Die Wölfe von Pripyat

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13Der Schlund

Im Jahr 1016 des Konsuls

Kein Signal.

Niemand wurde vom Blitz getroffen, niemand ging verloren. Emma versuchte Jackies leuchtende Hände im Blick zu behalten. Als der gröbste Regen vorbei war, zogen sie ihre Regenmäntel über, nur Potz nicht, der das Wasser zu genießen schien, und marschierten los, durch das beständige, gleichmäßige Plätschern. Emmas Mantel war rot, Jackies war blau und Grubers gelb. Wie Zwerge im Wald, dachte Emma. Im Gehen summte Potz Melodien, die sie nicht kannte, und ihre Augen waren so müde, dass sie einfach nur mehr der Melodie hinterherstolperte, der Stimme folgte, und ein wenig glaubte sie, dass er nur ihretwegen summte. Erst als die Sonne schon hoch über dem Berg stand, machten sie Rast zwischen einigen Felsen. Sie packten ihre Müsliriegel aus, Potz fädelte Pilze auf ein Stück Draht, um sie über einem Feuer zu rösten. Emma wusste weder, wann er die Zeit gehabt hatte, sie zu sammeln, noch wie er das Feuer zustande gebracht hatte: Alles triefte vom Unwetter der vergangenen Nacht. Emma lehnte sich an einen Felsen. »Wir werden mehr Proviant brauchen«, sagte Potz, »wenn wir gegessen haben, werden wir dort unten auf den Lichtungen unser Glück versuchen, dann gehen wir weiter in diese Richtung.« Er deutete in die Landschaft, für Emma war es einerlei. Die ganze Welt war entweder zu nah oder zu weit entfernt, um sich zu orientieren. »Wir werden Funkstationen umgehen, daher wird es länger dauern als der direkte Weg«, fuhr Potz fort.

»Wir müssen schlafen«, sagte Emma, wie betäubt schien ihr Kopf immer wieder nach vorne oder hinten kippen zu wollen. Sie war froh, dass er ganze Sätze verwendete, das taten heute nur noch wenige. Potz lachte: »Noch nicht. Wir müssen Abstand zwischen uns und das Lager bringen. Inzwischen wird man uns vermissen.« Sie schlang die Arme um den Körper. Wenn sie müde war, fror sie. Ihre Schuhe waren nass, sie machten ein quatschendes Geräusch bei jedem Schritt. Potz hielt ihr den Draht mit den Pilzen hin, sie griff nach einem, ihr Magen knurrte. Nun bemerkte sie erst, dass Potz seine Schuhe ausgezogen hatte. Feste Boots, an den Schnürsenkeln zusammengebunden und über die Schulter gehängt. Dass seine Füße so etwas aushielten, all die Zweiglein, Wurzeln und Steinchen hier draußen, doch er schien es richtig zu genießen und die Erde, die ihm zwischen die Zehen gequollen war, trocknete auf seiner Haut.

Jackie schien sich an Gruber gewöhnt zu haben, hing an ihm und auf ihm, als gehörte er jetzt ihr. Sie schenkte Tee aus einer Thermoskanne in den Verschluss und schlürfte laut. Dann hielt sie Emma ein Säckchen mit Nüssen hin. Diese hatte sich noch gewundert, wie Jackie den Rucksack überhaupt tragen konnte, so voll an allem Möglichen schien er, bemerkte aber jetzt, dass Gruber sich dieser Aufgabe angenommen hatte. Manche fanden immer einen Dummen. Da sprang Jackie auf, blickte in die Ferne, sank aber gleich wieder auf ihren Platz zurück, als glitchte sie. Blitze im Kopf, dachte Emma.

»Was war das?«, fragte sie Potz.

»Jackie sieht Dinge«, sagte er und strich Jackie über den Kopf. Sie lächelte, das konnte sogar Emma sehen, als sei sie ein Hündchen, das gerade von seinem Herren gelobt wurde.

Sie hätte zurückgehen sollen. Sie hatte doch nichts getan. Das alles war Jackies Problem. Davonzulaufen war auch damals, als sie gemerkt hatte, dass ihr Aufenthalt in der Bibliothek Folgen haben würde, ihr erster Impuls gewesen. Sie war nicht nach Hause gegangen, nachdem sie die Nachricht erhalten hatte, vorstellig zu werden. Der Log hatte sie informiert, dass sie einen neuen Termin hatte: Gespräch beim Informationsservice. Sie starrte die Nachricht an, wusste nicht, wohin mit sich. Zitternd hatte sie sich in ein Café gesetzt, und als sie bezahlte, war ihr klar, dass der Log die Kosten in den Account eintrug. Sie hatte doch nichts getan. Das hier war Jackies Problem. Jackie hatte jemanden umgebracht. Sie wiederholte gedanklich: umgebracht. Einen Menschen.

