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Teil I

Spielen und Lernen verbinden – mit spielbasierten Lernumgebungen
Markus Kübler und Cornelia Rüdisüli
1 Einführung

Der Diskurs über das Spielen von jüngeren Kindern und die Wirklichkeit könnten in keinem grösseren Widerspruch stehen: In medialen Schlagzeilen und in gut verkauften Büchern beschwören Forschende und Erziehende die entscheidende Stellung des Spiels für die Entwicklung in der Kindheit (NLL 2015, Stamm 2016, Zimpel 2011). Crowley (2017) nennt dies das «play ethos». Auf der anderen Seite ist der Anteil der Frühförderung durch direkte Instruktion im Alltag der Kinder stark angestiegen (Blaurock et al. 2014, Edelmann et al. 2018, Stamm 2016). Diese Entwicklung, dass auch 3- bis 5-jährige Kinder in Vorschuleinrichtungen mittels direkter Instruktion in Sprache und Mathematik einer Frühförderung unterzogen werden, ist ganz besonders in den angelsächsischen Ländern anzutreffen (Singer et al. 2009; Hirsh-Pasek et al. 2011; Whitebread et al. 2012; Nicolopoulou 2019). Auch die Ausdehnung überbauter Flächen in der kindlichen Umwelt behindert das freie Spielen der Kinder; deshalb spricht man von einer «Verhäuslichung» und «Verinselung» der Kindheit (Hauser 2016, 41; Meyer 2012; Hüttenmoser 1995/2015; Heimlich 2015, Wannack 2006).

Das Plädoyer für das kindliche Spiel als Entwicklungsmotor und Lernmodus der Kinder hat eine hohe innere Plausibilität: Spielen ist eine allen Menschenkindern innewohnende Tätigkeit. Auch die meisten Säugetierkinder spielen extensiv: Junge Katzen jagen einem Wollknäuel nach und Murmeltierkinder balgen sich ausgiebig. Also muss das Spielen in der Entwicklung von höheren Lebewesen einen evolutionären Vorteil bieten. Die biologische Funktion ist evident: Spielen ist das Einüben später benötigter überlebenswichtiger Fertigkeiten (Kämpfen, Dominanz, Jagen, Fangen, Springen usw.), obwohl dies im Augenblick des Spiels den Spielenden nicht bewusst ist (Hauser 2016). Spiel ist demnach eine Aneignung der Welt (Oerter 2008; Duncker 2015). Diese offensichtliche Funktion des Spiels für die Entwicklung der Kinder lässt sich empirisch nur schwer nachweisen. Das freie Spiel und das freie Explorieren scheinen nicht diejenigen Effekte zu zeigen, die aufgrund obiger Annahmen messbar sein müssten (Alfieri et al. 2011; Fisher et al. 2013; Hirsh-Pasek 2018; Mayer 2004; McInnes et al. 2011; Pellegrini 1998; Skolnik Weisberg 2018; Weisberg et al. 2016; Whitebread et al. 2017). Auf der anderen Seite ist aus verschiedenen Studien bekannt, dass eine Vorverlegung des systematischen Lernens durch direkte Instruktion in den Kindergarten entweder zu keinen oder lediglich kurzfristigen Effekten führt (Alfieri et al. 2011; Dollase 2007; Shuey et al. 2018; Weisberg et al. 2013; Thomas et al. 2006; Stern 2009; Marcon, 2002).

