Die Wölfe von Pripyat

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9Nur ein Schritt

Im Jahr 1016 des Konsuls

Kein Signal.

Nur einen Schritt vor die Tür setzen. Dann wüsste er es. Richard zögerte. Seitdem die Betreuungsperson tot aufgefunden worden war, war das Lager mehr oder minder dem Chaos anheimgefallen. Alle Personen, die sich von ihrer Gruppe auch nur für einen kurzen Zeitraum entfernten, wurden unter Verdacht gestellt. Jene, die zur Zeit des Geschehens nicht beim Essen waren, wurden nach und nach überprüft. Richard wusste, dass man ihn fragen würde. Man hatte ihm einen Termin bei der Administration in den Log gepflanzt. Bislang war dieser Termin viermal verschoben worden, da auch andere nicht auffindbar waren oder unkontrolliert im Gelände herumstreiften, was völlig egal gewesen wäre, gäbe es nicht eine tote Betreuungsperson. »Sensei?«, sagte er und der Log antwortete: »Ja, Romeo?« – »Wie lange bis zum Gespräch mit der Lagerleitung?« – »Drei Stunden und fünfundvierzig Minuten«, antwortete der Log. Richard hatte sich entschieden, denn sie waren weg. Alle, die in seiner Hütte waren, waren weg. Er würde auf der Prioritätenliste ganz nach oben rutschen. Nur: Was sollte er ihnen sagen? Er hatte nichts vorzuweisen. Er wusste nicht, was die drei im Sinn hatten. Sonst hätte er sie aufhalten können. Niemand hatte mit ihm gesprochen. Er würde wie ein unwissender Idiot dastehen. Das würde ihm die Leitung böse ankreiden. Aber da war dieses Zucken in seiner Hand gewesen, und wenn er das richtig deutete, würde er aus dem Lager spazieren können. Er kam seit Jahren her, er kannte das System. Er wusste, was im Lager von ihm erwartet wurde und was er durfte, und noch wichtiger: Er wusste, was andere durften. Er stopfte seinen Regenmantel in den Rucksack, denn Regen war geplant. Wohin konnten sie schon gegangen sein? Alles außer der Gelehrtenrepublik wäre einfach nur dumm. Was sollten sie woanders? Sie konnten auch sonst nirgendwohin. Der Log gab überall innerhalb des Territoriums der Union, wo Empfang war, ihre Position durch. Nur wenn sie die Goldene Stadt erreichten, konnten sie über den Log nicht mehr geortet werden. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass man sie dann nicht mehr erwischen konnte. Der Osten war voll von Gaunern und Betrügern. Er nahm sich zusammen. Nur ein Schritt, vorbei am Torhäuschen, und er war draußen. Er würde nicht mit leeren Händen kommen.

