konnte, küsste er sie mit einer solchen Leidenschaft, dass ihre Knie so weich wurden wie Butter in der Sonne. Genauso plötzlich ließ er sie wieder los, reichte ihr die Tasche und drehte sie in Richtung Tür. Dann gab er ihr einen kleinen Schubs, als wollte er nicht, dass sie sich noch einmal umsah.

„So, und jetzt erledigst du brav deinen Job, und wenn du fertig bist, machen wir genau hier weiter!“


Als Franziska auf der Straße stand und in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel kramte, war sie aufgewühlt von Walters Berührungen, verärgert über die Störung durch den Anruf, aber auch neugierig auf den neuen Fall.

Jahrelang hatte sie geglaubt, berufliches Fortkommen und der Mann fürs Leben ließen sich einfach nicht miteinander vereinbaren. Doch dann war der Bühnenbildner in ihr Leben getreten, hatte sie umworben und nicht mehr locker gelassen, bis sie endlich einem Treffen zugestimmt hatte.

Per SMS hatte er ihr damals eine gute Nacht gewünscht und dann mit seiner Schilderung aller möglichen Liebesszenen dafür gesorgt, dass sie nicht einschlafen konnte. Er hatte sich nach ihrem Beruf erkundigt, um lakonisch festzustellen, dass sie viel zu schade für diesen Job war und doch endlich seine Muse werden sollte. Als mögliche Treffpunkte hatte er die verrücktesten Orte vorgeschlagen, und wenn sie dann absagen musste, hatte er geseufzt und gemeint, er würde, wenn das so weiter ginge, noch impotent werden. Franziska hatte diese Zeit genossen und langsam eingesehen, dass sie für ihn keine schnelle Eroberung war, sondern eine Frau, für die er sich etwas einfallen ließ. Schließlich hatte sie ihr Herz in die Hände genommen und sich weich und voller Hormone auf das Abenteuer Walter Froschhammer eingelassen.

Und dann musste, ausgerechnet im allerschönsten Moment, dieses verdammte Handy klingeln. Als ob man ihr diesen Abend nicht gönnen wollte. Als ob das alles, verdammt noch mal, nicht warten konnte!

Aber natürlich konnte sie sich nicht drücken. Sie liebte ihren Job und sie musste sich beeilen, denn Hannes dachte ja, sie sei im Museum für Moderne Kunst. Von der Veste Oberhaus, die weit über der Stadt Passau emporragte, war das Museum praktisch einsehbar, und dieser Umstand sorgte dafür, dass Franziska noch einen Zahn zulegte. Versuchte sie selbst auch das Gerede der Leute zu ignorieren, so wollte sie auf gar keinen Fall, dass Hannes erfuhr, wo sie bei seinem Anruf gewesen war. Er war mehr als nur ihr Kollege. Aber das mit Walter war privat, und Privates ging Hannes nun mal nichts an, beschloss sie, während sie auf der Angerstraße an der Donau entlang fuhr. Zum Glück hatte sich der Berufsverkehr bereits beruhigt, und so kam sie relativ schnell voran, bog nach dem Tunnel zweimal links, dann scharf rechts in die Ferdinand-Wagner-Straße ein und gelangte über die Versorgungsstraße auf den Burghof, wo sie hinter dem Fahrzeug der Kriminaltechnik parkte. Der Porsche vom Chef war noch nirgends zu sehen.

Erst als sie über den Burghof ging, erkannte sie, dass sie, nach allem, was sie für diesen Abend geplant hatte, nicht für die Begehung eines Tatortes angezogen war. Das musste auch der Streifenbeamte am Eingangstor bemerkt haben, denn er musterte sie ungeniert und schenkte ihr dann ein süffisantes Lächeln.

„Durch das nächste Tor in den inneren Burghof und dann am Brunnen vorbei. Dort wartet Ihr Kollege Obermüller.“

Franziska nickte und ging in die Richtung, in die sein Finger zeigte. Im Burghof parkten ein weiteres Fahrzeug der Kriminaltechnik und ein Rettungswagen. Als sie durch die Fensterscheibe ins Fahrzeuginnere des Kriminaltechnikwagens blickte, erkannte sie an ihrem Spiegelbild, dass ihr Kleid nicht richtig geschlossen war.

 

„Tut mir leid, aber Sie können nicht …“ Obermüller tat, als habe er sie nicht gleich erkannt, und grinste anzüglich. „Wird in deinem Kleid vielleicht ein bisschen kalt da unten“, gab er schließlich zu bedenken und reichte Franziska die Hand.