Was ist also zu tun? Diese Befunde scheinen auf den ersten Blick einen unlösbaren Widerspruch zu etablieren: Das freie Spiel ist eher ungeeignet für den lernzielorientierten Kompetenzerwerb, während das systematische Lernen mittels direkter Instruktion auch keinen günstigen Weg für jüngere Kinder darstellt. Ist spielerisches Lernen tatsächlich mit einem an Lernzielen orientierten Lernen vereinbar, wie im Lehrplan 21 postuliert wird? – Dieser Frage wollen dieser Einleitungsbeitrag und die nachfolgenden Kapitel im Buch nachgehen. Wir zeigen auf, dass zwischen freiem Spiel und direkter Instruktion ein Weg existiert, der Spielen und Lernen verbindet – mittels spielbasierter Lernumgebungen. Dazu klären wir zuerst die Stellung des frühen Lernens im deutschschweizerischen Lehrplan 21, dann die Frage nach spielbasierten Lernumgebungen und «Spielen» als begrifflichem Konstrukt, um uns schliesslich den didaktischen Folgerungen zuzuwenden.

2 Lehrplan 21 und die Anforderungen ans frühe Lernen

Mit der aktuellen Einführung des Lehrplans 21 in den deutschschweizerischen Kantonen der Schweiz wird der Kindergarten Teil der obligatorischen Schulpflicht und in einen Zyklus 1 – umfassend die ersten 4 Schuljahre – integriert.[3] Der Schuleintritt erfolgt demgemäss neu mit dem vierten Lebensjahr. Während die bisherigen (seit dem Jahr 2000) sukzessiv eingeführten Kindergartenlehrpläne sich stark an der individuellen Entwicklung der Kinder orientierten, beschrieben und beschreiben Schullehrpläne eher fachspezifische Lernziele. Die verschiedenen didaktischen Traditionen des Kindergartens und der Primarschule bewirken dadurch unterschiedliche Berufssprachen (Wannack 2006, S. 25), die eine förderliche Zusammenarbeit zugunsten der Kinder zumindest erschweren. In der Erarbeitung des Lehrplans 21 wurden diese unterschiedlichen Lernkulturen von Kindergarten und Primarschule erst spät thematisiert und strukturell nicht integriert. Die Kritiker am Lehrplan, welche eine drohende «Verschulung» des Kindergartens anmahnten, schienen recht zu bekommen (NLL 2015; Stamm 2016). Die vielen internationalen Befunde und Mahnungen verliehen dieser Befürchtung einen realen Hintergrund (Pyle et al. 2017, Singer et al. 2009, Siraj-Blatchford et al. 2002, Stamm 2016, Stipek et al. 1995, Wannack 2006, Weisberg et al. 2013). Auch in einer Studie, in der 20 Kindergärten im Kanton Zürich untersucht wurden, stellte sich heraus, dass die Kinder in einzelnen Kindergärten bis zur Hälfte der Zeit in geführten Sequenzen verbrachten (Edelmann et al. 2018).

In der ersten Phase der Lehrplanerarbeitung (2010−2012) sah es so aus, als ob das Konzept des systematischen und im Kern gleichschrittigen schulischen Lernens nun auch für den Kindergarten gelten sollte. Das im Zuge der PISA-Resultate geforderte frühere Einsetzen schulischen Lernens schien nun mit dem Lehrplan 21 Tatsache zu werden (Hauser 2016). Bald wurde aber klar, dass die unreflektierte «Verschulung» des Kindergartens weder wissenschaftlichen Befunden noch dem Bedürfnis der Kinder entspricht und letztlich politisch nicht durchsetzbar sein würde. In der Folge wurde in der zweiten Phase der Lehrplanformulierung und -erarbeitung (2012−2014) das Lernen von 4- bis 8-Jährigen in einem speziellen Kapitel − im Grundlagenkapitel - zum Lehrplan beschrieben. Grundgedanke dabei ist, dass spielerisches und systematisches Lernen ein Kontinuum sei, dass also Kinder im Zyklus 1 in den ersten vier Schuljahren vom spielerischen zum systematischen Lernen finden können. Hierbei wird deutlich, dass dieser Übergang nicht als Bruch zwischen Kindergarten und der ersten Primarklasse zu verstehen ist.