Wo lag nun diese Gelehrtenrepublik genau? Er wusste alles über sie, hatte alles gelesen, und doch hatte er keine Ahnung, wo sie sich wirklich befand. Die Selbstortung des Logs war jetzt natürlich blockiert. Eine Sicherheitsmaßnahme, die verhindern sollte, dass man aus dem Lager einfach in den Wald hinausspazierte. Man konnte nur verloren gehen. Ohne Orientierung kein Fortkommen. Eine Himmelsrichtung war noch lange keine Wegbeschreibung. Wie stellte Potz das an? Sie waren doch zu dritt, Potz hatte doch Emma und Jackie dabei, sie mussten Spuren hinterlassen haben. Osten also. Nur ein Schritt. Ein Schritt vorbei am Wachpersonal. Die Hand mit ruhigem Gesichtsausdruck vor den Sensor halten. Die Facial Expressions hatte er jedes Mal absolviert. Er konnte das, er sagte sich, dass er das konnte. Wenn er Potz nur in die Finger bekam. Der war ihm von Anfang an suspekt gewesen. Aus gutem Grund. Potz, der seine Jackie verschleppt hatte. Jackie, die ihn irgendwie wollte und irgendwie auch nicht. Vielleicht war sie einfach ein Symptom dieser Zeit. Die Administration, zu diesem Schluss war Richard gekommen, hasste den Trieb, hasste das Archaisch-Biologische, hasste die alte Körperlichkeit, hasste den Instinkt. Der Instinkt kann jedoch umgeschrieben werden. Der Log hatte ihm gesagt, dass er und Jackie gut zueinanderpassen würden, und halb wollte sie ihn, halb wollte sie ihn nicht. So wie die Administration den Trieb nicht wollte, aber andererseits die Idee liebte, dass hier, im Lager, im geschützten Rahmen, Menschen nach den über sie verfügbaren Informationen kombiniert wurden. Er hatte schließlich die Statuten von Untermürbwies gelesen. Wer Gesellschaft hatte, machte sich keinen Sorgen um die Welt. Er hatte sich damit befasst, als er das erste Mal bemerkt hatte, dass sein Schaft über seine Hand hinausragte. Information ist wichtig, egal worum es ging. Der Log hatte ihn und Jackie abgesegnet. Jackie, das Wunderwesen, die ideale Ergänzung für sein unperfektes Ich. Er ließ seinen Hormonstatus regelmäßig auslesen.

Dann aber hatte sie gestern abend ihre kleinen, weißen Händchen an seinen Hals gelegt, ihn angelächelt, ihr Gesicht dem seinen genähert, und plötzlich fand er sich aus der Tür gestoßen. Er hatte gedacht, wenn er sich zu Emma legte, würde Jackie nicht mehr in ihrer Entscheidung schwanken. Er hatte sich Gedanken gemacht, nach allem, was er gelesen hatte über Evolution, Monogamie, Eifersucht. Er wusste, irgendwann würde sich die Welt ihm beugen, auch er würde bekommen, was er wollte. Jackie. Sie würde sich über ihre eigene Ablehnung ärgern. So funktionierte das: Sie würde ihn nur interessant finden, wenn die andere, also Emma, ihn interessant fand. Aber auch da: Potz, Potz, Potz. Potz musste sich überall einmischen. Potz hatte ihn, als sie sich kennenlernten, von oben nach unten gemustert und ein Manlette genannt. Da hatte Richard ihm noch entgegengeworfen, dass er eben ein neues biologisches Konstruktionsprinzip sei. Doch Potz hatte auf den Boden gespuckt und gemeint, dass »neue biologische Konstruktionsprinzipien zu Beginn immer eher Mitleid als Enthusiasmus« hervorriefen. Dann hatte Potz mit einer Liste von Kreaturen aus Flora und Fauna begonnen, die er für mitleiderregend hielt, bis Richard die Hütte verließ. Ein widerlicher Mensch. Und stinken musste er! Potz zog seinen Mantel niemals aus. Dieses Ding könnte man vermutlich auch ohne den Potz’schen Inhalt einfach hinstellen und es würde nicht umfallen. Hoffentlich machte Richard das Asthma nicht einen Strich durch die Rechnung. Alles konnte man wegzüchten, wegcrispern, nur Asthma nicht. Sein Asthma war kein körperliches Leiden. Sein Asthma war gesellschaftlich induziert. Sein Asthma war psychosomatisch. An seinem Asthma waren andere Menschen schuld. Menschen wie Potz. Hater. Potz war ein Hater. Jedes Jahr traf er hier Hater und jedes Jahr rückte das Lager den Hatern den Kopf zurecht. Der hatte ja keinen Tau, wie es war, wenn man ein derartiges Joch zu tragen hatte. Die Welt musste sich ändern, dachte Richard, und gewiss war der richtige Weg gefunden, aber wie lange dauerte es, bis er endlich zu Ende beschritten war!

