Habsburgs 'Dark Continent'

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Habsburgs 'Dark Continent'
Font:Smaller АаLarger Aa

Clemens Ruthner

Habsburgs ‚Dark Continent‘

Postkoloniale Lektüren zur imperialen Literatur und Kultur Österreichs im langen 19. Jahrhunderts

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

[bad img format]

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0053-9


Inhalt

  0. VorWort & DankSagung

 Teil A: InstrumentariumBestandsAufnahmen, ProjektSkizze1. Weiße Flecken am dunklen Kontinent: der Kolonialismus & Österreich2. Kafka und kein Ende: eine Modellinterpretation (in) der Strafkolonie3. Postkolonialismus & Orientalismus in der (Österreich)-Germanistik4. Zur Anlage der vorliegenden Arbeitk.u.k. post/colonial: Habsburgs 'Kolonialismus' als Befund, Befindlichkeit & Betrachtungsweise1. Kolonialismus als Befund: der sozialwissenschaftliche & historische Diskurs2. (Innerer) Kolonialismus als Befindlichkeit: die Rhetorik der Zeitzeug/inn/en3. ’Kolonialismus’ als Denkfigur & Lesart: eine BetrachtungsweiseimagiNation: Zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Analyse stereotyper Selbst-/FremdBilder1. New Criticism vs. Komparatistische Imagologie2. IdentitätsKonstrukte: the Self vs the Other3. Zur Kulturgeschichte nationaler & regionaler Typologien4. Orientalismus & Balkanismus5. Projekt & Aporie der Aachener Schule6. Sozi(alpsych)ologische Stereotypen-Forschung nach Lippmann7. Homi Bhabhas Intervention8. Fallbeispiel: Mimikry & Ambivalenz in Ferdinand Kürnbergers Der Amerikamüde (1855)9. Abschluss & Ausblick10. Coda: Mögliche Analyse-Kategorien für den (k.u.k.) Kolonialdiskurs

 FallStudien (I) - Kolonialismus als Vorstellung: Stichproben aus der österr. Literatur, 1815–1914FrageStellungen„Fremde sind wir uns selbst“: F. Grillparzer zwischen Habsburg und Kolchis1. Grenzüberschreitungen & Kontaktzonen2. Begegnungen: Gast/Feindschaft3. Mündigkeit mit Akzent?4. Heimaten: Zivilisation vs. „Wildnis“5. Exkurs ex Oriente6. „Clash of civilizations“7. Zur „Semantik des Barbarischen“8. Intersektionalität: gefährliche fremde Frauen9. Kippbilder der Ambivalenz10. Umkehr-Schlüsse & Familien-AufstellungenBegehren und/oder Befreien: P. Altenbergs Alterität in ‚Ashantee‘ (1897)1. Kontaktzone mit dem Kolonialismus: ein „Neger-Dorf“ in Wien2. Die Reaktion des Literaten: ein „situationistisches happening“?3. Diskurs & Dissens: Rousseau im Zoo4. Bedenkliches: pleasure & blessure des embedded observer5. Rilke, Kafka & Co.: weitere literarische Niederschläge der ‚Aschanti‘Staatssatire als kolonialer Alptraum: A. Kubins Roman ‚Die andere Seite‘ (1909) mit F. v. Herzmanovsky-Orlando gelesen1. „Hohn auf die Menschheit“: Un-Orte der Jahrhundertwende2. Andere Seiten aufziehen: Kubins vieldeutiger Vater-Text3. „Das leere Zentrum der Macht“: eine ‚postkoloniale‘ Lesart4. Reklamationen: die Permanenz des Provisorischen

 FallStudien (II) - Kolonialimus als Kultur: Bosnien-Herzegowina, 1878-1918k. u. k. ErsatzKolonialismus?1. Die Vorgeschichte der Besetzung Bosnien-Herzegowinas 18782. Gründe, Bosnien (nicht) zu besetzen; historischer Verlauf3. Bosnien als Ersatz-Kolonie (1): zeitgenössische Stimmen & spätere Forschungsmeinungen4. Bosnien als Ersatz-Kolonie (2): Parameter & Kategorien5. Vorläufige ConclusioBesetzungen (i): Die Okkupation 1878 und ihre Niederschläge im kulturellen Gedächtnis1. Wessen Grausamkeit? „Zivilisierungsmission“ vs. „Fanatismus“2. Die „Maglajer Katastrophe“ (3.–5. August 1878)3. Die Eroberung von Sarajevo (19. August 1878)4. Allgemeine Fragestellungen zum OkkupationsdiskursBesetzungen (ii): Zur kolonialen Reformatierung der Orte und Fremdbilder in Bosnien-Herzegowina nach 18781. Anverwandlung der Orte: De/Recoding Konjic(a)2. ZuSchreibungen: Land & Leute in deutschspr. Gebrauchstexten3. ÜberBrückungen, Konglomerate, Synkretismen: „Writing Back“ (1)Besetzungen (iii): Konstruktionen der bosnischen Fremde(n) in belletristischen Texten aus ‚Österreich‘ um 19000. Aneignungen & Entfremdungen