Da lächelte Jackie sie an. Jackie konnte doch niemanden umgebracht haben. Sie sah aus, als würde sie in tausend Scherben zerspringen, wenn man sie zu hart anblickte. »Du hängst da mit drin«, sagte Potz, als hätte er erraten, was sie dachte. »Du hast uns rausgelassen«, er zündete eine Zigarette an, eine echte, »und das Mütterchen mit dem Kuchen ist längst vorbeigegangen.« Er nagte die letzten Pilze vom Draht: »So, hopp, weiter. Die Blindschleiche kommt mit mir, Beeren, Pilze, Sauerampfer, was ihr findet.«

»Ich erkenne keine«, begann Gruber, doch Potz unterbrach ihn: »Jackie erkennt sie. Und wenn ihr einen Bären seht, macht euch groß oder stellt euch tot. Versucht nicht, auf einen Baum zu flüchten. Die klettern besser als ihr.«

»Bären?«, flüsterte Gruber, doch Jackie mit ihrem delikaten kleinen Porzellangesicht schien nicht die geringste Miene zu verziehen. Ein Bär war eben kein Blitzschlag.

»Warum willst du den Konsul überhaupt bitten? Wenn hier nicht Union ist, könntest du ja dann gleich in der Goldenen Stadt bleiben«, sagte Emma nun. Das alles kam ihr nun doch bedenklich vor, defragmentieren konnte sie es nicht. »Emmchen, Emmchen, wie aufmerksam«, sagte Potz spöttisch. Ja, daran hatte Potz wohl nicht gedacht, er hielt sich für klüger als alle anderen. Sie hatte doch gewusst, dass er keinen Wert auf eine unbefleckte Akte legte. Dem war bestimmt auch egal, ob er je wählen durfte.

»Wir bitten dort nicht für uns, wir retten die Welt«, grinste er sie an.

»Die Welt?« Sie kniff die Augen zusammen, um ihm zu signalisieren, dass sie ihn für lächerlich hielt. Was für ein Unfug.

»Ja, die Welt. Alle Erinnerung der Welt«, grinste er immer noch.

»Alle Erinnerung der Welt«, wiederholte sie mechanisch. Er kramte ein kleines Notizbuch hervor: »Ich habe ausgerechnet, wann der nächste Sonnensturm kommt. Zumindest in etwa. Das ist nicht einfach zu berechnen. Das ist schließlich nicht bloß Wind und Regen, sondern Magnetismus. Der Log muss Taten setzen, sonst ist alles gelöscht, alles, was je gespeichert wurde, jede Erinnerung, dein, ja, auch dein Log. Die Zivilisation würde zusammenbrechen.« Emma überlegte kurz. Sie hatte Karell schon so lange. Als fände sie die Antwort in den dunklen Baumwipfeln oder den auseinanderstrebenden Farnen, sah sie sich um. Was täte sie ohne Karell? »Und dafür braucht es dich?«, fragte sie wieder. »Du glaubst nicht, dass sich der Konsul schon darum gekümmert hat?« Potz schüttelte den Kopf: »Ich habe mit magnetischen Impulsen Versuche gemacht. Der Log ist dafür nicht bereit. Die haben nicht an die Sonne gedacht. Sie hätten an alles denken müssen.« Emma wusste nicht, was sie davon halten sollte. »Wir sollten zusammenbleiben«, sagte Potz nun ohne das Grinsen, »die Bären«, fügte er an.