Er würde Jackie zurückbringen. Potz würde dann auch seiner gerechten Strafe zugeführt. Potz hatte seine arme Jackie mitgeschleift. Dass er Emma mitgenommen hatte, war kein Wunder. Emma hatte Onlinezeit und war ja offensichtlich eine richtige Haeckse. Wer hätte gedacht, dass sie sie mit dem bisschen Onlinezeit einfach aus dem Lager entlassen konnte. Potz hatte Emma hineinziehen müssen, da war Richard sicher. Schließlich sind die Nachrichtenfunktionen des Logs für die Zeit des Lagers blockiert. Aus gutem Grund. Resozialisierung ist, wenn man digital im früheren Umfeld steckt, nicht möglich. Potz hatte sicher etwas richtig Schlimmes gemacht da draußen. Er kannte solche wie ihn. So einer war nicht da, weil er einen kleinen Fehler gemacht hatte, aber aus reinen Absichten handelte. So einer wie Potz war hier, weil man ihn immer und immer wieder meldete, das kannte Richard auch. Richard wurde von den Friedensstifter-innen in der Schule so oft gemeldet, dass sogar das, wenn man es zusammenrechnete, ausreichte, um ihm einen Sommer im Lager zu bescheren. Die anderen hatten Ferien am Strand. Aber immerhin musste er die Friedensstifter-innen den ganzen Sommer lang nicht sehen. Er selbst war ein Opfer von Mobbing, nichts weiter. Dass er die Friedensstifter-in geschlagen hätte, war auch nicht wahr. Er hatte nur in Notwehr die Arme gehoben, als diese eine Flasche nach ihm warf. Aber Potz, Potz war ein echter Querulant. Richard hatte sich nie gegen die Union aufgelehnt, nicht wirklich. Er hatte Verbesserungsvorschläge, aber die meisten behielt er für sich, denn Friedensstifter-innen waren überall.

Hatte denn niemand daran gedacht, wie unglaublich widersinnig es war, all die kleinen Leser-innen und Pseudorevolutionär-innen in ein einziges Lager zu stopfen? Da musste ja schließlich so etwas wie jetzt passieren. Hätte er das designed, wäre das nie geschehen. Auch Stalin hatte sie über Sibirien verteilt und mit Gewaltverbrechern zusammengesteckt. Da gab es eine physische Hackordnung. Lernte denn niemand aus der Geschichte? Man sollte sie genau dem aussetzen, was sie sich so sehr wünschten: echter Zivilisationsfremde. Aber vielleicht passierte nun gerade das mit Potz. Eingehen soll er da draußen. Vermutlich hatte er die Betreuungsperson getötet. Nein, eingehen sollte er nicht. Einsammeln sollte er sich lassen. Von ihm, Richard. Die Administration wäre erfreut. Er atmete durch. Man würde seinen Namen auf der Bühne vorlesen. Nicht die Gruppe, die Hütte, nein, ihn. Die entführte und gerettete Jackie neben ihm. Er hatte Jackie verdient. Als Ausgleich. Man konnte ihr sofort ansehen, dass sie ein Blitzkind war, nicht so wie die zurechtgecrisperten, denen die Eltern als Ausgleich abstehende Ohren mitgegeben hatten, weil »Premiumkind« ein Schimpfwort geworden war. Aber Jackie, Jackie sah man und sah, was Sache war. Sie war perfekt und hilfsbedürftig gleichermaßen. Mag sein, dass er crispophil war und gerne ein Crispkin geworden wäre, aber nicht alle Kin waren legal. Die Drachen waren es. Crispophil war in Ordnung, nur die Robophilen wurden beäugt, als seien sie bekloppt, aber Richard selbst hatte daran nichts gefunden – er selbst hatte auch einmal eine Spazierfreundin gehabt, das handförmige Maschinchen mit dem Drucksensor, der Heizung, aus hautähnlichem Material, das Schritte, Atem und das Geräusch von Kleidung beim Gehen imitierte. Seine Eltern hatten geglaubt, dass so eine »Freundin« ihn erden würde, aber Richard verrenderte sich nicht.