„Danke für den Tipp!“ Franziska versuchte es mit einem Lächeln. „Wo liegt er?“

„Komm mit, ich zeig‘s dir.“Mit schnellen Schritten stürmte Obermüller die Stufen hinunter, und Franziska hatte Mühe, ihm zu folgen.

„Franziska ist da“, rief Obermüller übertrieben geschäftig, woraufhin Hannes im Türrahmen erschien und sie abschätzend betrachtete.

„Du hast da was“, sagte der statt einer Begrüßung trocken und wischte mit dem Finger über einen Punkt unterhalb ihres Schlüsselbeines.

Franziska versuchte seinem Blick zu folgen.

„Farbe“, entschied Hannes, nachdem er seinen Finger inspiziert hatte. „Hast du nicht gesagt, du warst bei einer Ausstellung?“

„Ja. War ich auch.“

„Komisch. Ich dachte immer, bei einer Ausstellung sind die Bilder bereits fertig.“ Der junge Kommissar machte ein nachdenkliches Gesicht.

„Nicht immer“, wich Franziska aus und versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln. „Bist du schon lange hier?“

„Seit einer dreiviertel Stunde.“

„Aha. Dann kannst du mir doch bestimmt schon etwas über den Toten sagen?“ „Ähm, ja.“ Hannes schaute ein letztes Mal irritiert auf ihr Schlüsselbein und wandte sich dann abrupt ab, um mit einem großen Schritt über die Blutlache zu steigen, die sich von der Mitte des Raums bis zum Türrahmen gebildet hatte. Franziska betrachtete den bereits geronnenen, dunkel verfärbten Fleck, der sich auf dem Eichenholzparkett gebildet hatte, und tat es Hannes gleich.

An einer Wand des Raums stand ein Gerüst für die bereits anskizzierten Malerarbeiten, auf dem Boden lagen einige verpackte Gegenstände, die Franziska nicht gleich erkannte. Das kann warten, dachte sie, denn erst wollte sie die Kollegen begrüßen und Näheres von ihnen erfahren. Sie schickte eine Begrüßung in den Raum und drehte sich dann zu Hannes um, der vor dem Toten stehen geblieben war.

„Der Mann heißt Xaver Mautzenbacher und ist zweiundvierzig Jahre alt. Als er gefunden wurde, hatte er seinen Ausweis, eine Kreditkarte, zwanzigtausend Euro Bargeld sowie eine Rolex und einen Schlüsselbund bei sich“, begann Hannes die wichtigsten Fakten aufzuzählen, während Franziska erstmals in das bleiche Gesicht des toten Mannes blickte.

Seine Augen waren geschlossen, der Mund dagegen geöffnet, wie bei jemandem, der auf einer langen Busfahrt eingeschlafen ist. Die Haut schien bereits ein wenig wächsern. Er lag in einer Embryo ähnlichen Stellung ein Stück von der Wand entfernt, wobei die Blutspur zeigte, dass er nicht von Anfang an dort gelegen haben konnte. Neben ihm auf dem Boden lag ein zur Hose passendes dunkles Jackett. Der Tote trug ein Hemd, das einmal weiß gewesen war, eine Krawatte und schwarze Schuhe. Das Hemd war blutgetränkt und so weit aufgerissen, dass Franziska die klaffende Wunde am Bauch mühelos sehen konnte.

„Er muss halb sitzend hinter der Tür gekauert haben“, erklärte Hannes die Position und Lage der Leiche und fing Franziskas fragenden Blick auf. „Die Kollegen mussten ihn zur Seite schieben, um die Tür zu öffnen. Anni hat auch schon eine Theorie.“

Als Annemarie Michl, die Chefin der Kriminaltechnik, ihren Namen hörte, sah sie vom Boden auf, und als sie Franziska erkannte, ließ sie von ihren Fundstücken ab, erhob sich und kam auf sie zu.

„Den Blutspuren zufolge muss er sich an der Tür angelehnt haben, daraus schließe ich, dass er ursprünglich davor saß.“ Franziska fixierte die Blutlache, über die sie beim Eintreten gestiegen war, anschließend den Toten. So wie er jetzt dalag, hätte sie sich nie bilden können.

„Hast du schon eine Vorstellung davon, wie es passiert ist?“, fragte sie die Kollegin und sah sich weiter im Raum um.

