Tschinku im Gastland

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Tschinku im Gastland

1  Start

2  Über den Autor

3  Widmung

4  &&& Ein Mann ist verbittert

5  &&& Das Treffen

6  &&& Familie Tschinku Wagner

7  &&& Der Arbeiter

8  &&& Der Arbeitslose

9  &&& Die „Viersamkeit“

10  & & & Brief von Jakubu

11  &&& Antwort vom Minister

12  &&& Zweiter Brief von Jakubu

13  &&& Antwort vom Ex-Minister

14  &&& Letzter Brief von Jakubu

15  Weitere Bücher von indayi edition (Auszug)

Tschinku im Gastland: Meine Heimat Deine Heimat

Constant Kpao Sarè

Roman

Besuche uns im Internet:

www.indayi.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage Januar 2019

© indayi edition, Darmstadt

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Gesamtleitung Lektorat, Umschlaggestaltung und Satz: Birgit Pretzsch

Lektorat: Anna Nestmann

Über den Autor

Constant Kpao Sarè. Geboren 1974 in Djougou (Bénin), Maître de Conférences am Département d’Etudes Germaniques (DEG) an der Université d’Abomey-Calavi in Benin (UAC). Studium der deutschen Literatur und Sprache an der Université Nationale du Bénin, Universität des Saarlandes (Deutschland) und Université Paul-Verlaine de Metz (Frankreich), sowie der Verwaltungswissenschaften an der deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Promotion in Germanistik (2006). Seine Forschungen widmen sich u.a. der Postkolonialen Erinnerungskultur in der zeitgenössischen deutschsprachigen Afrika-Literatur, wozu er auch zahlreich publiziert.

Widmung

Meyaki Karol

Tissora Benedikt

Nassara Michelle

Djetnan Jürgen

Klehou Wilhelm

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der anderen trennen.

Johann Wolfgang von Goethe

&&& Ein Mann ist verbittert

Es gibt mindestens zwei Personen, denen das Wort nicht genommen werden kann, zwei Personen, mit denen nicht diskutiert werden darf, zwei Personen, die man nicht zu bekehren versuchen sollte, zwei Personen, denen nicht widersprochen werden darf. Es gibt im Leben mehr als zwei Arten von Menschen, denen man zuerst nur aufmerksam zuhören müsste, bis sie alles gesagt haben, bis sie den Mund zugemacht haben, bis sie einen nach etwas fragen und bis sie schweigen und einen ansehen und demutsvoll beobachten, als ob sie von einem das „nicht schuldig“ des Richters oder ein „mein Sohn, deine Schuld wird dir vergeben“ des Priesters erwarten.

Es gibt den Verräter, der unter allen Umständen kurzen Prozess macht, den schuldbewussten, reumütigen Brandstifter, der sich endlich entscheidet, hemmungslos zu reden. Der Übeltäter, der über alles sprechen will, über die kaum denkbare, erbarmungslose, barbarische, grausame und brisante Wahrheit, über die härteren Maßnahmen, durch welche er die Weltordnung gemein zerstört hatte, über die Brutalität, mit der er unschuldige Menschen rücksichtslos und hartherzig gefoltert hatte, über getötete Kinder, Frauen und Schwerbehinderte, über ruinierte Leben – von dieser Person wird gewiss nicht die Rede sein in der nachkommenden Erzählung.

Es gibt den durch soziale Ungerechtigkeit erbitterten Menschen, den Menschen, der eine unsinnige und absurde Realität jahrzehntelang kraftlos, machtlos und wehrlos erlebt hatte. Den Menschen, der sein eigenes Leben allmählich und graduell in eine labyrinthische, verwirrende, dunkle und geheimnisvolle verdammte Höhle herunterstürzen sah, ohne reagieren zu können, ohne es zu wagen, irgendetwas zu unternehmen.

Ich begegnete ihm kurz vor seinem fünfundvierzigsten Geburtstag während meines einwöchigen Aufenthaltes in Saarbrücken, wo ich weit weg von meinem alltäglichen vorschriftsmäßigen Leben versuchen wollte, mich wieder in die Stimmung und Umgebung der damaligen Studienzeit zu vertiefen. Er sah wie ein sechzigjähriger, mitteloser und familienloser Bauer aus, der seinen letzten Hund aus Mangel an Futter sterben sah: arm, hoffnungslos und jämmerlich gekleidet, mit einer Zigarettenschachtel als Jonglierspielzeug. Der offensichtlich arme Mann stand plötzlich vor mir, nachdem er seine altmodische dunkle Sonnenbrille von den Augen genommen hatte, damit er seinen eigenen Augen trauen konnte.