 

Der Durchgang zur Außenwelt lag vor ihm. Noch nie hat mich mein Handgefühl betrogen, sagte er sich. Aufrecht schritt er vorbei an dem Sensor, lächelte, ging weiter. Noch ein Schritt, nur noch einer, und ohne, dass ihn jemand aufhalten wollte, spazierte er hinaus in den Wald. In Richtung Osten. Wenn er sie nicht fand da draußen, konnte er niemandem Bescheid geben. Doch er hatte Ahnung. Er hatte schon Online-Tests gemacht, ob er in der Wildnis überleben würde. Er wusste, wie der Wald funktionierte. Er wusste, wie die Welt funktionierte. Das Licht der Aufklärung leuchtete ihm. Er trat durch das Tor. Er war auf sich allein gestellt.

10Leben wollen

Im Jahr 1 vor dem Konsul

Newsfeed im Jahr 1 vor dem Konsul

Kasimir Stern Kreide, der Puppenmeister des Äthers, wird am Montag mit einer Ehrung den wohlverdienten Ruhestand antreten. Wer nun fürchtet, dass dieses wunderbare Format im Äther fehlen wird, hat Grund zum Jubeln: Kasimir Stern Kreide selbst hat eine täuschend echte Puppe entwickelt, die seine Aufgaben übernehmen wird. Hören Sie hier ein Interview mit dem verdienten Künstler. Genießen Sie im Anschluss TV-Richter Cosmic Justice live im Stream.

Sandor hatte sich lange gesträubt, die Wahlinformation zu lesen, und der Log wies ihn daraufhin, dass er sich schon länger sträubte, als das Lesen gebraucht hätte. Er seufzte. Die Passagen, die für ihn wichtig waren, hatte der Log gelb markiert. An seiner Timeline sei nicht deutlich genug erkennbar, dass er informiert sei. Er like zu wenig. Der Durchschnitt seiner Likes konnte nicht ermittelt werden, da ihre Anzahl zu gering war. Er könne nun, in den Monaten vor der Wahl, noch ein Like-Package kaufen. Soll der Log eine Auswahl zusammenstellen? Dann ließe sich der Schnitt in nur wenigen Wochen ermitteln. Sandor gab die Funktion frei. Es schmeckte ihm nicht. Das bedeutete eine lange Liste mit möglichen Like-Packages von Firmen, Parteien und Netzbetreibern war in seiner Inbox. Er würde die Liste später durchgehen. Er hatte einer Ersetzungsfeier beizuwohnen.

Sandor stellte fest, dass Franks Wohnung das Gegenteil seiner eigenen Wohnung war. Wo Sandor sich für helle Töne entschieden hatte, weiße Wände, weiße Möbel, weiße Teppiche, hatte Frank den gegenteiligen Weg eingeschlagen. Düster glänzte die schwarz-goldene Tapete auf sie herab. Frank und seine Frau Soligie saßen vor einem Sofatisch aus schwarzem Marmor, sie streichelte beständig sein Knie. Soligies schwarzes Kleid ließ sie fast unsichtbar werden. Dazu der schwarze Kurzhaarschnitt. Sie war ein schwebendes Gesicht. Die schwarzsamtenen Vorhänge hatten das ganze Sonnenlicht ausgesperrt, obwohl es draußen noch heller Tag war. Neben ihnen auf dem Tisch lag ein Stoffsack mit einem Elefanten darauf. Soligie kippte ihn um und Frank griff nach einem der kleinen weißen Körner, zerdrückte es mit dem stumpfen Ende seines Messers und zog es die Nase hoch. Frank hatte die Erlaubnis, ein Messer zu tragen, obwohl er es nicht brauchte, weder beruflich noch privat. Er hatte wohl nur wissen wollen, ob man sie ihm erteilen würde.

