Die Wölfe von Pripyat

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3Schach

Im Jahr 1016 des Konsuls

Kein Signal.

Das Feuer knackte und Emmas Wangen wurden heiß. »Ich kann schon nicht mehr trinken«, sagte Jackie. »So tun Sie doch etwas!«

»Besser nicht«, schüttelte Richie den Kopf. Sie würden ihr dann ja doch nur eine Portion Pommes bringen und einen Wodka-Tonic. Wenn er einfach davongerannt wäre, dann müsste er auch nicht hier sitzen und Alkopops trinken. Bis zum Ende der Woche würde der Hüttenvorrat aufgebraucht sein. Das Programm »Ernährung für alle«, wie es in den Städten allen Bewohnern geschenkt wurde, gab es hier nicht. Es hatte den Zweck, die Menschen gesünder zu machen. Hier wurde den Jugendlichen Ungesundes gegeben, damit der Aufenthalt positiv in Erinnerung blieb. »Doppelt frittiert«, fügte Richie hinzu und öffnete eine Dose, reichte sie Emma. Seine Finger streiften ihre. Das war ihr erstes Getränk an diesem Abend. Jackie steckte sich ständig Pillen in den Mund.

»Mein Kopf ist schwerer als meine Seele, der Totengott, der Totenkopf lässt uns beide nicht gehen.« Richie rülpste, nachdem er das gesagt hatte. Potz rülpste ebenfalls, jedoch um einiges lauter, als müsste er etwas beweisen. »Das kickt«, fügte Richie hinzu und hob seinen Becher.

»Ach, und im Osten wäre es besser?«, fragte Emma und nahm einen Schluck, denn Richies Behauptungen schienen ihr interessanter als der Totengott.

»Die Wahrheit ist ja die«, fuhr Richie fort, »dass die Menschen, ja, das wusste man schon im alten Griechenland, von Zeus auseinandergerissen worden sind. Heute weiß man das ja nicht mehr. Nicht mehr vier Beine und vier Arme und zwei Gesichter auf einem Kopf mit Augen vorne und hinten. Aber den Russen, den Russen, denen hat er die Seele im Inneren noch einmal geteilt, weil sie eine Revolution anzettelten, weil sie sich das nicht gefallen lassen wollten. Die müssten sich selbst lieben, fänden sich aber nie im eigenen Körper und müssten daher neben der Liebe auch den Hass suchen. Das ist die Poetenseele.« Er rülpste wieder. Potz machte sich nicht die Mühe. Zu Dostojewskijs Zeiten mag das so gewesen sein, dachte Emma, aber heute? Das Konzept des Camps in Untermürbwies stammte aus dem Osten. Sie sagte es Richie nicht, er wäre dann vielleicht traurig gewesen. Es gibt ebenso wenig hundertprozentige Wahrheit wie hundertprozentigen Alkohol, dachte sie. Beides gibt es nur mit Zucker.

»Die Poetenseele …«, sagte er wieder, verstummte aber gleich, denn das war kein erwünschtes Gesprächsthema und der dünne Mann im Trainingsanzug von der Anmeldung kam auf sie zu:

»Da drüben gibt es Bio-Hotdogs, wenn ihr möchtet«, meinte er, ein hässliches Grinsen hatte er, das er selbst vermutlich für ein freundliches Lächeln hielt. Sie sahen alle zu Boden. Nur Potz, Potz zog an seinem Vaper, nahm einen Schluck aus der Wodkaflasche und starrte den Dünnen an.

»Worüber sprecht ihr?«, fragte der nun. Emma versuchte, aus den Augenwinkeln zu beobachten, was passierte, Potz starrte den Dünnen immer noch an: »Wir spielen ›Ich hab noch nie‹.«

Dann zog der Dünne ab, offenbar zufrieden mit der Antwort.

»Ich hab noch nie?«, fragte Emma.

»Ein Trinkspiel, das er uns gestern zum Zeitvertreib vorgeschlagen hat«, antwortete Potz, lehnte sich zurück, sah dem Dünnen nach: »Ich hab noch nie ›Ich hab noch nie‹ gespielt«, lachte er, und alle nahmen einen Schluck, sogar Jackie.

»Scheiß Camp«, sagte Potz und hielt Emma die Flasche hin, aber sie wusste, sie würde Wodka niemals pur hinunterbekommen.

»Noch zwei Jahre, bis wir vielleicht wählen dürfen, wenn wir uns qualifizieren«, sagte Emma. Für alles gibt es ein Mindest-, aber für nichts ein Maximalalter.