Als ich ihn sah, versuchte ich, ihm auszuweichen. Der Mann kam mir aber artig und freundlich entgegen, mit einem familiären Lächeln, welches nur einer bekannten Person angeboten werden kann. Ich bemühte mich darum, sein kodifiziertes und fast provozierendes Grinsen nicht wahrzunehmen, besser gesagt, mich vor dieser ungünstigen und lästigen Erscheinung und deren jämmerlichen Aufführung zu schämen: ich hatte ihn nicht erkannt. Ich glaubte, ich hatte es mit einem Bettler zu tun und sagte mir ganz leise: „On aura tout vu!“. Es wäre in der Tat das erste Mal für mich, mit eigenen Augen einen schwarzen Straßenbettler in Deutschland zu sehen. Abgesehen davon, dass er keinen beängstigenden, hässlichen und schmutzigen Hund dabei hatte, sah er wie einer der Obdachlosen aus, die zu jener Zeit vor dem Saarbrücker Rathaus zu sehen waren.

Eigentlich fühlte ich mich weder unwohl, weil der Mann wie ein Almosenempfänger aussah, noch weil ich auch schwarz bin, sondern vielmehr, weil ich ein schwarzer Minister war. Ich hatte sozusagen Gewissensbisse und fragte mich, was die Deutschen glauben würden: Noch einer der vielen hungernden Menschen, die in Afrika nichts zu essen bekommen und zu uns zum Betteln kommen. Aber ich verstand nicht, wieso ich dieses Schuldgefühl und dieses schlechte Gewissen hatte. Schließlich wusste ich gar nicht, aus welchem Land der Mann kam.

Je intensiver ich mich allerdings mit dieser Idee auseinandersetzte, desto unwohler fühlte ich mich. Blitzartig bekam ich ein Stück Klarheit in den entwürdigenden Gedanken, in den Schattenvorhang vor Augen. Eine mir nicht unbekannte Stimme, die ich dennoch nicht identifizieren konnte, flüsterte mir leise immer wieder in die Ohren: „Sie, Verbrecher! Sie, unverschämter Ausbeuter! Dies ist das Ergebnis Ihrer geschmacklosen Inkompetenz, Ihres Mangels an Patriotismus und Ihrer dreisten und frechen Machtgier! Das ist noch eines der Opfer Ihrer schlechten Politik!“.

Diese Worte landeten direkt in meinem Gedächtnis wie ein Elektroschock. Nach einer kurzen Weile konnte ich wieder klarsehen. Der Nebel war nicht mehr da. Die Gedächtnisverwirrung und die fremde Stimme waren auch verschwunden. Nun konnte ich sie erkennen. Es war die Stimme von Dossou, einem unserer strengsten und unsympathischsten Gewerkschafter. Seine Worte waren nicht mehr zu hören, aber das Gefühl meiner eigenen Nutzlosigkeit war geblieben.

Bevor ich mir meine Enttäuschung anmerken ließ, stand nun der mitleiderregende Mann vor mir und versuchte vergeblich, mich zu umarmen, ohne daran zu denken, dass er meinen lilienweißen Anzug durch seine Lumpen, eine nicht gebügelte Bluejeans und ein teilweise entfärbtes T-Shirt, beflecken würde. Die ersten Worte, die er aussprach, brachten mich sofort in die unerbittliche Realität zurück: der Mann kannte mich. Er war zweifelsohne einer meiner zahlreichen Freunde aus der Schule.

- „Barka! Mein gutes Kind!“ schrie er mir gegenüber auf, ohne dabei der Versuchung zu widerstehen, während des Händedrucks mit den Fingern zu klappern, auf die Art und Weise, wie wir uns früher begrüßt hatten.