Sandor begrüßte sie mit einer Handbewegung. »Sando, Sando, Sando!«, rief Frank. »Nimm dir ein Reiskorn!« Sandor schüttelte mit einem höflichen »Nein, danke« den Kopf. Hinter einer Theke sah er Trashalong, die ihn nun auch bemerkte und giftig anstarrte. Sandor hatte nicht gewusst, dass sie einander kannten, aber vielleicht war sie auch nur mit Soligie befreundet. Soligie war bekannt dafür, zwischen den Ufern zu schwimmen.

»Du solltest es probieren. Das ist A-Klasse Reis«, bot ihm Frank abermals ein Korn an, aber Sandor schüttelte den Kopf: »Ich habe nie –«.

»Dann erst recht«, erwiderte Frank, doch: »Ich weiß nicht welche«, sagte Sandor, worauf Frank: »Ach so, natürlich: Es ist wie ein großes Déjà-vu. Das Déjà-vu eines ganzen Lebens. Du zerstampfst es und lässt die Nanopartikel in deinem Gehirn einfach machen.« »Sie sind A-Klasse«, wiederholte Soligie und erläuterte: »Sie stammen von Menschen, deren Logs aufbewahrt wurden, weil sie noch einmal leben wollten.« – »Oh«, sagte Sandor knapp, überlegte und meinte dann: »Aber nehmen wir ihnen damit nicht die Chance, dass sie tatsächlich wieder leben könnten?« Aber Frank begann nur zu lachen und erzählte dann, dass das wohl nie passieren würde, denn man habe erst kürzlich aufgrund einer Erbstreiterei den Stent eines Verstorbenen einfach in einen Hirntoten implantiert, damit man ihn fragen könne, was mit seinem Reichtum geschehen solle. »Was hat er gesagt?«, fragte Sandor. »Gar nichts«, meinte Frank, »er kotzte, stand auf, griff nach dem Revolver des anwesenden Vollzugsbeamten und erschoss sich. Ein anderer soll sich selbst den Stecker gezogen haben. So ist das, das menschliche Gehirn ist ein Mysterium. All diese Gefühle, all diese Erinnerungen«, lachte Frank und sein Kopf schwankte. Er legte einen Arm um Sandors Schulter: »Ach, Sandor, ein Ehrenmann. Wenn er unglücklich ist, trinkt er, damit der unglückliche Moment nicht allzu schnell verschwindet, und am nächsten Tag hat er all das schöne Unglück weggesoffen.« Kata reichte Sandor ein Glas Wodka. Sandor kam sich ahnungslos vor. Als hätte ihn der Log mit der Wahlinformation nicht schon ausreichend auf seine angebliche Uninformiertheit hingewiesen. Er wusste nur, dass Reiskörner nicht legal waren.

»Gratuliere zu deiner Ersetzung«, sagte Sandor und prostete Frank zu. Frank trank immer aus Gläsern. »Ja«, lachte dieser, »der Aufrichtige Äther wird auf mich verzichten müssen. Der unverbogene Äther.« Er kicherte. »Wodurch wirst du ersetzt? Hat man deinen Programmplatz einem anderen zugewiesen?«, fragte Sandor, doch Frank prustete los und mit ihm der halbe Raum. Frank ließ sich auf das Sofa fallen: »Ich habe mich selbst ersetzt. Der Puppenspieler ist eine Puppe. Schon seit Wochen.«