Im Lehrplan – speziell auf den Zyklus 1 zielend – wurden folgende Grundlagensätze formuliert:

«Wenn Kinder spielen, lernen sie gleichzeitig. Jüngere Kinder lernen beim Beobachten, Imitieren, Mitmachen, Gestalten oder im Gespräch. Ihre Aktivitäten werden dabei in erster Linie von ihren Interessen und der Motivation geleitet, die eigenen Fähigkeiten zu erproben und zu erweitern. Im Spiel können sich viele Kinder über eine lange Zeitspanne in eine Aufgabe oder eine Rolle vertiefen, eine hohe Konzentration aufrechterhalten und spezifisches Wissen erwerben. Dabei erleben Kinder Spielen und Lernen als Einheit.»

«Spielmaterial und Lernumgebungen knüpfen an bereits vorhandenen Interessen der Kinder an, sind aber auch geeignet, Neugierde zu wecken und neue Interessen zu generieren. Sie beinhalten die Möglichkeit zum Explorieren und Experimentieren und sind auf die im Lehrplan formulierten Kompetenzen ausgerichtet. In den Innenräumen stehen den Kindern verschieden konzipierte Spiele und Lernumgebungen offen: Räume für Rollenspiele und Inszenierungen, Forscherecken, Bau- und Konstruktionsecken, Mal- und Bewegungsräume, Spiel und Bücherecken für mathematische, strategische und sprachliche Herausforderungen usw. Im Aussenraum des Schulareals werden ebenfalls verschiedene Aktivitäten angeregt. Ergänzend bieten sich Aussenräume wie Waldplätze, Wiesen, Bachläufe, Spiel- und Sportplätze in der näheren Umgebung als ideale Lernorte zum Sammeln von Erfahrungen und zur Schärfung der Wahrnehmung an» (D-EDK 2016, Lehrplan 21, Grundlagen, 2016, S. 25).

Unbestritten ist offenbar – wie der Lehrplan 21 formuliert –, dass «Spielen die Lernform der jüngeren Kinder» ist.

3 Kinder brauchen Umgebungen für ihr Spielen und Lernen

Kinder brauchen für ihr Spielen und Lernen Umgebungen. Das können von Erwachsenen bewusst gestaltete Lernumgebungen (Spielplätze, Spielzeuge, Kinderecken, schulische Angebote usw.) oder die zufällig in der Nähe vorhandenen Räume (Strassen, Naturräume, Parks usw.) sein. Dabei bieten natürliche Umgebungen von allen Lebensräumen den höchsten Grad an Selbsterfahrung und Autonomie (Meyer 2012). Kinder spielen in diesen natürlichen Umgebungen vielfältiger, fantasievoller und kreativer, nehmen etwa Singer et al. (2009) und Kiener (2004) an; allerdings ist der Zusammenhang zwischen Natürlichkeit der Umgebung und der kindlichen Entwicklung noch wenig erforscht (Meyer 2012). Die starke Urbanisierung und die immer dichtere Nutzung der natürlichen Umwelt sowie die gesteigerte Wahrnehmung von möglichen Gefahren hatten eine zunehmende «Verhäuslichung» der Kindheit zur Folge (Meyer 2012, Heimlich 2015, Hüttenmoser 2015). Kinder in ländlichen Umgebungen haben, weil sie selbständiger agieren können, mehr Sozialkontakt mit Gleichaltrigen und sind deshalb sozial kompetenter (Hüttenmoser 2015). Aus den genannten Gründen ist das Angebot, das die Eltern zu Hause bewusst und als Folge ihrer Lebenswelt zur Verfügung stellen, zunehmend als prägend zu bezeichnen. Kinder in anregungsreichen häuslichen Umgebungen (Anzahl Bücher, erzählte Geschichten usw.) haben bessere Startchancen als diejenigen, die kaum über solche Angebote verfügen. Hierbei sind das Einkommen und die Bildung der Eltern eine entscheidende Variable (Bradley et al. 2001).