„Mit dieser Prunkpartisane.“ Annemarie ging zurück zu der Stelle, an der sie gerade gearbeitet hatte, bückte sich und hob eine in Plastikfolie gewickelte altertümliche Waffe in die Höhe. „Hier!“ Sie reichte Franziska eine Lanze, die diese an der langen dunklen Holzstange, an der eine Blattklinge befestigt war, ergriff. „Er muss sie sich aus dem Bauch gerissen haben und ist dann auf allen Vieren zur Tür gekrochen, konnte sie aber nicht öffnen.“

Franziska betrachtete die Waffe näher und blickte dann fragend Annemarie an.

„Wie sagtest du, heißt das Ding?“

„Prunkpartisane. Stammt aus dem Jahre 1689. Im Mittelalter nannte man die Dinger auch Stoßlanze, und als solche muss sie der Täter auch verwendet haben. Geführt wurden sie von der Leibgarde des Fürstbischofs.“

Die Kommissarin nickte anerkennend. „Was du alles weißt, Anni!“

„Da drüben hängt noch eine alte Tafel mit einer Abbildung der Partisane und einer Beschreibung“, gab Annemarie unumwunden zu. Mit der Waffe in der Hand beugte sich Franziska über den Toten. Sein Gesicht war entspannt, und wenn sie nicht besser über diesen Umstand Bescheid gewusst hätte, hätte sie gedacht, er habe im Sterben noch genug Zeit gefunden, um einen letzten zufriedenen Blick auf sein Leben zu werfen.

Als sie wieder aufsah, stand der Notarzt neben ihr. Er hatte seinen Koffer gepackt, seine Arbeit war getan.

„Ah, Dr. Buchner. Sagen sie, woran ist der Mann Ihrer Meinung nach gestorben?“ Konzentriert fokussierte sie den Mediziner. Buchner war ein routinierter Notarzt, der schon viel gesehen und erlebt hatte. Manches hatte Spuren in seinem gütigen Gesicht hinterlassen. Ihr gefiel seine bedachtsame, freundliche Art, die er niemals ablegte, auch dann nicht, wenn es richtig schlimm wurde. Die Kommissarin vertraute ihm und seinem Urteil vollkommen.

„Ich denke, er ist verblutet. Zumindest sieht es danach aus. Aber Näheres können …“

„… die Kollegen in der Rechtsmedizin in München besser beurteilen. Ich weiß.“ Franziska nickte. „Trotzdem wüsste ich gern, was Sie darüber denken. Sie wissen doch, ich schätze Ihre Meinung.“ Sie schenkte ihm ein aufforderndes Lächeln und fügte verschwörerisch hinzu: „Bis die in München fertig sind …“ Sie beendete den Satz absichtlich nicht. Mit Erfolg: Geschmeichelt erwiderte Buchner ihr Lächeln und setzte zu einer Erklärung an.

„Ich würde Folgendes vermuten: Die Blattspitze ist oberhalb des Nabels in den Bauch eingedrungen und hat spätestens beim Herausziehen die Aorta aufgerissen.“

„Was soll das heißen, die Lanze ist in den Bauch eingedrungen? War es vielleicht Suizid?“

In Franziskas Stimme lag die Hoffnung auf ein schnelles Ende der Ermittlungen.

„Also, das will ich jetzt wirklich nicht entscheiden“, druckste er herum und sah Hilfe suchend zu Annemarie.

„Zumindest weist nichts auf einen Kampf hin. Die Unordnung hier scheint von den bevorstehenden Umbaumaßnahmen zu kommen. So wie der Staub, in dem sich zahlreiche Fußabdrücke verewigt haben.“ Annemarie kratzte sich müde am Kopf und stöhnte. „Nichts Eindeutiges, und vor morgen läuft da gar nichts.“

„Na, das ist doch prima“, fiel Franziska ein. „Dann können wir alle so schnell wie möglich wieder nach Hause auf unser gemütliches Sofa.“

„Ich dachte, du warst in einer Ausstellung?“, wunderte sich Hannes.

„Äh, ja, das sagt man doch so, oder?“, Franziska war genervt. Sie wollte nichts weiter als einen freien Abend für alle herausschlagen.

„Wie auch immer, vergiss deinen freien Abend!“ Annemaries Stimme duldete keinen Widerspruch.

Ohne auf Hannes und Franziska zu achten, beugte sie sich über eine Asservatenkiste und holte ein in Folie gewickeltes Handy heraus. „Sein Telefon lag direkt neben ihm, und die letzte gespeicherte Nummer ist die 110. Das war übrigens um 14 Uhr 33.“

„Er könnte es sich anders überlegt haben und wollte Hilfe holen“, spekulierte Franziska, bis ihr langsam dämmerte, dass etwas nicht stimmte. „Um 14 Uhr 33, sagst du. Und warum sind wir erst jetzt hier?“