»Aber wir haben doch gestern …«, Sandor stutzte und Frank lachte wieder: »Schon seit Wochen. Du hast mit Kasimir Stern Kreide AchtPunktNull gesprochen. Ich habe mich selbst ersetzt.« Sandor nahm einen großen Schluck. Er hatte nicht gewusst, dass so etwas möglich war. »Siehst du, Sandor, ich bin ein wenig enttäuscht. In den letzten Wochen endete die Sendung nämlich nicht damit, dass ich den Hut lüfte, sondern AchtPunktNull die Hirnschale. Hättest du meine Sendung je gesehen, wüsstest du das.« Sandor schämte sich ein wenig. Frank war einfach unglaublich gut. Wenn er einen Automaten baute, dann war auch dieser unglaublich gut. Diese Fähigkeiten hatten ihm das Startkapital, das er im Zufallsverfahren auf den Finanzmarkt warf, verschafft, und Frank war reich bis ans Ende aller Tage. Frank konnte blind Schach spielen. Nach Sandors Meinung war Frank ein Genie, auch wenn er sich zu gerne selbst reden hörte. Er sagte stets, es gebe nur zwei Arten von Menschen: eins und null. Sandor fühlte sich gerade wie eine Null. »Ach, Sando, setz dich«, Frank klopfte mit der Hand neben sich auf die Sitzfläche, »ich mag dich, Sandor, und ich sage das nicht, weil ich gerade auf Erinnerungen bin, die nicht im Trend sind, ich mag dich, weil du so widerständig bist, weil du alles anzweifelst. Sandor, Sandor, Sandor, wer nicht scrollt, ist nicht am Laufenden und …« – er hickste – »… ihr müsstet ja alle erst dekonstruiert werden und rekonstruiert? Rekonstruiert vielleicht nicht. Postbiologie ist das. Und morgen, liebe Kinder, dekonstruieren wir das Wetter!«

Franks Kopf rutschte an Sandors Rücken hinab. Soligie zuckte mit einer Schulter und einer Augenbraue: »Das passiert, wenn man akademischen Reis einwirft. Er weiß selbst nicht, was das heißen soll, wird sich den restlichen Abend nicht mehr bewegen und morgen erinnert er sich nicht.«

»Das tut mir leid für dich«, sagte Sandor, und nun hatte sich Trashalong auf einem großen, runden Lederhocker niedergelassen: »Du sollst doch nicht über Sex reden. Das exkludiert die weniger Beglückten. Oder hast du ein Juste Milieu-Korn abgekriegt?« Sandor sah sich um. Er verstand nicht, warum er damit gleich zum Juste Milieu gehören sollte. Er hatte doch noch gar keinen Reis eingeworfen. Er wusste doch gar nichts über das Juste Milieu, nur, dass sie sich eben gerecht nannten, aber er wusste nicht, was sie wollten oder taten. Einfach eine neue Gruppe von Menschen, die mit irgendetwas unzufrieden waren. Aktivisten, aber keine Aktivisten der Union, so viel wusste er. Frank lachte: »Nein, nur Juste!«

»Du wirst deine Rechnung schon serviert bekommen. Die Aufklärung hat dich auch nie gestreift. Mit diesem Verhalten kann man nicht lange durchkommen. Ein Ideologe bist du, der Feind der Denkenden«, schnappte Trashalong Sandor an.

»So habe ich das doch nicht gemeint«, versuchte er sich mit einer hilflosen Handbewegung zu verteidigen.

»Es ist völlig egal, wie du es gemeint hast. Du weißt eben nicht, was diese Dinge für andere bedeuten, was dich nur noch mehr zu einem Ideologen macht: Du machst unterbewusst Annahmen und solltest solche Dinge nicht einmal denken«, fuhr sie fort. Soligie sah zu Boden.

»Emotional«, knurrte Frank.

»›Emotional‹ sagt man nicht«, rief Trasha.

»Bauchgerede dann«, lachte Frank, ohne den Mund aufzumachen. Natürlich konnte er auch bauchreden, typisch.

