Die Wölfe von Pripyat

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»Soll der Log Sie über das Wetter informieren?«, er schnaubte ein Lachen. Sandor konnte sehen, dass die Sonne schien. In einer Stunde würde er vor der Kamera stehen und genau das den Zuschauern des Aufrichtigen Äthers sagen.

5Ein Sack voll Reis

Im Jahr 1016 des Konsuls

Kein Signal.

In den weißen Zelten war Vibe an Vibe gereiht, auf jeder Box stand ein Name. Der Teambuilder erklärte, dass es ihm natürlich leidtat, dass sie ihren Tag mit ihm verbringen mussten. Dass sie sich nicht, wie sie es sonst vielleicht vorgezogen hätten, durch die Langeweile scrollen durften. Emma schnaubte. Niemand scrollte mehr. Aus welchem Jahrhundert war der Typ? Sie war sicher, dass niemand in diesem Zelt mehr geduldig einen Newsfeed hinunterscrollte, sondern springend über Metatags von Plattform zu Plattform hüpfte. Wer einen Log hatte, hatte am ersten Tag die Option gewählt »auf allen Plattformen anmelden«, alles andere war blödsinnig und lieferte kein gutes Gesamtbild der Welt. Alle Informationen von nur einem Anbieter zu bekommen, zu scrollen, war so, als bettelte man darum, von Propaganda gelenkt zu werden. Davor beschützten einen der Log und die Jumps, die er ermöglichte. Jackie murmelte etwas, sie stand aufrecht neben Emma.

Sie legten sich in ihre Boxen. Hier gab es keine Optionen auszuwählen, keine alten Single Player Spiele. Man wurde in jene virtuelle Welt befördert, die der Kurs verlangte. »Hier gibt es ausschließlich Multiplayer. Menschen in einer Gruppe, diejenigen, die sich zugehörig fühlen, radikalisieren sich weniger, sind weniger aggressiv«, murmelte Jackie. Wie passend, dachte Emma. Eine Menge einzelgängerischer Teenager wurden zur Interaktion gezwungen. Der Einstiegskurs war eine Gemeinschaftsübung. Man sollte gemeinsam ein Stück Wald zivilisieren. In Wahrheit war das albern, wenn man bedachte, dass sie mitten im Wald saßen. Aber im echten Wald wäre das Töten von Bären zu gefährlich gewesen. Auch sahen die Tiere im Vibe nicht aus wie echte Tiere, sondern jene, die man füttern sollte, waren entsetzlich niedlich mit buschigen Schwänzen und runden kleinen Gesichtern, stupsnasig. Doch was man töten sollte, hatte Säbelzähne und wütende rote Augen. Emma hielt sich im Hintergrund. Die durch die Luft fliegenden Punktestände gingen ihr auf die Nerven. Sie sammelte kaum welche. Sie hatte fünf Punkte bekommen, weil sie einen auf den Rücken liegenden Käfer umgedreht hatte. Hauptsächlich, weil sie sehen wollte, wie detailliert er gemacht war. Für das Spiel hatte sie ihre Brille zurückbekommen. Die Grafiken ihrer eigenen Spiele waren besser, aber sie mochte Käfer. Jackie hatte sie in der Gruppe verloren. Potz tötete alles, was er sah, und hatte nur Minuspunkte: Häschen, Eichhörnchen, flauschige Entchen. Er hetzte in schnellem Sprint schon zu Beginn an ihr vorbei und schnitt einem Murmeltier die Kehle durch, dann sah sie ihn lange nicht mehr, nur seinen über ihm in den Himmel schwebenden Punktestand konnte sie schon aus weiter Ferne erkennen: Die Anzeige war rot statt grün. Er machte das wohl mit Absicht. Einige bauten an einer Hütte und sangen dabei Lieder, deren Text Emma im Inventar ihres Avatars fand, aber sie hatte keine Lust zu singen. Einige schnitzten Lanzen – sie würden den Blutrünstigen Säbelzahnbären finden. Das war der Quest, an dem man sich zu beteiligen hatte. »Pilze sammeln« war eine Option im Questverzeichnis, also zog Emma los, streifte über Lichtungen, die weit idyllischer waren als Untermürbwies. Was hatte sie sich eingebrockt? Ein albernes Spiel mit Teambuildingfunktion für Schüler war das, sonst nichts.