»Ich habe einmal zwei – wie sagt man statt ›alt‹? – im Öffentlichen gesehen, die sich um den Bedürfnisplatz stritten. ›Ich hatte einen Schlaganfall‹, meinte der Eine, und der Andere: ›Ich habe zwei Bypässe.‹ Als wäre es ein Quartettspiel. Die reinste Soap. Dabei sind für diese Generation körperliche Reparationen aller Art immer leistbar und sie bekommen auch noch Rabatte. Der Log hat sie dann nur mehr in verschiedene Busse gelassen. Wegen der Harmonie.« Die alte Generation hatte solche Leiden noch, sie waren schwer vorstellbar. Wer sich einmal für das Wahlrecht qualifiziert hatte, verlor es nicht so leicht wieder. Früher war es sicher leichter, sich zu qualifizieren. Nur liken konnte man immer.

Richie nickte: »Auch vom Fernseher komme ich mir immer so vergewaltigt vor. Die ganzen Betroffenheitssoaps und Sozialpornos. Irgendwelche C-Promis, die Flüchten spielen. Mit echten Lagern, Schleppern und überfüllten Booten. Scheiß Reality-TV.«

»Also statistisch …«, begann Emma, aber Potz schnitt ihr das Wort ab: »Zahlen sind wertlos.« Sie bedachte ihn mit einem bemüht giftigen Blick. Vielleicht brauchte sie doch einen Gesichtsausdrucksworkshop.

»Kennt ihr die Geschichte von dem Mann, der seine Kinder für Pornos missbrauchte und dann mit ihnen eine Doku über die Pornos drehte und dann noch eine X-rated-Version der Doku herausgab?«, fragte Potz nun weiter.

Emma und Richie sahen einander an, trafen die stumme Übereinkunft, nicht darauf zu reagieren: »Bald schicken sie irgendwelche D-Promis zu uns ins Camp.«

Richie lachte: »Ja, genau, und die müssen dann auch Erdbeerwein und Alkopops saufen.« Er reichte Emma einen Becher. Wieder streiften sich ihre Finger.

»Warum wurdest du denn hierher – ähem – eingeladen?«, fragte er, mit Betonung auf eingeladen.

»Sie haben mich in der Bibliothek erwischt.«

»Und wo liegt das Problem?«, fragte Potz.

»In der Bibliothek für Erwachsene«, antwortete Emma.

»Bei den richtigen Ausgaben? Den vollständigen? Den unzensierten?« Richie hatte etwas von einem aufgeregten Welpen.

»Du kleine Drecks**«, warf Potz ein und zwinkerte ihr zu.

Sie nickte. »Kein Wunder, dass du hier gelandet bist«, sagte Richie und griff nach ihrer Hand.

»Sie hätten sie auch einsperren können. Sich erwischen lassen – pfff – dumme ***«, meinte Potz.

»Die Richterin meinte, ich gehöre hierher, ich sei nicht ganz dicht.« Emma lächelte, nahm einen Schluck von dem Erdbeerwein. Eine eklig-süße, dicke Soße. »Und du?« Emma versuchte ihre Hand nicht zu bewegen, damit er sie nicht losließ.

»Etwas zu schreiben ist noch schlimmer, als etwas zu lesen.« Ritchie zwinkerte. »Und Jackie?«

»Ach, irgendetwas Aufwieglerisches.«

Jackies Kopf sank an Potz’ Schulter.

»Ich existiere nur, weil Sie mich sehen können, meine Damen und Herren und weitere, weil sie mit oder über mich sprechen, ansonsten bin ich inexistent«, murmelte sie. Aktionskunst vermutlich, dachte Emma. Danach starrte Jackie so ausgezoomt vor sich hin wie zuvor.

»Will jemand wissen, warum man mich hierher gesteckt hat?«, fragte Potz, aber sie schüttelten trinkend den Kopf. Potz zuckte mit den Schultern und zog an seinem Vaper. Für Emmas Geschmack genoss er das Camp zu sehr. Untermürbwies.

Richie murmelte: »Wenn die finden, dass sich dein Verhalten nicht geändert hat, schicken sie dich jedes Jahr her. So wie mich. Meine Schwester fährt jeden Sommer auf den Pferdehof und ich hierher.« Er nahm noch einen Schluck. »Oder sie stecken dich doch in den Knast, also in ein Rehabilitationszentrum.« Er lachte.

»Im Knast gibt es leider nichts zu trinken«, lachte Potz.

»Je mehr du von dir gibst, umso weniger kann ich mir vorstellen, warum du überhaupt hier gelandet bist«, fauchte Emma. Sie wusste beim besten Willen nicht, welche Kriterien Potz für seinen Aufenthalt hier prädestinierten. Hier sollten die Klugen von ihren Problemen der unnötigen Systemhinterfragung erlöst werden. »Probleme« sagte man nicht mehr, das hieß jetzt »Herausforderungen«.