In den meisten Publikationen wird die Notwendigkeit von qualitativ hochstehenden Spiel- und Lernumgebungen betont. So wird wiederholt die «Gestaltung anspruchsvoller, anregungsreicher, entwicklungs- und beziehungsförderlicher Umgebungen» (Stamm 2011, S. 145) gefordert, die von Erwachsenen auf ein Lernziel hin konstruiert und strukturiert werden (Toub et al. 2016, Massey 2013, Weisberg et al. 2016; Bergen 2018; Hauser 2016, Crowther 2012; Crowley, 2017).

In der Literatur werden auch verschiedene Begriffe und Anforderungen für Spiel- und Lernumgebungen formuliert. So wird etwa von «high quality, sustaining playful learning environments» (Broadhead et al. 2010) oder vom «Bereitstellen von offenen Freiräumen mit Aufforderungscharakter» (Lohmann 2017), vom «enabling environment» (Meyer 2012), von «stimulating learning environments» (Siraj-Blatchford 2007), von «creating a supportive environment» (Gauntlett et al. 2013) oder von «instruktiven Lern- und Spielumgebungen» (Wood 2009) gesprochen. Die Rolle der Erwachsenen (seien es Eltern oder Lehrpersonen) bei den Spielangeboten wird dabei als zentral angesehen: «The adult’s role is to prepare the environment and use open ended prompting to encourage the child toward the learning goal, but children must navigate their own path through the learning context» (Weisberg et al. 2016, S. 178). Lehrpersonen sollen also «intentionally plan and scaffold» (Massey 2013) oder «adults provide material» (Whitebread et al. 2012; Fisher et al. 2011; Smith et al. 2013; Siraj-Blatchford 2007; Siraj-Blatchford et al. 2002). Erwachsene müssten dabei (bezogen auf das Freispiel) nach dem Bereitstellen und Gestalten von Freispiel-Umgebungen für den «teachable moment» bereit sein (Glauser et al. 2018).

Über die Bedeutung von bewusst auf ein Lernziel hin gestaltete Spiel- und Lernumgebungen scheint man sich weitgehend einig zu sein. Dennoch fehlt es an konkreten Beschreibungen oder an Qualitätskriterien für Spiel- und Lernumgebungen. Das bedeutet, es mangelt an für die Praxis brauchbaren theoretischen Überlegungen zu Spiel- und Lernumgebungen. – Ansätze dazu findet man bei mathematischen Lernspielen, bei denen vier Kriterien für Spiel- und Lernumgebungen formuliert werden. Es sind dies: Ähnlichkeit, korrekte Sachlichkeit, Lehrplan- und Zukunftsrelevanz, Altergemässheit (Gasteiger et al. 2015). – Allgemein wird gefordert, dass Lerninhalte in das Spiel eingebaut werden müssten (Hassinger-Das et al. 2016). Insgesamt wird der Begriff der Lernumgebung (engl. learning environment) wenig spezifisch verwendet und ist nicht näher definiert. Grundsätzlich kann man darunter eine «Metapher für ein planvoll hergestelltes Arrangement, bestehend aus didaktischen, methodischen, materiellen und medialen Komponenten» verstehen (Wahl 2013, S. 37; auch Niggli 2013). Lernumgebungen sind – folgt man dem Lehrplan 21 – denn auch die zentralen Elemente eines guten Unterrichts: «Inhaltlich attraktive und methodisch durchdachte Aufgaben und Lernaufträge sind die zentralen fachdidaktischen Gestaltungselemente von Lernumgebungen und bilden damit das Rückgrat guten Unterrichts. Sie sind Quellen der Motivation und Ausgangspunkte für Schülerinnen und Schüler, sich auf fachliche Themen und Gegenstände einzulassen. Die Aufgaben werden auf die mit dem Unterricht verfolgten Zielsetzungen abgestimmt» (D-EDK 2016, Grundlagen, S. 27). Wenn Lernumgebungen letztlich «das Rückgrat guten Unterrichts» sind und wir sie spielerisch gestalten, entstehen «spielbasierte Lernumgebungen», die sowohl den Kriterien des Spielens als auch denjenigen des lernzielorientierten Lernens entsprechen − also Lernen und Spielen verbinden (Kübler 2018).