Emma schlich also wieder dem Potz’schen Summen hinterher, ärgerte sich über ihre Blindheit, seine Worte hallten in ihrem Kopf nach: Jeder dunkle Fleck konnte ein Bär sein und Magnete störten den Log. Sie wusste nicht, was schlimmer war. Manchmal sah sie Bären in den Zweigen hängen. Manchmal glaubte sie Karels Vibrieren zu spüren. In ihrem Kopf verhandelte sie mit den Bären, die sie doch nie zu treffen hoffte. Jackie hätte ihnen geräucherten Fisch und Käse aus ihrem Rucksack gereicht, als zollte sie ihnen Tribut auf dem Weg durch den Wald, und die Bären hätten sie ruhig weiterziehen lassen. Wie in einem Märchen, als könnten die Bären sprechen. Ihre Schuhe machten immer noch dieses Geräusch, die Füße in den Socken mussten schon ganz aufgeweicht sein. So trottete sie dem Summen nach und wusste nicht, was sie hier eigentlich tat, denn sie konnte ohnehin nichts pflücken, da sie kaum etwas sah. Vielleicht war sie Bärenfutter. Potz blieb stehen, hielt ihr etwas vor das Gesicht: »Riech.« Es stank abscheulich, aber auch frisch. »Was so riecht, kann man essen«, meinte er, dann entfernte er den Farn aus ihrem Gesichtsfeld und deutete um sich: »Alles, was so riecht.« Sehen musste sie dafür nicht, das ist wahr. So brachten sie einige Zeit zu, Potz’ Summen war manchmal näher und manchmal ferner, aber immer hörbar. Nach einiger Zeit machten sie sich auf den Rückweg und Potz fragte, ob sie von hier alleine zurückfände und sie nickte. Sie konnte die Umrisse des Felsens von hier aus sehen. Sie erinnerte sich wieder an das Spiel, das sie in ihrer Kindheit im Virtuali gespielt hatte, aber sie war nie weiter als bis Level vier gekommen, sie hatte nicht einmal einen Wolf gezähmt und konnte sich an die Pflanzen und ihre Gerüche kaum erinnern. Das Spiel hätte sie für das jetzt vorbereiten können. Potz’ Summen war ihre einzige Sicherheit. Vielleicht kannte er das Spiel auch, hatte es sogar zu Ende gebracht. So ging sie weiter, als es plötzlich stumm wurde um sie und nur mehr das Laub, das Quietschen ihrer Schuhe, das Brechen der Zweiglein zu hören waren. Als seien alle Tiere verstummt: Die Vögel sangen nicht mehr. Sie lauschte, schob ihre Füße langsam aus den Sneakern, drückte sich an einen Baum. Da ertönte ein Dröhnen über ihr, der Wind tobte, das nasse Laub klatschte ihr ins Gesicht, Zweige brachen und die Tiere des Waldes schienen zu schreien und zu kreischen. Sie rannte los, nicht wissend, in welche Richtung sie sollte, um dem Toben aus dem heiteren Himmel zu entgehen, stolperte dahin und stürzte schließlich über etwas Weiches. Jedoch war es nicht, wie sie befürchtete, ein schlafendes Bärenkind, sondern Jackies Rucksack, und um sie beide tanzte das Laub. Wo war Jackie? Wo war Gruber? Emma griff nach dem Rucksack und rannte weiter, hörte Jackie rufen: »Das Geschrei der Bäume von Nordwesten!«, als das Getöse plötzlich tiefer zu werden schien. Jetzt begriff sie, dass über ihnen ein Helikopter war. Sie lief in die andere Richtung, rannte und wusste, dass es für Jackie nicht gut ausgegangen war, wusste, dass sie gefunden worden war, bis jemand sie von hinten packte, in eine Richtung zerrte, über einen kleinen Abgrund stieß und in das Erdreich unter einen halb vom Sturm entwurzelten Baum zog. Sie wollte schreien, presste den Rucksack an sich, doch Potz umschloss sie mit den Armen, drückte ihr Gesicht in die schwarze Erde, den Schlund eines gewaltigen Wurzelwerkes über ihnen. Als hätte die Erde sie verschluckt. Der Rucksack pulsierte, und mit Potz’ Körperwärme um sich gab ihr Geist es endlich auf, ihren Körper wachhalten zu wollen. Sie fiel in einen ohnmächtigen, traumlosen Schlaf.

 

14Häschen aus dem Hut

Im Jahr 1 vor dem Konsul

Aus dem Newsfeed im Jahr 1 vor dem Konsul

Friedensmission abermals mit Hilfskonvois auf dem Weg ins Goldene Reich

Frank wusste nicht Dinge, er wusste Dinge besser. Frank hatte alles studiert, aber von allem stets nur das erste Semester. »Magie!«, rief Soligie, als sie ihn kennenlernte, und er kicherte in sich hinein, nicht Magie, sondern Technologie stand dahinter, wenn er ihr das Häschen aus dem Hut zauberte, und sie hegte und pflegte es, bis es nach zu langen Jahren starb. Alles erschuf er für Soligie. Mit Soligie ging die Sonne auf. Mit Soligie ging sie unter. Irgendwann einmal. Vor langer Zeit. Frank war überzeugt: Alles auf der Welt musste erkauft werden und auch jede Liebe war käuflich. Man musste nur die Währung herausfinden. Bei manchen mochten es Handtaschen, Schuhe oder beides sein, bei anderen waren es Nettigkeiten und der Versuch, ernsthaft ein liebenswerter Mensch zu sein und sich um jemanden zu kümmern. Soligie wollte lieben und geliebt werden, und das Häschen half mit.