  Teil D: SynThesen & SchlussWorte

 Teil E: BibliografischesLiteraturVerzeichnisI. Benützte Primärquellen (Belletristik, Reiseliteratur, Publizistik u.ä.)II. Benützte SekundärliteraturNachweis der Erstveröffentlichungen & Abbildungen

0. VorWort & DankSagung

The starting-point of critical elaboration is the consciousness of what one really is […] as a product of the historical processes to date, which has deposited in you an infinity of traces, without leaving an inventory.

(Antonio Gramsci)1

Als ich im Februar 1991 meine erste Stelle als österreichischer Auslandslektor an der staatlichen Universität von Budapest (ELTE) antrat, hieß die Straße mit den stalinistischen Wohnblocks, wo ich für ein Semester wohnte, noch ein paar Wochen lang Lumumba utca, bevor sie umbenannt wurde und eine IKEA-Filiale in unmittelbarer Nähe aufmachte. Dies ist in meiner Erinnerung nicht nur ein drastisches Bild für die sog. ‚Wende‘ in Ungarn geworden, sondern auch ein erster Anreiz, mich mit dem Namen2 hinter der Straße und damit der Geschichte des Kolonialismus, seinem Ende bzw. Fortbestehen zu beschäftigen.

Anders als viele Österreicher/innen und andere Zentraleuropäer/innen meiner Generation („X“), die ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der Habsburger Monarchie geboren wurden, verbindet mich aber mit meinem Untersuchungsgegenstand „k.u.k. post/kolonial“ sonst kaum eine tiefer gehende biografisch-familiäre Wurzel. Das einzige, was ich anführen könnte, ist, dass mein Großvater Alfons Leopold in der Zwischenkriegszeit eine Wiener Kolonialwarenhandlung (für Kaffee und Tee aus Asien) betrieb: eine merkwürdige Bezeichnung in einem Land ohne Kolonien, die im Verbund mit den obligaten Orientteppichen in der elterlichen Wohnung und der damals obligaten Karl-May-Lektüre meine kindliche Phantasie immer wieder beschäftigte.

Es war jedoch erst meine Zeit als Lektor und Doktorand in Belgien (1993–2003), die meine Wahrnehmung für den Kolonialismus gerade der kleineren Staaten Europas, seine Bilderwelten (wie z.B. das Afrika-Museum Tervuren bei Brüssel) und realen wie globalen Nachwirkungen nachhaltig schärfte – ebenso wie für die innere Kolonisierung, die häufig stattgefunden hat (Beispiel: Flandern). In Belgien kam ich auch zum ersten Mal mit den Gründungsschriften der Postcolonial Studies in Kontakt: jener „Holy Trinity“ (Richard Young) von Said, Bhabha und Spivak, für die sich einige jüngere Kolleg/inn/en an der Anglistik- und Romanistik-Abteilung unserer Universität in Antwerpen zu interessieren begannen und eine Werkgroep Postcoloniale Literaturen einrichteten.3 In diesem Kontext boten sich auch Frederic Jamesons Motto „always historicize“4 und die Arbeiten des Birminghamer Centres for Cultural Studies rund um Stuart Hall zur Moderation einer allgemein um sich greifenden dekonstruktivistischen Textherme(neu)tik an.