4 Spielen und Lernen verbinden

Das Ringen um eine adäquate Definition von Spiel hat zu verschiedenen Kriterienlisten geführt, die bis zu 60 Merkmale aufführten, (Pellegrini et al. 2007; Crowley 2017). Auch unterschied man die Sicht der Erwachsenen auf das Spiel (kriteriengeleitet, beobachtbarer Zustand) von der Sicht der Kinder (Selbstwahrnehmung, innerer Zustand, Playfulness) (Howard 2002). Playfulness meint dabei als Fähigkeit, Bereitschaft und Freunde von Kindern sich auf das Spiel(en) einzulassen (Wustmann Seiler, 2019). Es ist bemerkenswert, dass schon Drei- bis Sechsjährige zwischen Spielen und Arbeiten differenzieren (können). Die entscheidenden Faktoren für die Kinder sind die Wahlfreiheit, die Autonomie und die Selbstkontrolle. Dies zeigt sich unter anderem, dass Kinder Tätigkeiten am Tisch und mit Erwachsenen weniger als Spiel empfinden. Trotzdem sind Erwachsene in der Regel willkommene Spielpartner und werden nicht selten von den Kindern zum gemeinsamen Spielen aufgefordert (Howard 2002). Unstrittig ist auch, dass Erwachsene kindliches Spielen und Lernen durch anregende Materialien und Spielimpulse stimulieren können, dürfen und sollen (Bradley et al. 2001; Siraj-Blatchford et al. 2002; Siraj-Blatchford 2007; Smith et al. 2013). Dass Erwachsene eine wichtige Rolle beim Spiel der Kinder einnehmen sollen, lässt sich durch verschiedene empirische Befunde der Lern- und Entwicklungspsychologie belegen.

So wissen wir aus lernpsychologischen Befunden, dass mit vollkommen offenen Lernsettings eher ungünstige Lernergebnisse einhergehen. Alfieri et al. (2011) zeigten in einer Metaanalyse von 164 Studien auf, dass Instruktion bessere Ergebnisse zeitigt als unbegleitetes entdeckendes Lernen und das «unterstützte Entdecken» (enhanced discovery) und noch mehr das «geführte entdeckende Lernen» (guided discovery) wiederum der Instruktion überlegen sind. Erklärt werden diese Effekte mit den begrenzten metakognitiven Fähigkeiten und dem noch nicht vollständig entwickelten Arbeitsgedächtnis der Kinder. Ein Fehlen an sachlicher und didaktischer Struktur begrenzt die Effekte von selbstgesteuertem Spielen und Lernen (Alfieri et al. 2011, S. 2−11). Noch klarer formuliert Mayer in seiner Übersicht, dass reine Exploration ohne Hilfestellung eine «formula for educational disaster» – übersetzt eine «Formel für Bildungskatastrophe» – sei (Mayer 2004, S. 17). Die noch nicht genügend entwickelten metakognitiven Fähigkeiten und die noch beschränkten Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses sind insbesondere bei jüngeren Kindern in der Gestaltung von Lernsettings zu berücksichtigen. Der steile Anstieg der Arbeitsgedächtniskapazität zwischen 5 und 10 Jahren (Ullman et al. 2014) geht einher mit dem Übergang vom inzidentellen (zufälligen) zum systematischen Lernen (Duncker 2015). Gleichzeitig muss jedoch erwähnt werden, dass gerade Kinder im Alter zwischen 4 und 8 Jahren eine enorme Streuung in der Arbeitsgedächtniskapazität – etwa um den Faktor 7 – aufweisen. Die Arbeitsgedächtniskapazität ist zudem ein starker Prädiktor für spätere schulische Leistungen (Ullman et al. 2014). Nachweisbar ist, dass unter Spielbedingungen eine bessere Fokussierung, positivere Emotionen, erhöhte Metakognition und zielgerichtete Strategien festzustellen sind (Hauser et al. 2014; Hood et al. 2016; Weisberg et al. 2013; Kangas 2010; McInnes, Howard, Miles. & Crowley, 2011). Offenbar gelingt es Kindern unter spielerischen Bedingungen, sich auf eine Situation oder einen Gegenstand besser zu konzentrieren. Das ist angesichts der noch beschränkten Arbeitsgedächtniskapazität und der noch kleinen Wissensbasis zentral (Ullman et al. 2014; Stern 2009; Sodian 2008). Demnach wäre also nicht das spirlerische Arrangement an und für sich der Grund für die besseren Lernergebnisse, sondern die höhere Konzentration gepaart mit grösserer Motivation (Kangas 2010; Leuchter 2013; Stipek et al. 1995). Dies würde erklären, warum wir einen «lack of evidence» für den Zusammenhang zwischen Spielen und Lernen finden (McInnes et al. 2011). Dazu kommt, dass die Wissensbasis von jüngeren Kindern häufig in informellen Situationen erworben wird und längere Zeit intuitives Wissen bleibt, das in Gesprächen mit Kindern selten abgefragt werden kann (Baroody et al. 2005; Sodian 2008).