Als ihre Eltern das erste Virtuali kauften, hatte sie auch ein Spiel mit einem Wald. Die Wölfe von Pripyat. Es basierte auf einem Märchen von Tante Brause, vor deren Sendung im Aufrichtigen Äther sie als Kind oft abgesetzt worden war, und mit den Wölfen konnte man sprechen. Als Kind glaubte sie, dass Wölfe die besseren Menschen wären, bis sie erfuhr, dass echte Wölfe keine Sprache hatten. Sie streichelte die Samen von Pusteblumen, beobachtete, wohin die Vögel flogen, und hielt erst an, als sie hinter sich ein Donnergrollen hörte. Nein, kein Donner. Ein Knurren, ein tiefes, kehliges Knurren aus einem Resonanzraum wie ein steinerner Saal. Sie blieb stehen. Sie erwog, umzudrehen. Bekam man Minuspunkte, wenn man starb? Langsam drehte sie den Kopf ein Stück in die Richtung, aus der der vermeintliche Donner auf sie zugerollt war, aber ihr Blick blieb zwischen Farnen hängen, hinter denen sie Potz’ Gesicht erkannte. Grinsend und blutverschmiert. Sie fühlte einen unangenehmen, warmen Hauch im Genick. Potz legte den Finger auf seine Lippen, zog ein Messer hervor und sprang mit einem großen Satz an ihr vorbei, mitten hinein in das Ungetüm.

Als sie den Blick nach hinten wandte, war der Bauch des Tieres schon aufgeschlitzt und Potz zog mit langen, schwungvollen Bewegungen laut trällernd die Därme des brüllenden Tieres heraus: »There’s no -piep- like horse -piep- to send your -piep- piep- into -piep-!« Blut und Kot spritzten in Emmas Gesicht. Sie kannte das Lied. Warum das letzte Wort »shock« ausgepiept war, wusste sie nicht, mit vier Piep hatte sie es noch nie gehört. Noch bevor das tosende Geschrei des virtuellen Bären endete, wurden sie zurückgeworfen in ihre Vibeboxen. Der Gruppenleiter hatte das Spiel abgebrochen. Weder war vorgesehen, dass der Bär von einem einzelnen Teilnehmer getötet wurde, noch dass er von einem einzelnen Teilnehmer getötet werden konnte. Das sollte nicht möglich sein, schnaubte er Potz an, der losprustete, lachend nach Luft schnappte und sagte: »Ich war doch nicht allein. Emmchen hier hat mir geholfen. Ist es nicht so?« Emma nickte langsam. Der Gruppenleiter warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Als Köder«, sagte sie leise und einige in der Gruppe grölten, johlten und applaudierten, währen Potz sich verneigte und kaum zu kichern aufhören konnte. Was hätte sie auch sonst sagen sollen?

Jackie hatte etwas Rührendes. Gerade jetzt, als sie aus den Vibes gestiegen waren. Als hätte sie im Vibe etwas Entsetzliches erlebt, dabei war doch sie, Emma, unfreiwillig zum Köder geworden. Jackie weckte in Emma das Bedürfnis, sie zu beschützen, und das ließ Emma begreifen, dass Potz zumindest Jackie gewiss nichts Böses wollte. Sie hätte nicht anders gekonnt, als Jackie zu folgen. Gleich nach dem Seminar darüber, wie wichtig Bildung war, und wie wichtig es war, Bildung sorgsam auszuwählen, denn nicht jedes Wissen in der Welt verbessert diese. Das wussten sie doch alle, dachte sie. Das wussten sie schon aus der Schule. »Was, wenn ich nicht weiß, woher die Information kommt? Ich frage für einen Freund«, sagte Richard. Sie waren alle unglaublich höflich, fragten immer nur für Freunde. Fast hätte man glauben können, sie seien in einem Unterstützungswürdigenlager.