»Miss Zum-Camp-verdonnert-fürs-Lesen!« Potz spuckte wieder aus.

Richie lächelte ins Dunkel: »Ja, klar, Potz ist Friedensstifter-in. In jeder Hütte gibt es einen, der der Lagerleitung erzählt, worüber wir reden, sobald sie uns aus den Augen lassen. Nein, das wäre zu einfach, nein, er muss sich mit uns anfreunden, so richtig, und ist eigentlich nur dafür da, uns auf die böse Seite zu ziehen, uns immer mehr zu trinken vorzusetzen und uns klarzumachen, dass wir uns keine Gedanken zu machen brauchen. Gehst du morgen zum Seelebaumeln?«

Emma schüttelte den Kopf. Potz spuckte wieder aus, vielleicht war es wahr, vielleicht kümmerte es ihn aber auch nicht. Potz war ein Arsch. Ein versoffener Prolet, der sich besonders gewitzt vorkam. Er drehte sich um und ging weg. Einer, der sie »Püppchen« nannte. Die Flasche an den Lippen, nahm er immer wieder einen Schluck.

»Morgen darf ich um diese Zeit surfen«, meinte Emma.

Nun zuckte Potz hoch: »Onlinezeit, sonic sonic!«

»Komm, gehen wir zur Hütte. Hier gibt es immer noch ein Morgen, bis zu dem man weiter trinken kann.« Richie führte sie an der Hand in Richtung Hütte. Emma ließ sich auf ihr Bett fallen, es knarrte. Zurück zur Natur, zurück zu quietschenden Lattenrosten, dachte sie. Richie hatte ihre Hand nicht losgelassen, warf sich ebenfalls auf ihr Bett, es quietschte noch lauter. Die Masse seines Körpers schien überall zu sein. Der Erdbeerwein hatte einen pelzigen Belag auf Emmas Zunge hinterlassen, auf Richies Zunge ebenso: Er küsste sie. Sie hatte damit gerechnet. Die alberne Händchenhalterei. Er versuchte, seine dicken Finger in ihre Jogginghose zu bohren, aber sie drängte seine Hand weg. »Ach, komm«, sagte Richie, wieder der Pelz in ihrem Mund. Ach, komm? Damit hatte Emma nicht gerechnet. Dabei hatte man ihr doch prophezeit, dass sie hier Menschen mit ähnlichen »Herausforderungen« treffen würde. Man sollte auf andere Gedanken kommen, nicht ständig über die Welt grübeln. »Ach, komm. Einen Abend dumm sein. Das muss. Triebabfuhr als …«, flüsterte er, dann ließ er sein Gesicht gegen ihren Hals fallen.

 

Richie hielt inne, die Tür knackte. Jackie schwebte in den Raum. Jackie, das schwebende Wesen. Potz trug sie und legte sie vorsichtig in ihr Bett, zerrte ihr die Jacke vom Körper und zog sachte die Bettdecke über sie. Eine Waschschüssel stellte er auf die Seite ihres Bettes, der sie das Gesicht zuwandte. Jackie stöhnte. Emma spürte Richies Atem an ihrem Hals, spürte, wie er abwartete, dass Potz wieder hinausgehen würde, um weiter zu saufen. Potz bemerkte Richie in Emmas Bett, griff nach dem Kragen seiner Jacke und zerrte Richie von ihr, schlug ihm ins Gesicht. Zweimal, dreimal. »Potz, you f***** a****!«, schrie Richie, ohne sich jedoch weiter zu wehren. Jackie wachte aus ihrem Delirium auf.

Emma sprang aus dem Bett, sie musste hinaus, sie hastete Richtung Teich. Schnelle Schritte. Sie wollte einfach nur weg von ihnen. Sie hörte ebenso schnelle Schritte hinter sich, jedoch leiser. Jackie schwebte ihr nach. Diesmal alleine. »Potz hat recht!«, rief sie ihr hinterher. »Er versucht nur, Ihr Freund zu sein, ich bitte Sie, bleiben Sie stehen! Das ist genau, was die hier wollen. Dass Sie etwas tun, wovon es vielleicht kein Zurück gibt. Emma, bleiben Sie stehen!«

»Lass mich in Ruhe«, knurrte Emma Jackie an. Das war erst der erste Abend. Der Beginn. In zwei Monaten würde niemand von ihnen mehr wissen, was er tat. Auch sie selbst nicht, dachte sie. Auf zu engem Raum, in Untermürbwies. Das verfluchte Camp. Verfluchter Richie. Jackie hatte offenbar wieder umgedreht. Sie hörte nun andere Schritte hinter sich. Schneller, ein Laufen. Hoffentlich nicht der Dünne im Trainingsanzug, dachte sie, aber es war Potz, der sie am Arm packte.