Sie wühlte mir ihren Fingern im Hasenfell und merkte: So lange könne ein Häschen doch gar nicht leben. Soligie hatte jahrelang keinen Gedanken daran verschwendet, wie lange ein Häschen leben konnte, sie hätschelte es, fuhr mit den Fingern durch sein Fell und liebte es wie ein Kind. Jahre später hatte sie Frank unterstellt, das Häschen, Karl-Friedrich, heimlich ausgetauscht zu haben, aber er hatte ihm einfach ein längeres Leben gegeben. Er hatte es zurechtgecrispert, damit Soligie nicht so bald weinen musste. Ein Medizinstudent im ersten Semester konnte DNA zerschnippeln und neu zusammenbauen wie Lego, man benötigte nur ein bisschen Equipment. Doch sie hörte nach dem Vorwurf auf, es zu liebkosen, und Frank bemerkte es erst, als es zu spät war: Karl-Friedrich war an Depressionen gestorben. Da nützten auch die besten Gene nichts. Am Ende hatte er zwei Dinge gelernt: Mit der richtigen Ausrüstung und ausreichend Geld war alles einfach, er hatte doch auch ein Semester Wirtschaft gemacht. Er hatte gelernt, wie man den nackten Glauben an die Zukunft zu Geld machte. Die zweite Lehre, die er daraus zog, war, dass nichts ein gebrochenes Hasenherz heilt. Für Frank war der menschliche Körper ebenso Experimentierfeld wie der Rest der Welt. Ärzte ordneten doch auch nur Daten, und die moderne Technik, nicht die Magie, schenkte uns die Überwachung des Organismus. Wir sind nicht mehr als ein Haustier, dachte Frank, und rührte sich ein Schüsselchen mit Astronautennahrung an. Was mit der menschlichen Gattung geschah, war doch nicht Schicksal, sondern Experiment, als hätten Außerirdische versucht, uns mittels Algorithmen endlich zum Schwarmgehirn zu formen. Uns eins werden zu lassen, als sei der arme Planet von einem parasitären Schwarm befallen. Grillen, die beständig ihre Beinchen aneinanderrieben und darauf warteten, auf die nächste Stufe der Evolution gehoben zu werden: ein einziger Organismus. Er dachte über das Theremin nach, während er die Astronautennahrung vom Löffel lutschte, anstatt sie aus einem kleinen Säckchen zu saugen. Nur eine persönliche Präferenz, die man sich wegzüchten konnte, abtrainieren. Ein Musikinstrument, das man zum Musizieren gar nicht berühren musste. Ja, wie schwierig die Übung des Affen, der an einem Arm am Baum hängt, auch sein mochte: Wer hat es ihm denn befohlen? Das ist die eigentliche Frage. Er ließ sich auf einen Barhocker fallen.

Früher hatten sie sich noch gefürchtet, er hatte es im Geschichtsstudium gelesen, vor einem futuristischen Barock absolutistischer Technokratie. Als ob sie wüssten, was das bedeutet. Das ist nicht Technokratie, Konsumokratie ist es. Der feste Glaube über alle Konfessionen hinweg an den Tauschwert des Geldes. Das Wahlrecht wird in kleinen Häppchen weggekürzt, stattdessen wählt man mit Geld. Als Konzern kann man Stimmen kaufen, LikesLikesLikes, und der Algorithmus ist auch käuflich. Als Privatperson kann man nur mehr bewerten und »ich unterstütze« klicken. Alles ist nur noch Online-Aktivismus, eine Illusion. Das schmeckte Frank nicht und er merkte, wie die Vanille-Astronautennahrung denselben Ekel bei ihm hervorrief wie der Glaube an Klicks. Er dachte, er hätte ein gutes Reiskorn erwischt, bei seiner Ersetzungsfeier, das ihm vom ewigen Leben erzählte, aber Sandor, oh, Frank hatte die Frau gehört, deren Stimme in seinem Wohnzimmer aus Sandors Kehle quietschen durfte. Dieses Quietschen glitchte einem ja im Kopf.