»Warum sagst du denn nichts?«, fuhr Trashalong jetzt Soligie an und sprang auf, rauschte geradezu aus dem Raum, wahrhaftig ein Rauschen, ihre Kleidung brauchte akustisch nahezu so viel Aufmerksamkeit wie sie selbst, und rief noch: »Es gibt einfach keine kosmische Gerechtigkeit. So ein Hater!«

»Und sie so ein Opfer. Die war wahrscheinlich auch Friedensstifter-in in der Schule«, nuschelte Frank hinter ihm. Sandor war froh, dass ihn offenbar niemand gehört hatte. Stattdessen begann jetzt einer über den Rechtsstreit wegen der »morphologischen Freiheit« zu referieren. Frank lächelte vor sich hin und Sandor hob den Kopf seines Freundes an und bettete ihn auf seinem Schoß zurecht. Frank kannte sich mit allem aus. Na, Frank: Darf der Mensch sich so viele Ersatzteile anschustern, wie er will? Selbstverbesserung als menschliche Natur? Sollen die Teile mechanisch oder fancy gezüchtet werden? Aber Sandor fragte Frank nicht, denn Frank mochte zwar Antworten auf alles haben, aber er war auch erschöpft, lebensfroh und tätigkeitsmüde. Sandor ließ ihn in Ruhe. Schließlich hatte Frank nicht vor, an sich selbst etwas auszutauschen, also war es ihm herzlich gleichgültig. Frank drehte sich auf den Rücken, damit er Sandor ansehen konnte: »Und was soll Trashalong überhaupt für ein Name sein? Was für ein Typus muss man sein, seine mediale Persona so zu nennen? Ich weiß, was sie für eine ist, ich bin ja schon mal mit ihr ausgegangen. Wenn sie etwas fragt, ist jede Antwort gleich falsch.«

Frank wusste, was Sandor gerade brauchte. Er hob mühsam einen Arm und schob ihm mit dem Finger ein Reiskorn hin. Sandor nickte. Warum nicht? Es passiert schließlich nicht alle Tage, dass der größte Puppenspieler der Welt durch die eigene Puppe ersetzt wird.

Sandor fühlte, wie etwas Fremdes durch seinen Kopf streifte, sich wie eine Wolke, wie eine Flüssigkeit, wie ein Tintenfleck ausbreitete, immer dünner werdende grüne Tinte überall in seinem Kopf. »Was ist«, fragte er Frank, »wenn du eine Maschine baust, die so intelligent ist, dass sie noch viel intelligentere Maschinen bauen kann?«

»Ein Globalgehirn«, lachte Frank.

»Eine Singularität«, sagte Sandor, ohne das Wort selbst jemals gehört zu haben und ohne auch nur instinktiv zu verstehen, dass es das Gleiche bedeutete wie Globalgehirn. Da redete sein Reiskorn. »Und dann lernt die Singularität so viel, dass sie alles weiß und unsere Telomeres lang, lang, langzieht«, fuhr er fort.

»Telomeres?«, fragte Frank, richtete sich auf, griff nach Sandors Glas, nahm einen großen Schluck.

»Sie sitzen auf Chromosomen und machen ein langes Leben, wenn sie lang sind. Sie sind kurz bei uns. Frank, wir sind alt. Alte Säcke sind wir. Ich bin zu alt für diesen Log und das alles.«

»Ach, Unsinn«, Frank kniff ihn in die Wange. »Wir würden einfach alles auf morgen verschieben, mit langen Telomeres, warum nicht, wenn es endlose Morgen gibt.«

Sie lachten beide. Kata kam näher, setzte sich neben Sandor: »Worum geht es?«

»Dass wir alte Säcke sind, Kata«, sagte Sandor, aber sie schüttelte den Kopf: »Ihr seid beide Mitte dreißig. Und neunzig Prozent der Zeit völlig hilflose Babys obendrein.«

Soligie nickte zustimmend. »Aber ich mag ja gar nicht mehr leben, wenn die Singularität die Welt beherrscht«, sagte Sandor und Kata schaute ihn skeptisch an.

 

»Oder der Log«, meinte Frank.

»Böser Log, pfui«, sagte Sandor, er lallte bereits deutlich, er vertrug einfach nichts. Den Log personalisieren? fragte der Log ihn wieder.