Am Abend gab es eine rituelle Ankündigung, während sich alle an den Esstischen vor der Tribüne niederließen. Hier wurde laut verlesen, welche Teilnehmer die höchsten Punktezahlen hatten, natürlich als Gruppe. Ihre Hütte war nicht dabei. Potz’ Abschlachten des Bären hatte seinen Punktestand zwar ins Plus gezogen, Punkte, die er sonst mit anderen hätte teilen müssen, aber wer weiß, wie viele Eichhörnchen er davor niedergemetzelt hatte. Dann wurde wieder getrunken, man dankte der Union dafür, hier sein zu dürfen, und endete mit »Das Licht leuchte uns«, bevor gemeinsam gegessen wurde. Schließlich stand noch Singen auf dem Programm. Emma kannte die Lieder aus der Schule. Sie sangen das Konsulslied, das davon handelte, dass der Konsul sie alle beschützte und das System im Gleichgewicht hielt. Sie sangen den Log-a-log-a-log. In alle Sprachen waren die Lieder übersetzt worden. Jackie sang lauthals mit, so zart ihre Stimme auch sonst sein mochte, ebenso wie Richard, bei dem alles Musikalische nahezu ironisch klang. Potz trank mehr, um weniger singen zu müssen. Viele hatten Tränen in den Augen. Jackie wirkte geradezu selig. Der Schachspieler ein paar Tische weiter starrte auf seine Füße, doch seine Lippen formten brav den Text, auch wenn vielleicht kein Ton herauskam. Einige in den ersten Reihen weinten. Sie würden bald gehen, nach Hause fahren, sie herzten und umarmten einander. Je länger man hier war, umso weiter vorne saß man. Man rückte mit der Dauer des Aufenthalts nach vorne. Der Ausgang des Zeltes war hinter der Bühne. Wer hinten saß, konnte nicht »kurz hinaus«, man musste an allen anderen vorbei. Hier gab es keinen anderen Fluchtweg. »Karell?«, dachte Emma. So saß sie und bewegte den Mund Lied für Lied für Lied.

Eine in der ersten Reihe fiel auf die Knie, als hätte sie gerade ein Erweckungserlebnis oder eine Erscheinung. Sie weinte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, fiel hin, hievte sich hoch, jaulte den Text mit schrillen Spitzen. Einige sammelten sich um sie und applaudierten im Rhythmus zur Musik, feuerten ihren geistigen Niedergang auch noch an. Emmas verächtlicher Blick wurde von einem der Gruppenleiter bemerkt. Sie zog verkrampft die Mundwinkel nach oben und sang weiter. Zum Nachtisch servierte man Ananas und Melone. Emma hingen beide schon zum Hals heraus. Immer gab es Ananas und Melone. Andere Kinder bekamen auch Birnen und Äpfel. Zu Hause gab es auch immer nur viel zu süße Ananas und Melone, aus denen die braunen Teile ausgeschnitten waren, die im Hals kratzten.

Am Ende des Abends gab es die Ehrung der erfolgreichsten Gruppen, nur das Team zählte. Die Einzelwertungen wurden jedoch auch auf der großen Leinwand hinter der Bühne eingeblendet. »Damit man sieht, wer nichts für die Gruppe beigetragen hat«, knurrte Potz in ihr Ohr. Sie stand ganz unten, sie hatte gar keine Punkte. Er sah sie an, eine Augenbraue nach oben: »Deine Leistung wurde nicht gewürdigt.« Als würde er sagen: Sieh doch, der Vibe hat die Punkte nicht aufgeteilt, Zahlen sind wertlos.

 

Als sie zur Hütte zurückgingen, fragte Jackie Potz, warum sie denn gehen mussten, denn das war doch wundervoll, magisch, so viele, die das meinten, was sie sangen. Was sollte man denn sonst wollen. »Und die restliche Zeit?«, knurrte er sie an. »Wer führt dich nicht hinters Licht?«

»Du«, sagte sie leise. Er nickte, legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie kurz an sich.

Am nächsten Morgen war Richard bereits vom Frühstück aufgebrochen. Potz hatte Jackie zugenickt. Jackie hatte Potz zugenickt, gesagt, sie fühle sich nicht besonders, eine schwankende Geste mit dem ganzen Körper vollzogen und war über die Wiese in Richtung Hütte geschwebt. Dieses Nicken hatte Emma beunruhigt. Was hatte das zu bedeuten? Ob der Workshop für Facial Expressions ihr dabei geholfen hätte, zu verstehen? Sie entfernte sich so langsam wie nötig und so schnell wie möglich von der Gruppe, drückte sich am Rand der Wiese die Bäume entlang und sah schon von weitem, dass Jackie sich nicht in die Hütte begab, sondern in eines der vielen administrativen Gebäude. Sie näherte sich. Sie konnte Jackie summen hören. Jackie summte fröhlich vor sich hin, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Diese Fröhlichkeit, die sie ausstrahlte wie ein Schutzpanzer, und doch wollte man nach kurzer Bekanntschaft die Arme um sie legen. »Du mochtest ihn doch auch«, flüsterte Jackie, doch Emma konnte sie deutlich hören, so leise bewegten sich beide. »Du mochtest ihn doch auch, da roch überhaupt nichts fischig. Er hat keine lange Nase, nein, nein, kein Lügner. Was du gegen Richie hast, der hat doch auch keine lange Nase. Ja, sicher weiß ich, dass er violett ist.«