Anlässlich einer Lektor/innen-Tagung lernte ich dann im Juni 1998 auf einem Korridor der Wiener Universität Wolfgang Müller-Funk kennen, der kurz darauf als Gastprofessor an eben jene Universität Birmingham berufen werden sollte. Ich kam mit ihm ins Gespräch, dessen Gegenstand die zu jener Zeit in der österreichischen Germanistik nur zögerlich stattfindende kulturwissenschaftliche Weitung des Faches war, die bekanntlich auch zu diversen Abstoßungsreaktionen führte. Es sollte aber mehr werden als ein typischer academic rant, wie er immer häufiger geworden ist nach dem economic (down)turn an den europäischen Universitäten: Wenig später waren wir uns nämlich auch in unserem Interesse für postkoloniale Theoriebildung internationaler Prägung einig – und dass es ein wohl reizvolles Unterfangen wäre, deren zumeist im kolonial-imperialen Kontext Großbritanniens gewonnenen Ansätze und Erkenntnisse, die im Wesentlichen in einer speziellen Lesart von Literatur und anderen kulturellen Texten bestehen, versuchsweise auf die Spätzeit der multiethnischen Habsburger Monarchie anzuwenden.

Die Folgen sind bekannt: Aus unserer Begegnung heraus entstanden zwei internationale Wiener Forschungsprojekte,5 die die Textkulturen Österreich-Ungarns zwischen 1867 und 1918 analysierten, die vorliegende Buchreihe Kultur – Herrschaft – Differenz beim Tübinger Francke-Verlag, und schließlich Kakanien revisited, ein selbst entwickeltes label für das Gesamtvorhaben, das nicht nur den Titel für den ersten Sammelband unsres Teams abgab,6 sondern auch für ein von Peter Plener, Ursula Reber sowie Lajos und János Bekesi mit Geldern des österreichischen Wissenschaftsministerium aus der Taufe ge­hobenes Internet-Publikationsprojekt7 an der Universität Wien, das sich bis zum Versiegen jener Geldquellen als überaus erfolgreich erweisen sollte. Im Umfeld bildete sich rasch und informell ein zwar zentraleuropäisch geprägtes, aber doch dezentral rhizomatisches Forschungsnetzwerk, das auch mit anderen Teams zusammenarbeitete – wie etwa mit dem SFB Moderne an der Karl-Franzens-Universität Graz8 – und ein kurzlebiges Wiener Doktoratskolleg9 gründete; vor allem aber wurden wissenschaftliche Tagungen und Workshops abgehalten, und als Folge eine Vielzahl von Sammelbänden, Monografien und Aufsätzen veröffentlicht – in Buchform wie auch im Internet.10

 

Die geografische und sprachliche Streuung meiner eigenen Beiträge zum Thema in den fünfzehn Jahren, die seither vergangen sind, hat mich nun – im Kontext der zunehmenden Aktivitäten einer postkolonialen Germanistik11 in Deutschland, Österreich, der Schweiz und dem englischsprachigen Raum – dazu gebracht, die alten Fäden wieder aufzugreifen und sie zu einem vorläufigen Abschluss zusammenzuführen. Es war meine Ambition, sie trotz der Irrungen, Wirrungen und Limitationen eines neoliberalen Uni-Betriebs, der selbst nolens volens Züge von Kafkas Strafkolonie angenommen hat, zu überdenken, ggf. zu revidieren und zu einem Buch zu verweben, das hiermit vorliegt.

Mein herzlicher Dank für inhaltliche Anregungen, logistische und sprachliche Hilfeleistungen sowie notwendige Korrekturen gilt in diesem Zusammenhang neben Wolfgang Müller-Funk, dem mein wissenschaftlicher Werdegang wesentliche Impulse schuldet, folgenden Kolleg/inn/en und Freund/inn/en in alphabetischer Reihenfolge:

Balázs Apor (Dublin), Katie Arens (Austin), Ulrich Bach (Connecticut), Karyn Ball (Edmonton), Carl Bethke (Tübingen), Anil Bhatti (Neu-Delhi), Anke Bosse (Namur/Klagenfurt), Emil Brix (Wien), Milka Car (Zagreb), Moritz Csáky (Wien), Stanley Corngold (Princeton), Mary Cosgrove (Dublin), Raymond Detrez (Gent), Jeroen de Wolf (Berkeley), Robert Donia (San Diego), Wolfram Dornik (Graz), Davor Dukić (Zagreb), Anne Dwyer (Pomona), Jozo Džambo (München), Alfred Ebenbauer † (Wien), Katrin Eberbach (Dublin), Daniela Finzi (Wien), Ana Foteva (Skopje), Dariusz Gafijczuk (Newcastle), Karl-Markus Gauß (Salzburg), Andreas Geyer (München), Kathleen Gijssels (Antwerpen), Rüdiger Görner (London), Deniz Göktürk (Berkeley), Martin A. Hainz (Baden), Endre Hárs (Szeged), Jonathan Locke Hart (Edmonton/Shanghai), Róisín Healey (Galway), Waltraud Heindl (Wien), Friederike Heymach (Wien), John Paul Himka (Edmonton), Miranda Jakiša (Berlin), Reinhard Johler (Tübingen), Pieter Judson (Florenz), Tomek Kamusella (St. Andrews), Amália Kerekes (Budapest), Alfrun Kliems (Berlin), Kristin Kopp (Columbia), Albrecht Koschorke (Konstanz), Alan Kramer (Dublin), Wynfrid Kriegleder (Wien), Florian Krobb (Maynooth), Stephan Lehn­staedt (Warschau), Joep Leerssen (Amsterdam), Jacques Le Rider (Paris), Michael Limberger (Gent), Vivian Liska (Antwerpen/Jerusalem), Tomislav Longinović (Madison/Rovinj), Dagmar Lorenz (Chicago), Mike Lützeler (St. Louis), Christian Marchetti (Tübingen), Graeme Murdock (Dublin), Ivana Nevesinjac (Sarajevo), Nina Newell-Osmanović (Sarajevo), Jane Ohlmeyer (Dublin), Christine Okresek & Zlatko ‚Ola‘ Olić (Opatija), Martin Pammer (Sarajevo), Peter Plener (Wien), Brigitte Pfriemer-Sitzwohl (Brüssel), Vasilis Politis (Dublin), Jon Cho-Polizzi (Berkeley), Christian Promitzer (Graz), Ursula Prutsch (München), Sabrina Rahman (Leeds), Usha Reber (Wien), Markus Reisenleitner (Toronto), Stephan Resch (Auckland), Diana Reynolds Cordileone (San Diego), Per Anders Rudling (Karlstad/Singapur), Irena Samide (Ljubljana), Derek Sayer (Calgary), Tamara Scheer (Wien), Klaus Scherpe (Berlin), Wendelin Schmidt-Dengler † (Wien), Naser Šečerović (Sarajevo), Andrea Seidler (Wien), Rob Shields (Edmonton), Stefan Simonek (Wien), Lejla Sirbubalo (Wien/Sarajevo), Džemal Sokolović (Bergen), Malcolm Spencer (Birmingham), Rok Stergar (Ljubljana), Erhard Stölting (Potsdam), Daniela Strigl (Wien), Elaine Tennant (Berkeley), Dirk Uffelmann (Passau), Stijn Vervaet (Oslo), Birgit Wagner (Wien), Hilde Zaloscer † (Wien), Klaus Zeyringer (Angers/Pöllau) und Yvonne Živković (New York/Cambridge).

Bei der Erschließung bosnischer Quellen haben mich meine wissenschaftlichen Hilfskräfte Asja Osmančević und Vikica Matić 2011 vor Ort in Sarajevo tatkräftig wie sprachmächtig unterstützt; große Inspiration kam auch von meinen bosnischen Studierenden in Sarajevo und Dublin über die Jahre hinweg. Ebenso muss ich mich für die kritische Lektüre von Rohfassungen meiner Buchkapitel bei Anna Babka (Wien), Marijan Bobinac und Ivana Brković (Zagreb), Gilbert Carr (Dublin), Hannes Leidinger (Wien), Martin Gabriel (Klagenfurt) und Vahidin Preljević (Sarajevo) ganz besonders bedanken – sowie für das Endlektorat bei Isabel Thomas (Halle/Dublin). Daneben schulde ich auch folgenden Institutionen Dank: der Filozofski Fakultet der staatlichen Universität von Sarajevo, dem German Department der UC Berkeley, der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, der UB Wien und ihren angeschlossenen Germanistik- und Anglistik-Fachbibliotheken, der bosnisch-herzegowinischen Nationalbibliothek in Sarajevo, sowie dem Long Room Hub Arts & Humanities Research Institute und dem Dept. of German Studies am Trinity College in Dublin.

Auch ohne zeitweiligen Ortswechsel wäre ein derartiges Projekt mental wohl nicht realisierbar gewesen – in diesem Sinne bin ich auch äußerst dankbar für den genius loci, der mich verschiedentlich, so z.B. als Gastprofessor in Bosnien und Kalifornien, umgab. Er ist wichtig für das geistige Überleben der ehemaligen Geisteswissenschaften, denn manchmal braucht auch unsereins Inspiration.