»Aber vielleicht ist ja nichts echt und wir sind nur die historisch korrekte Simulation der Vergangenheit von Aliens. Aufgezeichnete Gehirnimpulse und ein bisschen Phantomatik und da ist das Zeitgefühl ein ganz anderes. Sandor! Sandor! Vielleicht sind wir in einem Virtuali und unsterblich!«, rief Frank.

Da erhob sich Sandor und brüllte, aber heraus kam eine schrille weibliche Stimme, die brüllte in Trashalongs Richtung: »Eleonora!« Sandor war aufgebracht und wusste nicht warum, schrie immer wieder: »Eleonora!«.

Er taumelte auf einer Steinfliese, versuchte, das Gleichgewicht zu halten, um ihn waren Schwärze und Kosmos, so war er gestrandet auf einer Fliese, zu klein für seine Füße und nass. Badezimmernass, dachte er und kippte, und der Boden bewegte sich unter seinen Füßen, als formten die Fliesen den Weg selbst. Er hielt nicht an, um sich darüber zu wundern. Er sah, was übrig war vom bröckelnden Gemäuer eines steinernen Prunksaals, seine Füße auf mehr und mehr Marmor. Da war jemand. Hatte der den Einsturz überlebt? Sandor konnte die blauen Flecken und Schürfwunden am Körper spüren, er würde rennen müssen. Ein Stuhl fiel neben ihm vom Himmel.

Gelähmt klebte er in den Sofakissen. Er empfand einen Rausch von einer Intensität, die nicht nur die lebensechten Erfahrungen im Virtuali weit überstieg, sogar das Töten, sondern mitreißender als das Leben selbst war. Es fühlte sich nicht an, als blicke man aufs Meer, nicht – wie im Virtuali –, als schwimme man im Meer, was in der Realität kaum mehr möglich war, sondern als sei man das Meer: wuchtig, brausend, Landschaften zerschneidend. Eine Naturgewalt. Die weibliche Stimme begann zu zetern: »Morphologische Freiheit ist das Recht auf Selbstbestimmung. Wir sind die unumstrittenen Eigentümer unserer Körper, wir entscheiden selbst über unsere Veränderungen! Allen Menschen soll sie uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Für Chancengleichheit und Gerechtigkeit. Wir sind keine Zauberer oder Formwandler, wir wollen eigenverantwortlich entscheiden!« Als hielte Sandor eine Rede vor einer großen Menschenmenge, schmetterte er die Worte in den Raum, einige Partygäste kicherten, erkannten, dass es die Wirkung des Reiskorns war, amüsierten sich darüber, dass Sandor keine andere Wahl hatte, als zu sagen, was das Reiskorn verlangte, während sein Körper mit den Empfindungen kämpfte, dass seine sonst warmen Hände zugleich kalt waren, er sich klein fühlte, obwohl er groß gewachsen war, dass er sich selbst kaum hören konnte. »Wir haben eine neue Spezies erschaffen!«, brüllte die Reiskornfrauenstimme und Sandor echote mit ihr. Er brüllte es in einen großen, leeren Saal mit glitzernden Vorhängen. Betäubt von der Größe der Umgebung, der Wucht der funkelnden Wände, wankte er, hob den Kopf, sah die Deckenfresken und einen enormen Luster, glitzernd, wankend wie er, und er fiel zurück, fiel, fiel, wartete darauf, hart auf die steinernen Fliesen zu knallen, den Hinterkopf aufknackend wie eine Kokosnuss.

»Eine Spezies, die uns trennt und teilt und beurteilt und mit Wut füttert, damit wir die Wut anwählen, auf die Wut klicken, der Wut folgen, deren Seiten vollgestopft mit Werbung sind und über unsere Welt entscheiden! Wir sind Wut!«, krächzte Sandor und plumpste in das Sofa zurück. Dann fühlte er ein Rauschen in den Ohren und wachte auf seinem weißen Sofa in seiner eigenen Wohnung erst dann wieder auf, als Kata den hustenden und prustenden Kaffeeautomaten einschaltete.