Fast hätte Emma ihr antworten wollen, aber Jackie siezte sie üblicherweise, also ging Emma davon aus, dass Jackie mit sich selbst sprach und sie sie nur erschrecken würde. »Das Echo sagt, das Echo sagt, das Echo sagt«, murmelte Jackie, »die Maitresse der Monster ist nicht zugegen, sagt das Echo.« Emma fühlte ein Zucken in der Hand. Bald würde es zu regnen beginnen. »Der Sack Reis ist nicht in der Küche, der Sack Reis ist nicht in der Küche, ach, ich habe so geglitcht zuletzt und du hast es doch auch gespürt, wie Spinnen mit menschlichen Gesichtern und zwei spitzen Fangzähnen, wie es sich an meinen Schenkeln festkrallte. Nein, ich will den Kundendienst nicht kontaktieren.« Etwas musste ihr ordentlich das Hirn gesprengt haben, dachte Emma. Jackie verschwand in der Tür und Emma drückte sich die Mauer entlang zu einem Fenster. Eine Administrationsperson ging nun auf das Haus zu, Emma drückte sich enger an die Mauer. Was auch immer Jackie hier tat, die Administrationsperson würde sie gleich zurechtweisen.

»Sack Reis.« Das hörte sie Jackie noch von fern durch die offene Tür sagen, dann schlich sie weiter um das Gebäude herum, um durchs Fenster zu sehen und den Weg der Administrationsperson nicht zu kreuzen. Doch da stand jemand vor ihr und ihr Herz machte einen Hüpfer, wie ein Schlag gegen den Kehlkopf.

Sie erkannte den Schachspieler, atmete durch. »Emma, richtig?«, zischte er. Sie nickte, wusste aber nicht, ob er es wahrnahm. Er blickte zu Boden, die Schultern eingezogen, als stürzte gleich ein Felsbrocken auf ihn herab. »Sie nennen mich Gruber. Oder Springer«, er sprach mit seinen Schuhen. Diese Umgebung war eindeutig zu vollgestopft mit Menschen, dachte Emma, antwortete »Aha«, und wandte sich ab, um wegzugehen. »Ich weiß, was er vorhat.« Gruber hob den Kopf, schräg nach vorne. Er hatte etwas von einem Geier. Er schaute sie unsicher an. »Wer?«, fragte sie. »Der Große im Mantel. Sie nennen ihn Potz.«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete sie, wollte sich entfernen, aber er machte einen kleinen Satz, um ihr den Weg zu verstellen, immer noch gebückt. »Er will von hier verschwinden.« Sie versuchte links oder rechts an Gruber vorbeizukommen, doch dieser war beharrlich, tanzte mit. »Was hat das mit mir zu tun?«, fragte sie, wollte sich nicht anmerken lassen, wie unwohl sie sich bei dieser Antwort fühlte. Gruber sank noch weiter in sich zusammen, sie schritt an ihm vorbei. Sie konnte damit gerade nicht umgehen.

»Sie werden mich umbringen«, sagte Gruber. Da blieb sie stehen. »Wer, wer wird dich umbringen?«, schnaubte sie. Der Sinn dieser Lager war doch, dass niemand irgendjemanden umbrachte. Niemals. »Die Leitung, die Kurse, der Log«, stieß er hervor, mit dünnen Lauten unter dickem Schnauben. »Du übertreibst«, sagte sie, machte noch einen Schritt, gleich wäre sie wieder vor dem Gebäude, gleich würde man sie wieder sehen können, gleich wäre sie Gruber los, denn er würde nicht wagen, gemeinsam mit ihr auf die offene Wiese hinauszutreten. »Sie glauben, ich bin so ein Kriegsfanatiker, so ein Rassist, ich würde die Freiheit in Frage stellen, sie medikamentieren mich, bis mein Kopf ganz weich wird, aber ich habe doch nichts getan.«

»Was willst du von mir? Ich kann deinen systemischen Rassismus nicht zu meinem Problem machen«, zischte sie.