Obige Befunde passen auch gut zur evolutionsbiologischen Erklärung kindlicher Entwicklung, nach der das Spiel in einer natürlichen Umgebung den Kindern Vorteile im Bereich späterer überlebensnotwendiger Fähigkeiten verschafft, zum Beispiel im Bereich der körperlichen Fitness und der motorischen Koordination (Bewegungsspiele), im Bereich der Kampf- und Dominanzfähigkeiten (Raufspiele) und im Bereich von sozialen und theoretischen Denkfähigkeiten (Phantasie- und kooperative Spiele) (Pellegrini et al. 1998). Spielen wäre demnach vor allem bei Arten verbreitet, die eine lange Reifezeit haben und in variablen und instabilen Umwelten leben und somit ein flexibles Verhaltensrepertoire benötigen. Durch das Spielen werden Tätigkeiten nachgeahmt, um potenzielle Lösungen auf ein noch nicht aufgetauchtes Problem vorzubereiten (Pellegrini et al. 2007). Diese biologisch primären Fähigkeiten («biologically primary skills») – so die Argumentation – würden durch das Freispiel natürlicherweise genügend gefördert, sofern ausreichend Zeit und Raum zur Verfügung steht. In einer modernen kulturellen und gestalteten Umwelt ist jedoch der Erwerb zusätzlicher Kulturtechniken und Fähigkeiten («biologically secondary skills») notwendig. Dafür benötigen Kinder Unterweisung und Instruktion. Das Freispiel ist also weniger effektiv, wenn es gilt, ein Lernziel zu erreichen. (Toub et al. 2016) (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1 Biologisch primäre und sekundäre Fähigkeiten nach Toub et al. (2016) und Weisberg et al. (2018)


SpielformBeispiele
Biologisch primäre Fähigkeiten wie Motorik, Kommunikation, soziales Handeln usw.Freies SpielInitiative, Auswahl, Steuerung durch das Kind; passive AngebotsstrukturBewegung im Raum (Körperbeherrschung, Springen, Laufen, Raufen), Verhandeln, Kompromisse schliessen, Perspektivenwechsel
Biologisch sekundäre Fähigkeiten wie mathematische, musikalische, sprachliche Muster; GesetzmässigkeitenGeführtes SpielInitiative durch Erwachsene; Auswahl, Steuerung durch das Kind; aktive AngebotsstrukturSuche nach Zahlenmustern, Regeln der Sprache, Zusammenhänge in der Natur und Kultur