Es war Li Na, die dem Vorstand ihrer Firma vorwarf, dass der Log nur mehr gegen sich selbst spielte. Mehr Geld für Werbung, mehr Geld für Konsum, mehr Geld für wirtschaftliche Stabilität. Alles geschah nur, damit die Menschen untätig waren und glaubten, mit Likes und abermals Likes die Welt zu bewegen. Sandor würde sich nicht so genau an die Worte Li Nas erinnern wie Frank, und Li Na sprach klar. Als hätte sie niemals Angst gehabt, als wollte sie nicht die Wichtigkeit von Dingen verbergen, für Klicks und Likes. »Negativer Geldfluss« würde sie niemals sagen. Sie würde sagen: »Pleite«. »Innerstädtische Substandard-Unterkunft« würde sie »Favela« nennen.

Der Log musste sich nicht entscheiden, ob es besser war, eine heile Welt vorzugaukeln und so zu tun, als gäbe es kein Schreckensregime, wie es die Nazis getan hatten, oder die Kunst zu zwingen, die Leitsprüche des Regimes wiederzukäuen, wie die Stalinisten. Nein, der Log konnte beides. Frank stellte sein Schüsselchen in den Geschirrspüler und überprüfte auf seinem privaten GPS-Server, wo sich seine PunktNull-Doppelgänger befanden. Er hatte sich zwar nur einen genehmigen lassen, aber wer merkte schon, ob er fünf, zehn oder hunderte produzierte. Er würde warten, welche Informationen sie ihm aus der Realität brachten, während er gemütlich hier saß und so tat, als nähme er an der Beschäftigungstherapie des Logs teil. Das Licht der Aufklärung, von dem alle sprachen, war doch auch nur Phrase. Das Licht, das der Äther predigte, war eine Farce. Er war Puppenspieler und ließ die Schnüre eine andere Geschichte erzählen als die Figuren. Ja, wer nur auf die Schnüre blickte, mochte die Geschichte der Figuren übersehen, denn die Schnüre erzählten keine Kindermärchen, wie es Tante Brause tat. Die Schnüre erzählten von der Funktionsweise der Welt. Der Log wollte ihn als Propagandisten haben und das war es, was die Schnüre erzählten, als Schattenspiel, an der Wand hinter ihm: Links von seiner Schulter krächzte der Schatten in eckigen Buchstaben: »Wo ist der Propagandist? Er soll über den Krieg schreiben.« Rechts von seiner Schulter sagten die Buchstaben: »Aber etwas Schönes, bitte!«

Die Geschichte hingegen behauptete, dass dies ein nicht vertretbarer Gedanke sei, es keine Propaganda gebe, dass es empörend sei, was die Zeitungen des Goldenen Reiches über die Union berichteten. Im Brustton der Entrüstung würden die »ehrlichen Figuren« stets über die Feinde siegen. Die Krebse in den Muscheln gegen die Krebse in den Puppenköpfen. Gegen die Niedertracht! Der böse Wolf, den man an den Schnüren des Puppenspiels in die Unionsarena gebracht hatte. Solche Spielereien konnten seine PunktNulls mittlerweile ganz eigenständig. Eines Tages würde ihm einer von ihnen das Wasser reichen können. Nur selten kommentierte jemand online seine Darbietungen mit Meldungen wie: »Das ist alles, was Ihnen zu diesem Verbrechen einfällt? Selten einen so schweinischen Vergleich gesehen.« Zumeist aber applaudierte man ihm in den Netzen, und er hielt Ausschau nach jenen Kommentaren, die erkennen ließen, wie sinnlos doch Kommentare waren. Er hielt Ausschau nach jenen, die verstanden, dass sie hier keine Krieger waren, keine Krieger der guten Sache. Soligie hatte sich nach Karl-Friedrichs Tod oder eher, nachdem sie ihn nicht mehr für Karl-Friedrich hielt, diesen albernen Schaukämpfen zugewandt. Hatte entschieden, zur Welt beizutragen. Sie wähnte sich im Krieg gegen falsche und unmoralische Meinungen, die Kostüme, die sie für den Äther herbeizauberte, hielt sie für wichtige Statements der Gleichheit, und so steckte sie Trashalong zum Beispiel immer wieder in Drachenschuppen, um die Dragonkinbewegung zu unterstützen. Die beiden, dachte Frank, wollten sich doch nur selbst vergewissern, dass sie ihre Legende bekamen. Als wüssten sie nicht, dass sie sterblich waren.