»Nehmt mich mit. Nehmt mich bitte mit, lasst mich nicht hier, sie werden mich zerbrechen. Sie haben meine ganze Familie zerbrochen, meinen Vater, meine Mutter, meine Schwester, alle in Behandlung, Betreuung, in Einrichtungen und meine Betreuungsperson hätte lieber, käme ich aus den Einrichtungen nie mehr heraus.« Emma dachte an ihren Vater, an ihre Mutter, an ihre Schwester, die friedlich zu Hause saßen, warteten, dass sie wiederkäme. »Das Lager, Richie, die Teambuilder, sie alle werden dich auch brechen«, sagte er wieder leise zu seinen Füßen, hielt dabei den Zipfel eines ihrer Ärmel. Das Lager hatte wohl recht: Er musste übergeschnappt sein. »Lass mich in Ruhe«, fuhr sie ihn an, riss ihren Ärmel los, und er drückte etwas in ihre Hand, doch sie sah es nicht an, als sie über die Wiese zur Essenshalle ging. Man sollte sich in nichts hineinziehen lassen.

Da hörte sie hinter sich ein Rumpeln, machte kehrt, und aus dem Gebäude kam ein Licht wie der Blitz eines Fotoapparates, eines Paparazzigerätes, eines großen Dings aus Objektiv und Blitzlampe. Als sie wieder Formen erkennen konnte und das grelle weiße Licht und die dunklen Flecken dem Gras und den Bäumen gewichen waren, wetzte in schnellen, winzigen Schritten Jackie auf sie zu, an ihr vorbei, wirkte, als hätte sie der Schlag getroffen oder abermals ein Blitz. Emma beschleunigte ihre Schritte. »Jackie«, sagte sie. Doch Jackie ging weiter, presste etwas an ihren Bauch: »Chillamoi, Chillamoi, Chillamoi«, murmelte sie und: »Chillamoi, ein Sack voll Reis, Chillamoi, der Reis ist nicht in der Küche. Chillamoi, bis die Zeit endet, werde ich silberne Mondäpfel und Goldene Sonnäpfel pflücken, Chillamoi. Bis Frühling unter den alten Himmeln ist. Chillamoi.« Jackie drehte nun also völlig durch, genauso wie dieser Gruber. Emma folgte immer noch Jackie, konnte kaum Schritt halten. Als hätte irgendetwas sie ausgehängt. »Jackie, Jackie«, rief sie, und sah endlich auf ihre Hand, in die Gruber eine kleine Figur gedrückt hatte. Einen Bauern. Eigentlich nur ein Kügelchen auf einem schlanken runden Sockel. Ein weißer Bauer. Sie folgte Jackie bis zur Hütte, wo diese sich auf das Bett warf. Vielleicht machte dieses Lager einen wirklich weich, dachte sie.

6Ein Märchen

Im Jahr 1 vor dem Konsul

Sandor Karol betrat den Ätherturm. Er wusste, dass er zu spät war, das passierte ihm sonst nicht. Er mochte es auch nicht, wenn andere zu spät waren. Seine Aufzeichnung begann erst in einer halben Stunde, aber seit er Kata kannte, hatte er keine ihrer Aufnahmen verpasst. Er wusste, dass er sie zu Hause nicht nachhören würde. »Niemand mag es, die eigene Stimme zu hören«, hatte sie gesagt, als er einmal eine ihrer Aufnahmen eingeschaltet hatte, und sie hatte diese, noch bevor sie den Raum betrat, per Fernbedienung ausgeschaltet, sich zu ihm auf das Sofa gekuschelt, einmal kurz den Kopf geschüttelt und seither hatte er es bleiben lassen. Sie hatte dabei diesen ewiggütigen Gesichtsausdruck gehabt, den sie nicht nur vor der Kamera, sondern durchs ganze Leben trug. Zugleich sprach sie mit kräftiger Stimme. Als Tante Brause war sie wie ein sanfter Engel, nicht wie einer mit Flügeln, eher wie der Cocktail: süß und herb zugleich. Seine Hand juckte ein wenig. Die winzige Wunde, die die Implantierung des Stents hinterlassen hatte, heilte. Er hätte nicht gedacht, dass es so lange dauern würde, den Log einzurichten und die Berechtigungen zu prüfen. Wer geht schon davon aus, dass es Tage dauern könnte, wenn der Log das Handbuch vorliest: »Wir sind für Sie da in every language und stehen Ihnen mit Rat und Tat zur Seite.« Berechtigung, in den Hormonhaushalt einzugreifen. Berechtigung, in die sensorische Wahrnehmung einzugreifen. Setzen Sie ein Zeichen für die Natur. Er wollte nicht einfach »Alle erteilen« sagen, er musste doch wissen, was er erlaubte. Immerhin hatte man die Albträume nach dem Implantieren eliminiert. Alles war unter Kontrolle: die Träume, die Launen, Lyrie und Kata und die Kontoeinstellungen.