Demnach wird zwischen biologisch primären Fähigkeiten, die Kinder in vormodernen Gesellschaften durch Nachahmen und spielerisches Wiederholen im freien Spiel meist selbständig und beiläufig erwerben, und biologisch sekundären Fähigkeiten unterschieden (Toub et al. 2016, S. 121 ff.; Weisberg et al. 2018). Argumentiert wird dabei mit dem Verweis auf die Jäger-Sammler-Gesellschaft. Dies ist leider aber weitgehend Spekulation, da wir nur wenig über die sozialen Bedingungen menschlicher Existenz vor 10 000 Jahren wissen. Spielen setzt immerhin voraus, dass Menschen in relativ sicheren Verhältnissen leben (Pellegrini et al. 2007). Ob das unter eiszeitlichen Bedingungen der Fall war, darüber wissen wir wenig. Aber Spielen hat sicher dazu beigetragen, dass ein Verhaltensrepertoire für unvorhergesehene Situation elaboriert wurde, da Spiel zwar bestehendes Verhalten nachahmt, aber auch im Sinne der «variety of routines» (Pellegrini et al. 2007, S. 269) moduliert. Die Instruktion und das Lernen durch Nachahmung hat demnach den Nachteil, dass diese Strategien rein konservativ und damit wenig innovativ sind. Spielen im Sinne der Verhaltensmodulierung ermöglicht spontane Rekombinationen von altem Verhalten zu neuen Varianten (Pellegrini et al. 2007, S. 267).

Geht es jedoch darum, dass Kinder bestimmte biologisch sekundäre Fertigkeiten erlernen sollen, etwa Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, mathematische und naturwissenschaftliche Gesetzmässigkeiten sowie Musik und Malerei, dann ist das inzidentelle Lernen bzw. das freie Spiel nicht besonders lernwirksam (siehe Alfieri et al. 2011; Mayer 2004). In diesem Fall sind Materialangebot, Strukturierung, Impulse und die Begleitung durch Erwachsene erforderlich.

Dieser Argumentation folgend, lässt sich festhalten: Auch wenn unsere Umwelt immer mehr durch menschliche Eingriffe gestaltet und gezähmt wird, lernen Kinder auch heute noch grundlegende Fertigkeiten im freien Spiel. Durch dieses freie Spiel werden aber nicht alle erforderlichen Kompetenzen unserer Gesellschaft gefördert. Deshalb sind gezielte Interventionen der Erwachsenen als Ergänzung von Bedeutung. Das Gegensatzpaar «play ethos» versus «direkte Instruktion» als Gegensatz («dichotomy») bringt das Dilemma zwar auf den Begriff, trägt aber nichts zu einer Lösung bei. (Nicolopoulou 2013; Toub et al. 2016; Weisberg et al. 2016; Stipek et al. 1995). Dass Kinder unter spielerischen Bedingungen effizient lernen und frühe Instruktion einem fade-out-Effekt unterliegt, ist nur zu gut bekannt. Seit 10 Jahren wird in der Forschungsliteratur deshalb das spielerische Lernen (playful learning), – also die Verbindung zwischen Spielen und Lernen als eine Kombination aus freiem und angeleitetem Spiel, diskutiert. Dabei spielen die von Erwachsenen gestalteten Spiel- und Lernumgebungen eine zentrale Rolle.

Für die theoretische Debatte wie auch für die praktische Arbeit mit Kindern benötigen wir daher keine Dichotomie von Spielen und Lernen, sondern ein Modell des Spielens, als Kontinuum, welches den systematischen Übergang wie auch die Kombination verschiedener Spiel- und Lernformen darstellt. Das spielerische Lernen umfasst demnach nicht mehr nur freies Spiel, sondern auch begleitetes oder geführtes Spiel, Regelspiele und Lernspiele (Hirsh-Pasek 2018).