Frank schloss die Programme, lehnte sich auf seinem Barhocker zurück. Er hatte ein Universum erschaffen wollen und war doch degradiert worden zu einem albernen Trickster, der hinnehmen musste, dass Soligie die Welt nicht verstehen wollte – er seufzte. Vielleicht würde sie es verstehen, wenn sie etwas hätte, um es zu liebkosen, etwas, das System und Systemfehler gleichermaßen war. Er musste nur die richtigen Teile finden: ein Teil Frank, ein Teil Soligie und ein Teil Magie. War denn nicht auch Soligie nur die Summe ihrer Teile? Fleisch und Därme, Muskeln und Sehnen, Gekröse, Schleim und Blut? Ebenso wie Karl-Friedrich? Er würde ihr ein Kind bauen, ein ideales Kind, das nicht scheitern konnte am Leben, um das sie niemals trauern musste.

15The making of Brause

Im Jahr 1 vor dem Konsul

Newsfeed im Jahr 1 vor dem Konsul

Tante Brauses gesammelte Werke. Sie verzaubert mit magischen Szenarien, mythischen Figuren und strahlenden Bildern. Tante Brauses Sendung als Text, Ton, Bild und in 3D erscheint nun endlich in der Mediathek. Ein Archiv der liebsten Märchen Ihrer Kinder, ohne Zeitlimit abrufbar. Tante Brause nimmt sich in ihren Erzählungen stets jener an, die es am schwersten haben. Seit Jahren verbindet sie Menschlichkeit mit Magie. Sehen Sie am Mittwoch die Dokumentation zu ihrer schriftstellerischen Tätigkeit.

Kata achtete genau auf ihre Likes. Marie postete alles, was gepostet werden musste, und zusätzliche Posts wählte Kata aus, Marie legte Filter über die Bilder. Nur selten überprüfte sie, was Marie für sie geliked hatte. Danke für die Spende, von der sie sich bewusst oder nicht bewusst war, sie getätigt zu haben. Ein Dislike für die Verwendung des Wortes »Person« in der Verfassung. Eine Bestellung von zellregenerativen Gummibären per Like. Man nannte es nicht mehr Nahrungsergänzung. Marie wusste, was Kata mochte. Kata war mit sich im Reinen. Der Sensor für Überreaktionen schlug bei ihr kaum mehr an, bei Sandor würde er vermutlich ständig durchdrehen. Aber sie, Kata, konnte sich ganz auf ihre Aufgabe konzentrieren: wann blumige und wann trockene Sprache gebraucht wurde. Welche Daten dabei im Log aktiv wurden. Körper und Geist waren geordnet und sie half, die Ordnung der Welt im Gleichgewicht zu halten. Die Kanäle und Profile reagierten gleichermaßen, Marie korrigierte.

Sandor war wieder im Virtuali. Er konnte hundertmal behaupten, dass er einfach nur ihr Spiel so liebe, in Wahrheit floh er vor ihr. Immer wenn ein Konflikt auftauchte, floh er. Als ob sie Konflikt wollte, eigentlich wollte sie meistens auch nur ihre Ruhe haben. Den ganzen Tag hatte sie Menschen um sich, das ständige Schwirren, Zischen, Tuscheln, Klappern, die gedrückten Knöpfe, die Geräusche der Mikrofone und Kameras, wenn man sie ein und ausschaltete, das leise Züp eines Bildschirms, um sie herum war es chaotisch. Kakophonie, hatte Marie ihr gesagt, nannte man so etwas. Wie still wäre der Äther ohne die Menschen. Sie hatte Marie gefragt, ob sie auch glaubte, dass Sandor ihr aus dem Weg ging seit Franks Party. Marie kannte sie einfach am besten. Marie sorgte dafür, dass alle ihre Auftritte perfekt waren. Wenn sie sich Sorgen machte, erinnerte Marie sie daran, dass die Haltung der Mundwinkel ihr Gesicht formte. Man konnte immer noch etwas an sich verbessern, und Kata hatte Marie aufgetragen, sie zu verbessern. Manche sagten Selbstoptimierung, aber Kata fand, dass das ein scheußliches Wort war. Eine Gemeinheit von faulen Menschen.