»Lass mich los. Lasst mich doch alle in Ruhe«, fauchte sie und versuchte, ihren Arm aus der Umklammerung zu lösen.

»Richie wird es auch irgendwann begreifen. Wir haben etwas zu erledigen, oder etwa nicht?«, sagte Potz, als müsste sie wissen, wovon er sprach. »Ich werde dir sagen, was du tust, bevor du morgen den Log öffnest. Dann sind wir hier in zwei Tagen wieder draußen. Das muss. Solange es die Onlinezeiten noch gibt, sollten wir die Kabelverbindung nutzen«, grinste er.

»Sch***-Untermürbwies«, murmelte sie. Potz nickte und hielt ihr wieder die Wodkaflasche hin. Sie griff danach. Die Flasche war kalt, die Wärme seiner Finger ließ sie zusammenzucken. Er legte seine Hand auf ihr Schulterblatt, und so machten sie sich auf den Weg zurück. Sie wusste nicht, warum es die Onlinezeiten nicht mehr geben sollte.

Ein heller Schrei war es, der sie hochschrecken und innehalten ließ. Drei Hütten weiter fand das Drama statt. Das war einer von ihnen, einer, der auf dem Dach seiner Hütte stand. »Er wird springen, oh mein Gott, er wird springen«, rief eine Stimme hysterisch. Gott, dachte Emma, hat damit auch nichts zu tun. Höchstens der Psychologe. Aber vermutlich würde man ihn einfach hormonell anpassen. Über den Körper konnte man doch alles wieder in Ordnung bringen.

Der Springer stand am Rand des Daches der Pfahlhütte, schien mit seinem Blick die Höhe zu vermessen. »Er wird doch nicht so dumm sein, zu springen«, sagte Richie plötzlich hinter ihnen, »da bricht er sich höchstens ein Bein, das ist nicht hoch genug.« Emma fragte, was denn passiert sei, ohne Richie anzublicken.

»Sie haben heute Nachmittag ein Schachspiel bei ihm gefunden«, antwortete Richie und nahm einen kräftigen Schluck aus einem Kunststoffbecher.

Sie zuckte zusammen: »Springer auf D5!«, rief Potz hinter ihr. Ob der Schachspieler ihn auch verstand? Die anderen Schaulustigen murmelten. »Machst du dich über ihn lustig? Du bist ja vielleicht daneben. Der will ohnehin schon sterben«, sagte sie.

Potz lachte: »Prinzesschen hat wohl nie Schach gespielt? Und so dumm ist der nicht. Dann sitzt er nur die halbe Nacht beim Psychologen, der eh allen das Gleiche sagt: Entspann dich, such Kontakt zu anderen, lass dich mal gehen et cetera. Dann ertränkt dich der Log in einem Eimer Lithium-Sieben.« Emma schüttelte den Kopf. »Was für ein braves Mädchen«, gluckste er.

»Dass es verboten ist, weißt du aber schon?«, fragte Richie. Emma nickte: »Aber ich dachte, es sei eben nur ein Spiel.« Potz lachte wieder: »Das angeblich Rassenkrieg verherrlicht. Der da ist also ein Rassist. Schwarz gegen Weiß.«

»Schwarz sagt man nicht«, entgegnete Emma, und: »Gegen Rassismus muss man etwas tun, wenn du das S-Wort sagst, handelst du auch diskriminierend.«

»Sei nicht gleich so getriggert«, grunzte Potz.

Richie schüttelte den Kopf: »Nein, das ist es alles nicht, es geht um Schichtenkampf. Die Bauern werden zum Sterben geschickt. Unterschicht und so. Und um Gewaltverherrlichung. Der da oben«, er deutete mit dem Finger auf die schmale, blasse Gestalt am Rand des Hüttendachs, »ist demnach ein Kriegsfanatiker.« Emma war verblüfft: Wenn es um schwarze und weiße Figuren ging und um Schichten, dann musste man doch einschreiten.