Den Teil, in dem Kata Morphologie erklärte, hatte er bereits verpasst. Er kannte das Märchen, das sie heute las. Sie hatte es ihm gegeben und ihn um seine Meinung gebeten, wie sie es mit all ihren Märchen tat. Als Tante Brause hatte sie einen fixen Sendeplatz. Oft sagte er: Ist das nicht zu brutal für Kinder? Aber sie schüttelte den Kopf. Kinder wollten brutal. Gewalt war in Ordnung, wenn sie unblutig war. Sex durfte nicht vorkommen. Brutal brachte Kinder in Verzückung. »Ein Libellenfürst«, hörte er sie sagen. »Da kam ein Bär des Weges und kannte den Libellenfürsten nicht, obwohl er an den Ufern des unendlichen Ozeans eine Berühmtheit war, denn er sang so schön. Kam der Bär und sah ihn mit schillernden Flügeln flattern, zu schnell und zu hektisch für einen so großen, behäbigen Bären. So tanzte ihm der Libellenfürst über dem Kopf und der Bär richtete sich auf, schwang seine Pfoten, schnappte nach ihm, auch wenn der Fürst rief: ›Tu es nicht, Bär, du wirst es bereuen!‹ Doch der Bär schnappte und taumelte auf zwei Beinen, wankte und tänzelte, bis er den Libellenfürsten verschluckt hatte. Da tönte in des Bären Kopf ein Gesang, der Gesang des Libellenfürsten, und in seinem Magen spürte er das Flattern der schillernden Flügel wie Sägeblätter. Er hielt sich den Bauch und krümmte sich vor Schmerz. Tränen kullerten aus seinen großen, schwarzen Augen, die im kühlen Sonnenlicht des Nordens schimmerten, und so lauschte er, lauschte dem Gesang, und dieser versprach ihm, dass er nicht sterben müsste, im Gegenteil, denn für Libellenherrscher galt, kamen sie in eine gar zu missliche Lage, dass sie Zauberkräfte entfalteten, und er würde dem Bären drei Wünsche erfüllen.« Ihre Stimme verbreitete schon nach wenigen Sätzen eine hypnotische Wirkung, die in den Äther gesprochen den Eltern der Union die Möglichkeit gab, sich eine Pause von ihren Kindern zu gönnen, sich von der lieben, strengen Tante auf dem Schirm vorlesen zu lassen, die Kinder ins Bett zu schicken. Wenn Tante Brause sagte, es sei nun Schlafenszeit, dann war Schlafenszeit.

Sandors Hand vibrierte und er versuchte, das Zittern zu ignorieren, wollte immerhin dem Rest der Geschichte lauschen, wie Kata sie erdacht hatte, doch der Log schien darauf zu bestehen, dass er die Information sofort überprüfte. »›Jedoch, höre Bär‹«, sagte sie: »›Nur unter einer Bedingung wirst du frei von mir sein.‹« Das Vibrieren hörte nicht auf. »›Nur wenn deine Wünsche anderen helfen, dir jedoch in keiner Weise von Nutzen sind, sind wir frei voneinander.‹ So richtete sich der Bär auf, saß und blickte ins Meer hinaus, hielt sich den pelzigen Bauch, in dem nun der Schmerz lebte, schniefte und dachte nach.«

Doch das Zittern hörte nicht auf und Sandor gab nach: Darf der Log auf Ihre Termine zugreifen? Der Log wusste, dass er zu spät war. Als hätte der Log mit diesem winzigen Chip fühlen können, dass er zu spät gekommen war. Der Log versprach, dass man nicht mehr zu spät kommen konnte. Dass man stets an Termine zeitgerecht erinnert würde. Ja, schon gut, greif darauf zu, lass mich in Ruhe. »Sein dritter Wunsch jedoch«, fuhr Kata fort, »war die Freiheit des Libellenfürsten. Eine Freiheit, die auch ihn befreit hätte. Und wer weiß, vielleicht sitzt der Bär noch heute an diesem Strand, mit schmerzendem Bauch und grübelt über die Freiheit.«

Er hatte ein gutes Stück des Märchens verpasst. So lange hatte er sich geweigert, den Stent implantieren zu lassen, weil er geglaubt hatte, es würde ihm lästig sein, und nun grämte er sich, weil er recht behalten hatte: Der Log hatte eines ihrer Rituale gestört. Seines und Katas. Er war bislang auch ohne einen Log durchs Leben gekommen. Warum sollte er jetzt einen brauchen. Er hatte Kata ganz ohne Log gefunden. Der Zufall hatte ihm Kata geschenkt, nichts weiter. Der Zufall, dass die Frau, die er verstohlen bei all ihren Sendungen beobachtet und mit der er nicht zu sprechen gewagt hatte, die selbst durch das Studio schwirrte wie eines der Zauberwesen, von denen sie erzählte, ihm Aufmerksamkeit schenkte.