Er wagte, mich mit dem Scherznamen anzureden, mit dem mich seit mehr als einem Vierteljahrhundert niemand mehr getraut hatte anzusprechen. Die Bezeichnung „Gutes Kind“ war mit meiner Persönlichkeit schon damals im Gymnasium verbunden. Unser erster Deutschlehrer - der eigentlich Englischlehrer war und kaum Deutsch sprechen konnte – pflegte, mir mit diesem Ausdruck jedes Mal zu gratulieren, wenn ich auf Anhieb das Datum richtig gelesen hatte, was für die meisten von uns damals eine Sisyphusarbeit war.

 

Um ihn zu erkennen, musste ich meinen ewig aus den Augen verlorenen Freund und augenblicklich unerwünschten Sozius lange und umfassend anstarren.

- „Jakob! Jakob!“ freute ich mich endlich, allerdings nicht wegen unserer Begegnung, sondern wegen der Meisterleistung meines Gedächtnisses.

Jakob war sein Spitzname, eine, wie ich finde, gelungene Veränderung von Jakubu, seinem Vornamen. Als Schüler durften wir zwar mit unseren Rufnamen spielen, wie wir mochten, aber die Nachnamen galten als fast sakral und durften deshalb nur mit Rücksicht und Respekt ausgesprochen werden. Jeder Missbrauch von Familiennamen wurde von den Lehrern streng bestraft.

Ich sah Jakubu minutenlang an und fand trotz voller Anstrengungen keine Worte. Es war für mich eine große und schlechte Überraschung. Trotz großer Bemühungen konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass Jakubu, der allervernünftigste und fleißigste von uns allen, da vor mir stand, quasi in eine Mumie verwandelt.

Es war endlich Jakubu, der mich wieder aus meinen Erinnerungen in die Gegenwart zurückrief, als er sagte:

- Barka, hör auf nachzudenken! C’est la vie! So ist das Leben. Entweder hast du dein Leben im Griff oder du bist von deinem eigenen Schicksal hin- und hergetrieben wie ein Blatt vom Wind. Ich bin von meinem Leben in eine Sackgasse geführt worden.

Mir kam die Idee, ihn zu einem Kaffee in das - auch für den Minister, der ich war - teure Bahnhofscafé einzuladen. Ich verzichtete jedoch auf die Überlegung nicht aus finanziellen Gründen, sondern weil es mir komisch und seltsam schien, mit so einem sozialen Habenichts- und sei es ein ehemaliger Klassenkamerad - in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Ich fand es vernünftiger, ihn in mein Hotel zum Abendessen einzuladen. Wir vereinbarten also einen Termin gegen zwanzig Uhr. Ich erinnerte Jakubu daran, dass er mich vielleicht nicht genau Punkt zwanzig Uhr im Hotel finden würde und dann kurz auf mich warten sollte.

- Ja, ich weiß. „Gegen zwanzig Uhr“ haben wir gesagt. Es ist bekannt, dass wir Afrikaner das Wort „um“ nicht gebrauchen, wenn es um Termine geht, anstelle benutzen wir „gegen“, weil die Zeit für uns immer dehnbar und elastisch ist. Das weiß ich noch.

Das war seine, wie ich fand, raffinierte Antwort, die er allerdings ohne jegliche diplomatische Rücksicht, sondern mit fast pfiffigem Selbstbewusstsein formulierte.

Ich musste mich von Jakubu verabschieden, nachdem ich noch viele Grüße an seine Frau gerichtet hatte, obwohl ich mir gewissermaßen sicher war, dass er keine mehr hatte, weil er so unglücklich und unbekümmert aussah.

&&& Das Treffen

Am Abend dachte ich extra daran, das Zimmermädchen darum zu bitten, einen zweiten Stuhl in mein Hotelzimmer zu bringen und zwei Teller Dibbelabbes, eine saarländische Kartoffelspezialität, zu bestellen. Ich wollte Jakubu nicht im Gemeinschaftsraum empfangen, weil ich einerseits wusste, dass wir uns viel zu erzählen hatten, und weil mir andererseits bewusst war, dass eine ruhige Umgebung der geeignetere Ort dafür war. Jakubu aber meinte, etwas Anderes hinter meinen Gedanken entdeckt zu haben. Als ich ihm mitteilte, dass wir es uns in meinem überwiegend in Türkis gehaltenen Zimmer gemütlich machen würden, sagte er laut und ganz hörbar, ohne auf die Hotelgäste in der Halle zu achten, wo ich ihm entgegenkam:

- Du hast Recht, Herr Minister! Es dient unserem Bild nicht, wenn du dich mit mir in der Öffentlichkeit zeigst.