Potz zuckte mit den Schultern und fügte hinzu: »So was kriegt man nicht mehr digital. Es ist antiquarisch. Real. Da kann der Log nichts tun.«

Emma sah nach oben und der Schachspieler sah nach unten. Blonde, fransige Haare fielen ihm in die Augen. Er sah ihr geradewegs ins Gesicht. So wie die Astlöcher sie anstarrten, egal wo sie sich befand. Sie fröstelte. Vielleicht bildete sie sich all das nur ein. Schwachsichtigkeit lässt sich besser messen als beispielsweise Körperbehinderung wegen einer abgetrennten Gliedmaße, oder gibt man diese in Prozent des Körpergewichts an? Erstaunlich, so etwas müsste sie eigentlich wissen. Wie viel Fantasie die Blindheit ihr allerdings verlieh, war vollkommen unmessbar, und vielleicht bildete sie sich alles im Camp nur ein.

Potz spuckte aus: »Spring doch, du A****, spring doch!«, rief er. »F***ling!«, rief er. Emma fühlte sich unwohl in ihrer Betrunkenheit. Wenn er Selbstmord Feigheit nannte, dann sollte er das erst probieren und hernach reden.

»Der Sprung bringt ihn eh nicht um.« Potz nuckelte wieder an seiner Wodkaflasche.

»Was passiert, wenn sie hier sagen, man hätte nicht bestanden?«, flüsterte Emma Richie zu.

Ihn interessierte offenbar nicht, ob der Schachspieler wirklich sprang. Einer vom Lagerpersonal kam und begann die Schaulustigen mit wedelnden Armbewegungen zu verscheuchen.

Der Schachspieler kletterte schließlich vom Dach. In seinem Kopf war also klar: Der Sprung würde ihn nicht töten. Dann hätte es keinen Sinn. Für einen bloßen Beinbruch. Er würde wohl trotzdem die halbe Nacht beim Psychologen sitzen, wie Potz vorhergesagt hatte.

Emma entschied, eine weitere Runde um den See zu wanken, um der stickigen Luft der Hütte noch ein paar Minuten zu entgehen. Was sie sich eingebrockt hatte. Sie hatte doch gar nichts getan. Sie würde guten Willen zeigen, dachte sie. Morgen würde sie in den Facial Expression Workshop gehen. Sie hatte die Beschreibung gelesen. Das schien weniger langweilig als das Training für jene, die Schwierigkeiten – oder sagt man auch Herausforderungen? – hatten, in Situationen den Gesichtsausdruck des anderen richtig zu lesen. Man brauchte das auch kaum. Der Log hatte kein Gesicht und der Log kannte deinen Hormonhaushalt. Der Log konnte sie immer richtig lesen. Karell kannte sie besser als ihre Eltern. Auf Karell konnte sie sich verlassen. Er versagte nicht, wie Menschen es taten. Er konnte alle ohne Gesicht lesen. Interessant war das allemal. Der Log war das einzige Menschenrecht, das man brauchte. Alle anderen Menschenrechte sind doch nichts weiter als Imperialismus, Ignoranz gegenüber anderen Kulturen. Sie nahm sich vor, ab morgen alles am Camp zu loben, ist ja sonic, würde sie sagen. Einfach zu allem. Potz konnte ihr gestohlen bleiben mit seinem Vorschlag, von hier zu verschwinden. Wie naiv zu glauben, dass man hier einfach hinausspazieren könnte.

Die Tür knarrte, als sie sanft mit der Hand dagegendrückte. Sie sah gerade noch, wie ein dünnes Leuchten aus Jackies Bett auf jemanden zusprang, Richie stolperte an ihr vorbei, sie mit seiner Breite beiseiteschiebend, und torkelte heftig hustend ins Freie. Das Leuchten war verglommen. Hatte er es nun bei Jackie versucht?

»Was war das?«, flüsterte sie.

»Ach, das ist nur das Asthma«, keuchte er zur Antwort, und fast hätte er ihr leidgetan, obwohl er einer der Gründe war, warum sie das Lager nun schon am ersten Abend satthatte. Ein unglaublich langer Abend. »Ich meinte das Leuchten«, zischte sie. Aber er zuckte nur mit den Schultern: »Welches Leuchten?« Dabei war sie sicher, dass ihre Augen sie nicht betrogen hatten.

4Netze

Im Jahr 20 vor dem Konsul

Newsfeed im Jahr 20 vor dem Konsul

Das Netz ist alles, was der Fall ist. Sonderreportage zum neuen Log aus der digitalen Wunderstube um Li Na.