»Das Problem mit Sandor ist«, fing sie an, während sie vor dem Spiegel ihre Creme einmassierte, »dass er leicht melancholisch wird. Dann verfällt er in Depression und will sich nicht helfen lassen. Er tut plötzlich alles, nur um mich auf Abstand zu halten, also alles, nur um mir wehzutun, so wie seine Rede über die morphologische Freiheit bei Franks Party. Dabei tut es mir leid, dass er Schwierigkeiten hat, gewisse Dinge zu verstehen. Ist es denn meine Schuld, dass er mir nicht zuhört, wenn ich ihm etwas erkläre?«, fragte sie, und Marie verneinte bestimmt. »Ich versuche ja, ihn auf dem Laufenden zu halten, damit solche peinlichen Dinge wie mit Trashalong nicht passieren, aber dann steht sie vor ihm und könnte genauso gut chinesisch reden, er verstünde ebensowenig. Und Trashalong ist so kindisch und überfährt ihn einfach damit. Sie will ja gar nichts erklären, sie will ihn ja nicht auf ihre Seite bringen, sie will nur die Diskussion gewinnen. Glaubst du, dass sich das ändert, jetzt, wo er sich endlich hat loggen lassen?«

 

»Das wäre möglich«, antwortete Marie.

»Möglich ist zu wenig«, murmelte Kata, »vielleicht liegt es daran, dass seine Mutter ein schlechter Einfluss war. Sandor hat, als wir uns kennenlernten, von seiner Kindheit erzählt und davon, dass die Mutter zum Direktor gerufen wurde, weil er nicht richtig denken würde. Er hat das einfach so erzählt, als wäre es eine lustige Anekdote, aber ich glaube, dass er wirklich oft nicht richtig denkt.«

»Wie nennt Sandor seine Mutter?«, fragte Marie.

»Er nennt sie Mutter«, antwortete Kata, »nicht Mama oder Mum, nein, Mutter, so richtig kühl. Ist das nicht eigenartig?«

»Vielleicht war ihre Verbindung nicht gut«, sagte Marie, und es tönte lang nach unter Katas Hirnschale. Nicht gut genug, um richtig zu denken zumindest. War Sandors Mutter nicht ohnehin institutionalisiert worden? Sie wollte Sandor gar nicht fragen, er wurde nur abweisend. Vermutlich saß er im Virtuali. »Die Dinge, die er teilweise sagt …«, seufzte Kata, »hätte er solche Dinge gepostet, so unüberlegt, voller Vorurteile. Bei jedem anderen würde ich seine Motive in Frage stellen, aber Sandor ist doch nicht böswillig, oder?«

»Vielleicht hat er nur eine große Potenzialspanne«, antwortete Marie und beruhigte Kata, dass es ihr nicht passieren könnte, so etwas zu posten, schließlich überprüfte Marie doch ihre Beiträge. Kata wusste nicht, ob sie es ohne Marie jemals geschafft hätte, das Wahlrecht zu erlangen. Sie war eine Gewinnerin und Marie half ihr dabei. Marie erinnerte sie daran, ihre Kleidung für morgen bereitzulegen. »Die blaue oder die graue Bluse?«, fragte Kata. »Die blaue«, antwortete Marie, »die graue Hose und die Ohrringe, die du ›Tingeltangel‹ nennst. Sie rahmen dein Gesicht so passend.« Kata kicherte. Marie spiegelte ihr Kichern. Vielleicht würde sie heute noch ein Märchen schreiben. Je mehr Märchen sie schrieb, umso mehr verstand sie, dass sie eine Verantwortung gegenüber der Welt hatte. Sie war hellwach, fokussiert und bereit für alles, was das Leben bot. Nur wie viel von Sandors Albernheiten sie ertragen konnte, das wusste sie nicht. Sie seufzte. »Willst du noch trainieren?«, fragte Marie und Kata nickte sich selbst im Spiegel zu. »Vergiss nicht«, sagte Marie, »Ethos, Pathos, Logos.« Das hatte Kata mit Marie gelernt: die drei Elemente eines Argumentes. Wer bin ich, dass ich mich dazu äußern darf, was sage ich dazu warum, und weswegen ist das wichtig für das Publikum.

Kata nickte wieder: »Los!«

»Was ist morphologische Freiheit?«

»Morphologische Freiheit bedeutet, den Körper frei erweitern und verbessern zu dürfen. Nicht der Durchschnitt der menschlichen Gesundheit soll als Maßstab dienen, sondern die Verlängerung des Lebens bei gleichbleibender Lebensqualität. Frei bedeutet jedoch nicht zufällig, denn schließlich soll die Tradition der Ungleichheit durch die morphologische Freiheit endlich aufgehoben werden. Die morphologische Freiheit verlangt nicht alles für jene, die es sich leisten können, und nichts für die anderen, sondern die Verbesserung der Lebensumstände aller, durch morphologische Unterstützung.« Kata lächelte in den Spiegel. Wenn sie in der Talkshow saß, musste sie bereit sein, es gab nur live oder gar nicht.