Ohne mir die Gelegenheit zu geben, etwas zu meiner Verteidigung zu sagen, fragte er übereilt:

- Bist du eigentlich hier von Amts wegen oder hast du an uns gedacht?

- „Beides“ antwortete ich, ohne zu vergessen, seinen schmächtigen Körper zu umarmen und ihn gegen meinen Bierbauch zu drücken.

Mit diesem Verführungsmanöver wollte ich es ihm bequemer und vertraulicher machen, damit sein erster Eindruck von mir verschwand. Dann nahm ich seine Hand und führte ihn in mein Zimmer. Dort demonstrierte ich ihm meine ganzen Kenntnisse in Farbensymbolik. Ich erklärte, dass der grünlich-blaue Farbton der Tapeten, Vorhänge und Möbel für fruchtbare gedankliche Kreativität stehen würden. Obwohl ich nichts mit dieser Zimmergestaltung zu tun hatte, dachte ich dadurch, meine Präferenz für unsere Unterhaltung in meinem Schlafraum verständlich zu machen.

Als wir am Tisch waren, vergaß ich nicht, auf die Frage von Jakubu noch einmal explizit zu antworten:

- Mein Lieber, ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich bin nach Hannover gekommen, um an der offiziellen Eröffnung der Weltausstellung teilzunehmen, und ich habe an euch gedacht. Weißt du? Aus dem Land der Eichhörnchen haben wir bei dieser Messe unsere geschätzten Grasnager (Agoutis) ausgestellt. Ich weiß, Ihr Europäer glaubt immer, wir könnten nur tanzen und singen. Aber wir sind auch gut in Viehzucht, nämlich der Grasnagerzucht. Ich bleibe hier eine Woche und dann kehre ich verrichteter Dinge in mein Ministerium zurück. Dort wartet schon jetzt viel zu viel Arbeit auf mich.“

Da Jakubu auf meine Provokation nicht einging, formulierte ich bewusst eine neue Herausforderung, bevor wir mit dem Essen fertig waren. Ich konnte nämlich feststellen, dass mein Freund die Kunst unseres Hotelkochs zu schätzen wusste, da er offensichtlich mit viel Appetit dieses Gericht schlemmte, das ich geschmacklos, zu mild, nicht genug gewürzt und nicht scharf fand.

- „Jakob, schieß los!“ brüskierte ich.

Da kein Wort aus seinem Mund kam, weil er mit Kauen beschäftigt war, nutzte ich die Gelegenheit, um ihn ein bisschen aufzuziehen:

- Jakubu, du bist ja Saarländer geworden. Schau mal, mit wie viel Appetit du dein Gericht genießt!

- „Nein, nein! Um Gotteswillen beleidige mich nicht, mein Bruder. Ich bin kein Deutscher, geschweige denn Saarländer. Ich bin nur Deutscher auf dem Papier. Ich kann nie Deutscher werden. Ich habe eine deutsche Frau und zwei deutsche Kinder. Aber ich! Ich werde nie Deutscher. Ich bin und bleibe Afrikaner von Kultur“, erwiderte er mit vollem Mund und übertriebener Unerbittlichkeit, als hätte ich ihn „Sklave“ oder „Neger“ genannt.

- „Deutscher auf dem Papier, das weiß ich genau“, sprach er weiter. Und deswegen gehe ich niemals ohne meinen Ausweis aus dem Haus. Ich weiß, dass ich ohne Ausweis verloren bin. Keiner, mich eingeschlossen, würde daran glauben, dass ich Deutscher bin, wenn ich mich nicht ausweisen könnte. Ja, beweisen können, das muss ich immer und überall. Vom ersten Tag als ich hier ankam wusste ich schon, dass ich hier nicht zu Hause sein würde. Das brauchte mir auch übrigens niemand zu erzählen. Das habe ich selber täglich, geduldig und Schritt für Schritt herausfinden müssen.