»Wie viele von euch kamen heute mit dem Bus? Und wer wurde von den Eltern gebracht?«, fragte Lehrperson Kowalcik. Die Kinder hoben artig die Hand. Lehrperson Kowalcik erklärte weiter, dass früher weit mehr Kinder von ihren Eltern oder Betreuungsbeauftragten in gesonderten Kraftwagen zur Schule gebracht wurden. Heute sei dies anders, denn die Busse seien nun intelligent und mit den Bedürfnissen der Bevölkerung verknüpft. Der Log sammelte die Informationen, wer welche Wege zu machen hatte, und koordinierte dahingehend den Verkehr. Dies entlastete die Straßen, was wiederum die Wege sicherer machte. Das war, worauf sie hinauswollte: Ein Netz bedeutete Sicherheit. Denn ein Netz bedeutete Information. Der kleine Sandor Karol malte ein Netz aus Bussen und eine strahlende gelbe Schutzschicht ringsum. Eine sonnige Schutzschicht. Das Netz, erklärte Kowalcik, behandelte alle gleichwertig und konnte so für ein gleichberechtigtes Dasein aller sorgen. Über Gleichberechtigung hatten sie schon letztes Jahr in Weltkunde gelernt. Sie war notwendig. Das Netz konnte also mit all seinen Informationen dazu beitragen, dass reife Entscheidungen für die ganze Welt getroffen wurden. Die Administration konnte die Daten auswerten und Handlungen setzen. »Wer kann mir sagen, was passiert, wenn das Netz nicht funktioniert, oder, wie man sagt, ›down‹ ist?«, fragte Kowalcik.

Sandor hatte im letzten Kurs nicht besonders gut abgeschnitten. Da war ein kleiner Frosch abgebildet neben seinem Weltkundeeintrag. Er sagte auch zu Hause »nicht besonders gut«, aber seine Mutter korrigierte ihn: »mit großer Potentialspanne«, das sollte der Frosch bedeuten. Noch nie hatte er in Weltkunde einen Biber gehabt oder gar ein Einhorn. Nur in Schreiben hatte er einmal ein Einhorn gehabt, aber dann hatte seine Mutter aufgehört, ihm vorzulesen. Lehrperson Kowalcik hatte sie darauf hingewiesen, dass sie damit zu »gesellschaftlicher Ungleichheit« beitrug, denn anderen Kindern wurde nicht vorgelesen. Sandor war danebengesessen und hatte auf seine Schuhe gestarrt. Er hob also die Hand, vielleicht schaffte er diesmal den Biber. »Die Menschen organisieren ihre Wege wieder selbst?« Kowalcik nickte, sagte: »Nein«, holte tief Luft und erläuterte nach einer kleinen Pause: »Du meinst also, die Menschen würden dann erst selbst bestimmen, doch in Wahrheit bestimmen sie ihre Wege jetzt selbst, wenn der Log ihre Daten sammelt. Befänden sich jedoch alle wieder alleine auf den Straßen, würden ihre Wege gestört, schon alleine dadurch, dass alle in unterschiedliche Richtungen streben, denn das Netz weiß besser, was die kürzesten und schnellsten Wege sind.« Sandor löschte ein paar Linien von seinem Bild, sie waren lang, er ersetzte sie durch Linien, die quer über den Bus, quer über das Blatt gingen, die kürzer waren. Das hatte ihn dem Biber nicht nähergebracht.

»Nehmen wir ein Beispiel,« sagte Kowalcik und begann von einem Lieferunternehmen zu sprechen, dessen Informationssystem am Anfang des Jahrhunderts zusammengebrochen war. Es war eine Katastrophe: Informationen konnten nicht abgerufen werden und daher mussten private Geräte herangezogen werden, um in privaten Nachrichten wichtige Informationen für Fahrer, die es damals noch gab, für Beamte, Hafenadministratoren und viele weitere zu suchen. Noch viel schlimmer war, dass viel Papier benötigt wurde, das mit Klebebändern auf Schiffscontainer geklebt wurde, auf Lastkraftwagen, auf Wände und Tische, um den Überblick zu behalten. Neben dem finanziellen Schaden ein Desaster für die Umwelt. Was das finanziell bedeutete, hatten sie auch im letzten Jahr besprochen. Was Geld war, bevor man es virtualisierte. Wie man heute mit seiner Adresse bezahlen konnte. »Die Lastwägen bleiben stehen, wenn die Daten fehlen«, sagte Kowalcik. Ein Netz bot Sicherheit. Wie im Sportunterricht: Wer nicht klettern konnte, konnte sich fallen lassen, in das große weiche Netz.

 

»Wo können wir die Vorteile des Netzes noch erkennen?«, fragte Kowalcik. Luce wedelte aufgeregt mit der Hand: »Um zu wissen, ob wir friedenssichernde Maßnahmen machen müssen.« Machen müssen, dachte Sandor. Ergreifen müssen, umsetzen müssen. »Machen« war ein Wort, das er nicht mochte. Luce würde in Weltkunde sicher wieder ein Einhorn bekommen. Sie meldete sich immer nur, wenn es um Frieden ging. Sie war auch von den Lehrpersonen als Friedensstifter-in der Klasse beauftragt worden. Das bedeutete, dass sie, sobald zwei in der Klasse stritten, den Lehrpersonen Bescheid gab. Sandor mochte sie nicht.