 

Mittlerweile war Nacht und er legte seinen Kopf auf seinen Arm, den er auf die Fensterbank gestützt hatte, und schaute hinaus auf die Häuser der Stadt. Katas Aufzeichnung war vorbei. Sie kam auf ihn zu. »Woran denkst du?«, fragte sie. »An die Nacht, als ich dich fand.« Sie lächelte. Dann sagte sie: »Du bist zu spät gekommen.« Sandor nickte. Diese eine Nacht hatte sie damals zusammengebracht und er liebte es, sich daran zu erinnern.

Die jetzige Staffel seines Lebens war weit besser als alle zuvor, weil sie da war. »Sando, deine Aufzeichnung fängt in zehn Minuten an«, sagte die Assistentin zu ihm. Kata strich ihm über die Wange. Es sind diese kleinen Gesten, die sie ausmachen. Über dem letzten Assistenten hatte der Aufsichtsrat den Bannhammer geschwungen, weiß der Teufel warum, aber die Neue machte ihre Aufgabe gut. Er seufzte. »Wir sehen uns zum Essen?«, fragte Kata und er nickte. Wie immer. Sie würde im Café im Erdgeschoß auf ihn warten. Er hatte das heutige Menü noch gar nicht gelesen. »Mochtest du die Aufnahme?«, fragte sie noch, während sie ihre Tasche schulterte. Sandor nickte: »Ist sonnig geworden.«

»Lyrie mochte sie besonders gerne«, erwiderte Kata und er rechnete nach, wann seine Tochter von den geführten Ferien zurückkommen würde. Sie hatte auf dem Hof mit dem kleinen Streichelzoo bereits ihr eigenes Zicklein und hatte sich endlich eine Ferienoma ausgesucht, meinte aber immer, wenn sie telefonierten, dass diese nicht so schön erzählte wie Kata. Über den Bildschirm flimmerte die Werbung für eine Kinderlog-Zusatz-App, mit der die Eltern selbst bestimmen konnten, welche Begriffe zusätzlich zu den gesetzlich vorgegebenen noch ausgespart wurden. »Piepmatzpiep« nannte sich das Konzept, und die Werbefiguren waren kleine gelbe Cartoonvögelchen im Nest, denen die Eltern fröhlich etwas vorpiepten. So fröhlich und erbaulich solle das Geräusch klingen, das die Kinder bei »bösen Wörtern« zu hören bekämen.

Trashalong zupfte ihr Kostüm zurecht und nahm der Assistentin das Klemmbrett aus der Hand: »Worüber soll ich reden. In kurz bitte.« Sie schien sich nur mäßig für ihre redaktionellen Inhalte zu interessieren. Als hätte sie keine Leidenschaft für ihre Aufgabe im Äther. Sandors Hand juckte, als er sich vor den Greenscreen stellte, und sie juckte, als er ankündigte, dass es schön sein würde die nächsten Tage, dass selbst frühere Spionagesatelliten Wetterdaten lieferten, wenn auch ursprünglich nur als Nebenprodukte. Dass das Wetter selbst dort oben keinen Einfluss hatte, da es sich größtenteils in den unteren zwei Kilometern der Atmosphäre, nämlich der Peblosphäre, abspielte, und sie juckte, als er zu den praktischen Bekleidungsempfehlungen des FancyFashion-Segments überleitete. Sie juckte, als ihm das Wort wieder erteilt wurde und er über das Blau des Himmels sprach und dass es uns beruhigt, weil es der Himmel ist und das Meer seine Farbe in rhythmischem Rauschen spiegelt, und hätte aufgrund eines kuriosen Fehlers unsere Atmosphäre immer schon nur den roten oder gelben Teil des Spektrums durchgelassen, dann fänden wir diese Farbe, einen roten Himmel, ein rotes Meer, einen gelben Himmel, ein gelbes Meer beruhigend. Er erinnerte die Menschen daran, ausreichend zu trinken, man musste hydriert bleiben, auch wenn es keine große Hitzewelle gab, die Getränkehersteller hatten einen Vertrag mit dem Äther. Er schloss die Sendung wie immer mit den Worten: »Bleiben Sie sonnig.« Und lächelte in die Kamera. Manchmal sagte er sich, dass es seine Stimme war, wie er sie in den Äther schickte, die die Sonne scheinen ließ, auch wenn er wusste, dass das Unsinn war. Seine Hand juckte, er kratzte sich. Er würde eines dieser Moskitomittel darauf sprühen, die er zu Hause hatte, die zwar der Ursache des Juckens nichts anhaben konnten, jedoch das Gefühl betäubten. Dann würde er den Abend mit Kata gemütlich ausklingen lassen. Er hatte gewusst, dass der Log ihn stören würde.