Ich musste verstehen, dass das hiesige Zusammenleben nicht mit der Absicht aufgebaut wurde, damit irgendwann ein gewisser Tschinku hier leben kann. Hierzulande als richtiger Tschinku fortzuleben, das war nicht vorgesehen. Ich musste vieles neu lernen. Sogar das Essen musste ich nochmal einstudieren. Während die Kinder schon mit vier die Kunst des Gabelns, des Löffelns und des Messerschneidens beherrschten, musste ich mich, als Erwachsener, immer wieder lächerlich am Tisch machen. Wie du sicher weißt, wird in unserer Tradition Ungeschicklichkeit beim Essen nicht toleriert. Ich persönlich erinnere mich immer noch sehr genau an die Ohrfeigen, die ich mir von meinen älteren Geschwistern einfing, wenn ich mir beim Essen beispielsweise die Rotznase putzte, wenn ich versuchte das Tagesgericht zu beschnuppern und dabei den appetitanregenden Geruch von brühheißem Palmöl abschätzte, oder wenn ich als erster satt war und versuchte, mich vom Tisch zu entfernen, ohne nach der Zustimmung des Ältesten am Tisch zu fragen.

Hier scheinen die Leute doch Verständnis für unbeachtete Tischmanieren zu haben. Es wird keine Tracht Prügel verabreicht, wenn der Tischherr rechts von seiner Tischdame sitzt oder wenn der Gast seinen Teller Suppe auslöffelt, ohne auf seinen Gastgeber zu warten. Das alles wird meistens toleriert. Aber man versteht beim besten Willen nicht, dass ein Erwachsener eine so einfache Technik wie Messer in der rechten und Gabel in der linken Hand halten nicht beherrscht. Und ich musste trotzdem immer mit voller Aufmerksamkeit am Tisch sitzen, um dieses banale Verfahren nicht zu vergessen, um die Finger der rechten Hand nicht aus Versehen im Teller landen zu lassen oder um das Besteck nicht fallen zu lassen.

Ich musste verstehen, dass es für den richtigen Tschinku keinen Platz hier gibt. Dass es für mich keinen Friseur gibt, weil kein Haarschneider gelernt hat, wie man meine gekräuselten Haare schneidet. Dass das Leitungswasser für meine Haut nicht geeignet ist. Dass es nicht normal ist, einfach auf der Straße Tanzschritte ohne Grund aufzuführen. Dass es unhöflich ist, wegen einer Kleinigkeit zu lachen oder zu grinsen, und dass man stattdessen unauffällig lächeln sollte. Dass das Lächeln als Ausdruck der Sympathie und der Berührung eines anderen gilt, während das Lachen in der Öffentlichkeit meistens als nicht manierlich eingestuft wird. Dass es unangebracht ist, sich einfach zu Unbekannten in einem Café oder Restaurant zu setzen.

Ich verstand ganz schnell, dass ich den Lehrsatz meiner Mutter „dem Alter den Vortritt!“ per Luftpost zurückschicken konnte. Dass ich hier keine Anstalten zu machen brauche, um den Älteren meinen Sitz in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu überlassen, weil sie bestimmt ablehnen würden. Dass man Leute nicht begrüßt, die man gar nicht kennt; ansonsten müsse man sich nicht wundern, wenn man gefragt wird: „Kennen wir uns?“. Und zu guter Letzt, dass man ausschließlich auf sich selbst zählen sollte.

Weil ich gewiss kein wahres Tischleindeckdich erwartet hatte, habe ich das alles ohne große Mühe gelernt. Dann wurde ich Deutscher. Trotzdem muss ich immer meinen Ausweis dabeihaben, um zu beweisen, dass ich auch wirklich Deutscher bin. Also, mein Freund, ich bitte dich, komm nicht wieder mit Anspielungen in der Art, ich sei ein Saarländer.“

Ich verstand, dass ich es mit einem verbitterten und einem mit allzu vielen Komplexen lebenden Menschen zu tun hatte, und riskierte kein Wort mehr. Ich fürchtete, ich könnte nochmal etwas Deplatziertes und Unangenehmes äußern. Jakubu aber sprach weiter:

- „Mein Freund, ich bleibe nur wegen meiner Tochter Conni und wegen meines Sohnes Uwe in Deutschland. Und nicht etwa wegen des Studiums oder wegen meiner neuen Staatsangehörigkeit. Hätte ich keine Verantwortung hier, wäre ich ebenfalls schon längst unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekehrt.