Kowalcik erklärte nun, was ein Alghorithmus war. Das Wort erschien hinter ihr auf einem Schirm und dazu die Definition: eine eindeutige Handlungsvorschrift zum Lösen von bestimmten Problemen.

Kowalcik sprach nun darüber, was hier »eindeutig« meinte. Nur eine Lösung ist gut und richtig. Kowalcik stand nun vor Sandors Pult und fragte: »Warum die gelben Strahlen?« »Der Schutz vom Netz.« Lehrperson Kowalcik lächelte und nickte: »Sonnig.« Sandor lächelte auch. Wenn er jetzt etwas Kluges sagte, dachte er, könnte er schon auf einem Biber stehen. Eine kluge Frage, dachte er: »Warum ist mein Schulweg fünfundvierzig Minuten, seit wir vernetzt sind, und nicht wie früher fünfzehn … Wenn der Log doch den schnellsten Weg findet.« Da verzog Lehrperson Kowalcik wieder das Gesicht. Es war wohl doch keine kluge Frage gewesen. »Der Log findet den besten und kürzesten Weg für alle. Dein Weg mag länger geworden sein, aber im Durchschnitt – du erinnerst dich, was ein Durchschnitt ist? –, im Durchschnitt sind alle Wege kürzer. Wenn nur deiner so kurz ist, alle anderen aber mehr als eine Stunde brauchen, wäre das ungerecht. Daher ist es wahr zu sagen, dass der Log den schnellsten und kürzesten Weg findet, verstehst du?« Sandor nickte stumm. Die anderen Kinder tuschelten. Sie hielten Sandor für dumm. Sandor hatte etwas Dummes gefragt. Sandor würde wieder einen Frosch bekommen.

An diesen Tag dachte Sandor Karol, als er seinen Chip bekam. Ein kleiner Stent in der Hand. Jemand mit bunt gefärbter Haut und vielen Löchern in Nase und Ohren hatte ihn in seine Haut gestochen, zwischen Daumen und Zeigefinger. Das war sein Ausweis, das war sein Bankaccount, seine Adresse, darin war alles verzeichnet, was er jemals virtuell getan oder gesagt hatte. Sogleich fragte ihn der Log, ob er auf seinen Kalender zugreifen durfte. »Darf der Log auf Ihre Wege zugreifen?«, war die nächste Frage, die sich mit einem kleinen Zittern, einem sanften, wohligen Vibrieren angekündigt hatte. Kein Suchen nach Chipkarten mehr, er musste sich nicht mehr die Mühe machen, selbst eine Orientierungshilfe zu befragen, und keine Angst mehr haben, verloren zu gehen. Das Netz war da und wusste, wer er war und was er war. Er konnte mit ihm sprechen, ohne den Mund zu bewegen, er musste nur »Log« denken oder den Namen seines Logs, doch er hatte seinen nicht benannt.

An diesem Schultag, erinnerte sich Sandor, hatten sie auch Turnunterricht gehabt. Die meisten Kinder konnten nicht klettern. Nur wenige schafften ein paar Zentimeter am Seil nach oben, das in den Handflächen brannte. Er bemühte sich trotzdem, auch wenn es hier keine Frösche oder Einhörner gab. Hier gab es nur Sonne oder Mond. Dabei gewesen oder nicht dabei gewesen. Für die Kinder war das egal. Sandor war etwas zu klein für sein Alter, der Wachstumsschub ließ lange auf sich warten. Er war bereits sechzehn, als er endlich seine Eltern überragte. Die anderen hatten ihn »Sando, der Große« genannt. Das meldete Luce, die Friedensstifter-in, nicht. Schließlich nannten sie ihn nicht klein. Dabei hatten die Lehrer irgendwann aufgehört, Uneingeschränkte als »Uneingeschränkte« zu bezeichnen, denn, so erinnerte er sich vage, es würde nur darauf hinweisen, dass es Eingeschränkte gab, und »Eingeschränkte« sagte man nicht. Aber da war er bereits älter gewesen. Inzwischen gab es keine Eingeschränkten mehr. Alle Körperteile waren mittlerweile ersetzbar, veränderbar.