»Warum soll der Log das Recht haben, die Regelungen der morphologischen Freiheit anzuwenden?«, fragte Marie nun. Kata wusste die Antwort, es geschah aus demselben Grund, warum man dem Log das Auspendeln des Wahlrechtes überließ. Damals, als er eingeführt wurde, hatte es eine kurze Diskussion gegeben. Doch junge Menschen interessieren sich eben nicht für Politik, und daher war es bequemer und sicherer so, weil es nach eindeutigen Kriterien zuging. Eindeutige Kriterien, dachte Kata. »Der Log hat einen Überblick. Schließlich wollen wir am Ende doch Entscheidungsträger über das bleiben, was richtig und falsch ist, und das funktioniert nur mit einem Katalog an Kriterien, der wirklich alles, mitsamt aller historischen Entwicklungen, berücksichtigen kann. Diese Fähigkeit hat nur der Log. Wir speisen den Log mit Daten und der Log kann Bewilligungen erteilen, nach möglichst objektiven Maßstäben, damit richtig eingeschätzt werden kann, ob Bedürfnisse vernünftig oder berechtigt sind Das ist eine Entscheidung, die ich ebenso wenig wie Sie dem Ermessen eines Bürokraten oder der Willkür eines Funktionärs überlassen möchte.« Kata lächelte. Marie lobte sie. Kata gähnte. Genug geübt für heute, Marie erinnerte sie daran, dass sie Hunger hatte.

Sandor hatte sich abgetrocknet und trat vor die Tür des Virtuali. Kata wirkte benommen, als er die Tür öffnete: Sie hatte Lunchboxen besorgt und den Tisch gedeckt. Es war bereits später Nachmittag. Sie sagte, sie habe nicht viel Zeit, als sie sich zum Essen an die breiten Seiten des Tisches setzten. »Es ist unser Wochenende«, sagte Sandor. »Du hast ohnehin den ganzen Tag im Spiel verbracht«, erwiderte Kata und zuckte mit den Schultern, rollte Nudeln auf ihre Gabel. »Dein Spiel«, lächelte er und träge erwiderte sie es. »Es wird immer besser«, sagte er.

»Ja?«, antwortete sie. In Wahrheit kannte sie es nicht und interessierte sich nicht weiter dafür. Sie aßen still. Nach einer Weile fragte er: »Was hast du noch vor?«

»Marie hat mir ein Meeting verschafft.«

»Der Log hat dir ein Meeting verschafft?«, wiederholte er.

»Ja, du weißt, was ich meine. Du solltest deinen Log auch benennen, das ist einfach bequemer.«

Sandor schüttelte sich. Sie sprach weiter: »Sie hat meine Unterlagen an die Kommission geschickt. So wie es auf meiner Liste stand. Du wirst noch merken, wie viel einfacher das dein Leben machen kann. Jede Unzufriedenheit kann der Log eliminieren. Wenn dich etwas an deiner Tätigkeit nicht glücklich macht, wird er dir eine neue suchen. Wenn du dich langweilst, wird er dein Feld erweitern. Irgendwo auf der Welt gibt es immer einen Wettbewerb, der auf deine Fähigkeiten zugeschnitten ist. Weißt du noch, wo ich war, bevor ich Marie bekommen habe? Der einfachste Weg, Karriere zu machen: Es geht nur nach oben.«

»Langweilst du dich etwa?«, fragte er. Sie lächelte müde: »Nein, das ist es nicht. Aber es gibt so viel mehr, das ich kann.« Das Lächeln war ihr beim Sprechen vom Gesicht gerutscht, ihre Mundwinkel stemmten es nun wieder hoch. »Du siehst müde aus. Du wirst doch nicht krank werden?«, fragte er. »Nein, nein, Marie hat nur …« – sie unterbrach sich selbst, indem sie einen Bissen nahm. »Was?«, fragte er und kaute ein Stück unbekannter exotischer Frucht, die seinem Gericht beigefügt war. »Ich fühlte mich nicht gut, Marie hat das Gefühl abgestellt.«

»Abgestellt?« Sandor litt geradezu unter seiner eigenen Einsilbigkeit, genauso wie darunter, ihr alles aus der Nase ziehen zu müssen.

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