Stell dir vor, seit zwanzig Jahren bin ich in Deutschland und seitdem bin ich nicht mehr zu Hause gewesen. Meine Eltern! ... Die sind beide gestorben. Gott hab’ sie selig! Ich hatte von ihrem Tod erfahren, aber das Einzige, was ich wirklich tun konnte, war ihn zu beklagen. Ich habe mir tagelang die Seele aus dem Leib geweint. Es ist mir allerdings nicht gelungen, nach Hause zu fliegen, um sie zu begraben, um die Zeremonien zu organisieren und die Toten ruhen zu lassen ... Ich weiß! Du denkst jetzt, ich kenne sicherlich unsere Bräuche, Rituale und Riten nicht mehr. Aber das stimmt nicht. Ich weiß alles. Jede Nacht träume ich davon, endlich mal meine Heimat, mein Dorf, meine Familie - besser gesagt, das was davon übrig blieb - wiederzusehen: meine fünfzehn Geschwister, die noch jung waren, als ich nach Deutschland kam. Die haben seit Jahren keine Nachricht mehr von mir bekommen. Dennoch weiß ich alles über sie. Ich weiß, was sie alle jetzt tun, wie es ihnen geht. Ich habe mich immer danach erkundigt. Aber von mir wissen sie nichts. Ich kann ihnen nichts von mir erzählen. Es gibt nichts zu erzählen. Es ist ein Loch. Ja, ein Loch in der Zeit. Zwanzig Jahre, leer ...“

Jakubu schwieg eine Weile, als wäre er in seinen einsamen Gedanken verloren, als würde er anfangen zu weinen, als würde er aufstehen und von mir weglaufen. Was sollte ich machen? Ihn Umarmen? Mit ihm sprechen? Und was genau sollte ich sagen? Sollte ich von der Zukunft, von der Gegenwart oder eher von der Vergangenheit sprechen? Vielleicht brauchte er auch nichts anderes als nur Ruhe. Vielleicht versuchte er eben, eine Gedenkminute für seine verstorbenen Eltern einzulegen. Ich beschloss, nicht zu sprechen, nicht zu reagieren. Ich wollte ihn nicht noch mehr dazu bringen wieder in die tiefe Vergangenheit zu sinken. Es war auch für mich unerträglich, ihn das sagen zu hören: ein Loch, ein Zeitloch. Doch Jakubu sprach weiter:

- „Dabei hatte alles gut angefangen. Dabei sollte ich geboren werden, um verwöhnt zu werden. Ich glaube nicht mehr an die ganzen Anekdoten, die die Älteren uns immer so erzählt haben, um entweder ein reines Gewissen zu bekommen oder Leute zu verdummen. Ich glaube nicht mehr an die alten Erzählungen, von denen unsere Kindertage so voll waren, Ammenmärchen von der Art: „Die Natur hat so entschieden, der Wahrsager hat so vorhergesehen, die Ahnen hätten es so gewollt.“, oder Ähnliches. Trotzdem erzähle ich Dir, was die Alten über mein Schicksal berichtet haben:

 

Glaubt man der allgemein herrschenden Seelenlehre, die in meiner Großfamilie für meine Persönlichkeit galt, so soll ich eine Wiederverkörperung meines damals noch lebenden Großvaters gewesen sein. Der Überlieferung nach soll mein Großvater von Natur aus eine sehr verwöhnte Person gewesen sein, somit soll ich diese Natur ererbt gehabt haben. So soll ich als Baby schon alles darangesetzt haben, um meiner Mutter die Hölle auf Erden zu bereiten, damit sie mich widerwillig an meine Großeltern abgab.

Ich soll von Geburt an der bestauserwählte Säugling und Lieblingsgefährte aller Kinderkrankheiten gewesen sein: von der einfachsten Erkältung bis zur Grippe über Schnupfen, Angina, Kolik, Husten, Röteln, Fieber, Scharlachfieber, Malaria, Cholera, Rheuma, Kinderlähmung usw. hinaus. Mit zwei Jahren soll ich weder sitzen noch kriechen gekonnt haben, geschweige denn aufstehen, hüpfen und laufen. Meine so brave, tapfere, heldenhafte, anständige, zuverlässige und damals schwangere Mutter habe mich auf dem Rücken tragen müssen, um ihren Haushalt, besser gesagt, ihre Danaidenarbeit erledigen zu können: Wasser fürs Duschen vom Fluss holen, Frühstück vorbereiten, Geschirr spülen, mit bloßen Händen die Wäsche waschen, auf den Markt einkaufen gehen, Wasser fürs Kochen vom Brunnen holen gehen, Mittagessen vorbereiten, wieder Geschirr spülen, aus Achtung vor der knochenbrennenden Sonne und nicht etwa aus Rücksicht auf die Schwangerschaft sich eine kleine Pause gönnen, Kleider bügeln, Trinkwasser von der offenen Quelle holen gehen, Abendessen vorbereiten, noch einmal Geschirr spülen usw.