Damals hatte er noch versucht, am Seil nach oben zu klettern, aber in den Folgejahren hatte er sich einfach nur fallen lassen. In das Netz. Das Netz fängt dich auf, das Netz bietet Sicherheit. Man konnte nicht am Boden aufschlagen. Im Netz kann man auch nicht verlorengehen oder gar entführt werden. Seine Hände hatten gebrannt, als er vom Seil rutschte, und das Netz federte ein wenig unter seinem geringen Gewicht. Das war sie also, die zweifelhafte Freiheit, sich fallen lassen zu können. So lag er einen Moment und atmete durch. Und Luce sagte: »Sando, der Große, blockiert das Netz, die anderen haben gar keinen Platz, er stört den Unterricht, Stören des Unterrichts ist Unfriede«, und sie grinste dazu, während die Lehrperson ihn grob anwies, Platz zu machen. Seine Mutter wurde auch ins Rektorat zitiert und man erklärte ihr, dass sie nicht weiter in seine Bildung eingreifen sollte. Sandor denke nicht, oder zumindest nicht richtig, sonst würde er nicht ständig Dinge fragen, die längst geklärt waren.

Er löste sich von seinen Erinnerungen und dachte »Log« und »Nachrichten«, und der Newsfeed tauchte vor seinem inneren Auge auf: Er scrollte auf ganz intuitive Art mit Wimpernschlägen. »Likesucht: ernstzunehmende Erkrankung oder Erfindung fabrizierter Wissenschaften?« Wie kurios, dachte er: In der Schulzeit hatte Kowalcik die Sozialen Wissenschaften gelobt und bejubelt, doch nun war alles Körper. Farbe, Geschlecht, Piercings, Elektronik, selbst Zugefügtes wie Natürliches bestimmten den Lebensweg. Sandor wusste nicht, ob der Fehler nun bei Kowalcik lag. Schlechte Lehrer sind eine gute Schule, dachte er, hielt einen Moment inne, schrieb es dann zu seinen anderen Sätzen. Dieses Blatt war bereits voll, er legte es in den kleinen, braunen Koffer zu den anderen. Papier und Leder hatten etwas Nostalgisches. Papier war ein Luxus, und er gehörte zu den Privilegierten, die es sich leisten konnten. »Pop-up Vintage Store« flimmerte eine Werbung durch seinen Feed. Er scrollte weiter. Heute war alles nur mehr Pop-up. Er kannte gar kein reales Geschäft mehr, in dem man Dinge anfassen konnte, das von Dauer war. Alles war über das Netz bestellbar. Nur mit Adresse und Geburtsdatum. Daten, das war alles. Bei ganz Zeitgemäßen konnte man mit Likes bezahlen. Er scrollte weiter. Es soll einen Anschlag gegeben haben, man wisse noch nicht, von wem. Die Union habe einen Primärhaushaltsüberschuss und werde Maßnahmen ergreifen, und bald werde auch gewählt. »Wahlinformation beantragen?«, fragte der Log und Sandor nickte. Auch das registrierte der Chip, obwohl er doch so weit vom Kopf entfernt war. Er war nun vernetzt, so wie Kata es wollte. Ohne Log gab es keine partnerschaftliche Verbindung. Kata hatte sich schon für ein Paket entschieden. Er hatte das Dokument dazu noch gar nicht gelesen.

Eine Werbung wurde eingeblendet. Er war noch nie anfällig für Werbung gewesen. Daher war Lyrie auch nicht gecrispert. Die Kurzens von schräg gegenüber, die hatten entschieden, dass ihr Sohn schwarz sein sollte, damit seine Erfahrungen ernst genommen würden. Man konnte sich schließlich dagegen entscheiden, lächerlichen Privilegien hinterherzuhecheln, und stattdessen seinem Kind die wahre Erfahrung des an den Rand Gedrängten vermitteln, was ihn zu einem besseren Menschen machen würde. Soweit Sandor wusste, war der Sohn der Kurzens jedoch auffällig geworden und verbrachte die Sommer in einem Ferienlager mit Pädagogen für gravierende Fälle, aber das könnte auch nur ein Gerücht sein. Auch für den Slogan zur Bewerbung des Logs selbst hatte er sich nie erwärmen können: Das Marketing hatte sich schon vor Jahrzehnten auf »Log it« eingeschossen. »Termin? Log it. Tasks? Log it. Kalorien? Log it.« Ein Punk, ein Mann im Anzug und eine Großmutter sprachen diese Sätze, das Personal, das in der Werbung einfach alles loggte, wurde ständig erweitert. Jetzt hatte sich das Marketingteam des Logs wohl endlich, nach all dieser Zeit, einen neuen Slogan geleistet: »Der Mensch ist die Summe seiner Gedanken.« Besser war das nicht, fand Sandor, als das ewige »Log it!«, es klang sperrig und neue Ideen gab es offensichtlich ohnehin keine.