Er griff nach seiner Tasche, da stieß ihn Trashalong, die für das FancyFashion-Segment zuständig war, in die Seite: »Ich finde mich in deinen Worten wirklich nicht wieder. Mach das nie mehr! Ich melde dich!« Sandor war verwirrt. Er wusste nicht, was sie meinte. »Was soll ich nicht mehr machen?«, fragte er ehrlich erstaunt, was wohl an Trashalong vorüberging. »Und jetzt spottest du über mich! Weißt du was, das war unmoralisch! Und es hat mich schlecht dastehen lassen. Ich werde dafür sorgen, dass man dich ersetzt, wenn das noch einmal passiert. Dich braucht hier nämlich niemand!«

Dann zog sie schimpfend ab. Die Assistentin legte ihr den Arm um die Schultern und warf ihm einen urteilenden, geradezu empörten Blick zu. Er wartete einige Minuten, damit er nicht mit den beiden in den Lift steigen musste. Frank ging vorbei, Sandor tippte ihn an.

»Sando, hey.«

»Hast du meine Aufzeichnung gesehen«, fragte Sandor ihn, aber Franks Handpuppe schüttelte den Kopf und Frank lachte dazu. Unter dem Namen Kasimir Stern Kreide betreute er ein Format, das Puppenspielertricks offenlegte und mit den Spielen der Natur verglich. Zuletzt hatte er das Videomaterial des Kampfes zweier Krabben, die in zwei Puppenköpfen hausten – einer war noch recht neu und einer bereits mit grünen und schwarzen Algen überzogen –, besprochen. Ein gruseliges Schauspiel. »Warum?«, fragte er.

»Trashalong hat sich beschwert, aber ich weiß nicht worüber«, antwortete Sandor. »Keine Ahnung. Ich kenne sie nicht.« Dabei hätte Sandor schwören können, dass er sie im Café schon öfter zusammen gesehen hatte. Er war allein im Lift und es bereitete ihm Kopfzerbrechen, aber Kata, ja, Kata würde das natürlich verstehen. Wie erwartet, hatte sie die Aufzeichnung am Bildschirm des Cafés mitverfolgt. Sie war sich nicht sicher, vermutete jedoch, dass Trashalong ein Problem damit hatte, dass er gesagt hatte: »Und nun zu unserer Expertin für FancyFashion.«

»Was ist daran falsch? Hätte ich ›Experte‹ sagen sollen?«, fragte Sandor verwirrt. Aber Kata glaubte eher, dass Trasha es ironisch aufgefasst hatte. »Wenn du sie einmal eine Expertin nennst und sonst nie, sagst du damit nur, dass sie in Wahrheit keine ist.« Sandor schüttelte den Kopf. »Die Zuschauer sagen in den Foren oft ›Experte‹, wenn sie ›Scharlatan‹ meinen. Wir sollen ehrliche Sprache benutzen, wenn wir auf Sendung sind, das weißt du doch. Bedürfnisgerecht für die Programmgenießer.« Kata zuckte mit den Schultern, nippte an ihrem Kaffee. Sandor fühlte sich schuldig und bestellte einen Whiskey. Der Kellner stellte einen kleinen Verdampfer mit Mundstück vor ihm auf den Tisch. Er hätte lieber ein richtiges Glas gehabt und fühlte sich daher noch schuldiger als zuvor. Er vermisste die Zeit, als die Welt noch nach Welt roch und nicht aus jedem Winkel Dampf kam, von Verdampfern auf Tischen und Kommoden, aus den neuen Blumenvasen, getarnt als dicke, kleine, weiße Buddhas. Sogar aus den Hauswänden dampfte es nach Zitronenbuttermilchkuchen, nach Kaffee und Südfrankreich.