Während dieser zähen Alltagsroutine soll meine Mutter die Krankheit - die ihr Lieblingsstillkind derzeit besucht hatte – nie aus den Augen verloren haben, um sich, je nach der Art der Seuche, ein ärztliches Rezept verschreiben zu lassen, das sie aus eigener leerer Tasche bezahlen musste, oder sich damit begnügen, mich zum Trinken einer von meiner Oma vorbereiteten sehr sauren oder bitteren Pflanzenmischung zu zwingen.

Das Leiden meiner Mutter soll sich eines glücklichen Tages gemindert haben, so die Überlieferung, die ich später weder von meiner Mutter noch von meiner Naana, meiner Oma, noch von den zahllosen Tantis, den Tanten, bekam, sondern eher von den Hähnen im Stall, von meinem Baaba, dem Opa, von meinen Tontons, den Onkeln, und von meinem Vater. Du hast verstanden: Die ganze Erziehung eines Jungen fällt in die Zuständigkeit der Männer.

Manchmal frage ich mich allerdings, ob diese Männer nicht einen geheimen Auftrag erhalten hatten, mich darüber zu belehren, wie sehr meine Mutter unter meinem vorprogrammierten Schicksal zu leiden hatte. Denn so deckungsgleich konnte sonst die Wiedergabe derselben Geschichte durch unterschiedene Personen nicht sein. Alle meine selbstbeauftragten Informanten formulierten nämlich denselben Übergang vom Leiden und von den Ärgernissen zur permanenten Lebensfreude, den meine Mutter erlebt hatte, mit folgenden Worten: „Ein von Gott ausgemachter Tag kann nicht ausfallen“.

Und der Tag, den Gott in seiner ewigen Gnade so gütig, barmherzig und sanftmütig festgelegt hatte, war der Tag, an dem ich von meiner Mutter an meine Großmutter weitergegeben wurde, genauso wie ein allgemeiner Arzt seinen Patienten an einen bekannten Spezialisten überweist. Die Übergabe fand, so fuhren meine Informanten fort, eines hellen, sonnigen, wolkenlosen und gottgesegneten Tages statt, als ein Wahrsager, der aus einem fremden, unbekannten Horizont kam, durch unsere Gegend wanderte. So soll das Schicksal alles genau so geplant haben, dass der Weg zum Markt, den meine Mutter und meine Oma gingen, den des anonymen Hellsehers traf. Dieser soll Mitleid mit meiner hochschwangeren Mutter gehabt und sich entschlossen haben, seine Kauris über die Position meines Schutzsternsystems zu befragen. Der geheimnisvolle Prophet soll unverzüglich über meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft erfahren haben. Er soll den beiden Frauen die Patentlösung aufgezeigt haben, indem er erklärte, dass ich absichtlich und ganz gemein meine Mutter zum Leiden brachte, weil ich unbedingt bei meinem „Wiederverkörperungsidol“, meinem Opa, aufwachsen wolle. Deswegen soll der gottgesendete Retter vorgeschlagen haben, dass meine Oma mich eilends aufnehmen und sich fortan um mich kümmern solle.

Das sei der Tag gewesen, an dem sich mein Lebensweg und der meiner Mutter unvermittelt getrennt haben. Das sei der Tag gewesen, an dem meine Mutter ihren bestens erfüllten Auftrag loswerden und meine Wunschamme, meine Oma, mich stillen und schaukeln durfte. Das sei der Tag gewesen, an dem ich mich mit meinen wirklichen Eltern, meinen Großeltern, endlich vereinigen durfte. Seit diesem Tag sei ich wie durch ein Wunder von allen Kinderkrankheiten befreit gewesen: keine chronische Erkältung, keine Kolik, keine Kinderlähmung mehr. Innerhalb von einer Woche soll ich angefangen haben zu laufen, ohne vorher weder das Sitzen noch das Aufstehen gelernt zu haben. Der Grund, warum ich meine eigene Entwicklung so mutwillig und vorsätzlich hinausgezögert haben soll, soll der gewesen sein, dass ich ein verwöhntes Opa- und Omasöhnchen sein wollte.

Gemäß der Vorhersage des fremden Hellsehers sollte ich allerdings später, nach dem Tod meines Opas, weit, sehr weit über Horizonte, Böden, Gebirge, Flachländer, Plateaus, Küsten, Wälder, Grenzen, Flüsse, Meere, Gewässer vorbei in ein Land auswandern, in dem mein Idol durch Reinkarnation ein neues Leben bekommen sollte.

Mein lieber Barka, wie du mich damals in unserer Jugend gekannt hattest, glaubst du ehrlich, dass ich an dieses Märchen glauben würde?“

- „Nein“ antwortete ich kurz und knapp, weil ich mehr über diese Geschichte erfahren wollte.

Im Überfluss vorhanden waren solche erfundenen Gerüchte, dass verstorbene Menschen in anderen Weltteilen gesehen worden seien. Meine eigene Kusine ist eines Tages nach Iboland aufgebrochen, auf der Suche nach ihrer verstorbenen Mutter, nachdem irgendein Spinner, der dort eine kurze Zeit verbracht hatte, ihr erklärt hatte, er habe ihre Mutter dort getroffen und sich sogar mit ihr unterhalten können. Aus diesem Grund wollte ich der Erzählung meines Freundes bis zum Ende zuhören. So sagte ich: „Natürlich weiß ich, dass du daran nicht glaubst“.

„So wenig wie ich die ganze Geschichte geglaubt hatte, genauso wenig hatte ich geglaubt und glaube dieser letzten Prophezeiung heute noch weniger, dass ich dorthin umsiedeln würde, wo mein verstorbener Opa sich befindet. Blödsinn.

Ich will glauben, dass nicht das ausgezeichnete Bestehen meiner Grundschulprüfung, sondern meine spitze Vermutung, dass der Tod meines so geliebten Opas drei Jahre später eintreffen könnte, mich dazu bewegt hatte, meine arme Oma im Stich zu lassen, um auf die Sekundarstufe I zu gehen. Ich akzeptiere, dass das Bestehen dieser Prüfung keine Rolle dabei gespielt hatte, meine Kindheitsfreunde zu verlassen beim Spielen mit dem Kreisel, beim Klettern auf Bäume, beim Rauben von Früchten, beim Schwimmen in kleinen Bächen, bei der Jagd auf kleine Tiere und Vögel usw.

Ich will vorgeben, dass mein Opa mir dann egal wurde, als es darum ging, meine immer schwächer werdenden Großeltern zu verlassen, um wieder zu meinen Eltern zu gehen, damit ich weiterhin die Schule besuchen konnte. Ich will annehmen, dass ich doch so herzlos geworden war, um mein Idol von Baaba zu verlassen, im Pflügen, Säen, Pflanzen, im Jäten von Unkraut und Streuen von Dünger sowie Insektiziden, im Beten um die Regentropfen und im unermüdlichen Versuch, wilde Tiere und Vögel aus den Äckern zu vertreiben usw. Ich will akzeptieren, dass ich mich freiwillig von meiner Oma getrennt habe bei der Ernte von Baumwolle, Mais, Hirse, Sorgho, Maniok, Jamswurzeln, Bohnen, Erdnüssen, Bananen usw., im Sammeln von Brennholz, Shea-Nüssen, Cashewnüssen, Palmnüssen, Mangos usw.

Ich will denken, dass ich ganz bewusst meine altgedienten Großeltern in die Situation versetzt habe, auf meine Hilfe zu verzichten und ausschließlich auf die Dorfsolidarität zu zählen, um ihre tägliche proteinarme Kost aus Maniokstärke, Maismehl und Gemüse aus dem harten Boden auszugraben, während ich mein täglich Brot von unserem Vater im Himmel bekam, vorausgesetzt, ich deklamierte das vorgeschriebene Gebet, das ich auf der Konfessionsschule gelernt hatte. Ja, das alles will ich glauben. Ich will glauben, dass das Ganze geschah, nicht weil ich auf die Sekundarschule gehen musste, sondern weil ich geahnt habe, dass mein geliebter Opa bald sterben würde.