Als größter Anreiz für das Gelingen dieses Projekts erwies sich freilich, dass es im Leben noch wichtigere Anlässe als deadlines für Bücher gibt – wie z.B. eine Geburt. In diesem Sinn geht, last but not least, mein liebevoller Dank an Christina Töpfer und unsere Tochter Juli Ariane: dafür, dass sie da sind und mit mir Geduld haben. Ebenso an meine Mutter Sigrid Ruthner, ohne deren großzügige Unterstützung es wohl auch nicht möglich gewesen wäre, dieses Projekt erfolgreich abzuschließen.

Berkeley – Dublin – Graz – Opatija – Penk – Wien, 2015–2017

„Wir machen aber von dem Länderreichtum des Ich viel zu kleine oder enge Messungen, wenn wir das ungeheure Reich des Unbewußten, dieses wahre Innere Afrika, auslassen.“

(Jean Paul, Selina, 1827)

Teil A: Instrumentarium
A.0. BestandsAufnahmen:

Postkoloniale Zugänge in der (Österreich-) Germanistik – Forschungsstand & Projektskizze

Die Literatur Europas ist die eines Kontinents von Kolonisatoren. Meistens ist der Kolonialismus in der Literatur ‚Hintergrundphänomen‘, d.h. er wird nicht wahrgenommen, gehört zum selbst verständlichen Bestand des europäischen Weltbildes.1

1. Weiße Flecken am dunklen Kontinent: der Kolonialismus & Österreich

Das hier als Motto vorangestellte Zitat des Komparatisten Janós Riesz entstammt einem der ersten deutschsprachigen Sammelbände zum Thema Literatur und Kolonialismus aus dem Jahr 1983 – und es spricht paradigmatisch die selektive Wahrnehmung an, die das Phänomen lange umgab und teilweise immer noch umgibt. Die akademische Auseinandersetzung damit begann zwischen den 1950er und 1970er Jahren in Frankreich, Großbritannien und den USA unter dem Eindruck der weltweiten Dekolonisation – vor allem angesichts der Gräueltaten des Algerien- und Vietnam-Kriegs, aber auch durch die intellektuellen Interventionen eines Frantz Fanon, Jean-Paul Sartre, einer Hannah Arendt u.a., durch die entstehenden britischen Cultural Studies und die sich später formierenden amerikanischen Postcolonial Studies.1 Die ideengeschichtliche Folie dafür lieferte die Imperialismus-Kritik der westlichen Linken vor allem der 1968er-Generation; aus ihr heraus sollte bald – zusammen mit neuen, postmarxistischen Begrifflichkeiten – eine spezielle Sensibilität für jene Form einer entmündigenden bzw. bevormundenden Übersee-Herrschaft unter dem trügerischen Vorzeichen der europäischen Moderne entstehen. Nicht nur in den ehemaligen Mutterländern, die sich mit zunehmender politischer Bedeutungslosigkeit bei gleichzeitiger Massenimmigration konfrontiert sahen, sondern v.a. auf dem Grundgebiet der neuen Supermacht USA sowie in einigen anderen ehemaligen Kolonien etablierten sich entsprechende Forschungseinrichtungen, wie z.B. in Indien die Subaltern Studies Group oder eine lateinamerikanische Spielart der Kulturtheorie. Schließlich erfasste diese zweite Welle einer internationalen Vergangenheits(selbst)bewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg auch kleinere ehemalige Kolonialmächte wie Belgien, Portugal oder Italien, wenn auch zögerlich: werden doch die Verbrechen und das Scheitern des Kolonialismus immer noch gleichsam als Bildstörungen der eigenen nationalen wie kontinentalen Erfolgsgeschichte angesehen.

Auf der Europakarte eines neuen postkolonialen Bewusstseins blieben indes einige weiße Flecken zurück, darunter Österreich: „Forschungsgeschichtlich“, so moniert der Wiener Historiker Walter Sauer selbst erst nach der Jahrtausendwende,

ist die Frage nach dem Verhältnis der [Habsburger] Monarchie zur Kolonialproblematik zwar nur selten gestellt, aber um so häufiger beantwortet worden: Nein, über Kolonien habe Österreich-Ungarn nie verfügt, koloniale Ambitionen habe es nur am Rande gegeben, kolonialpolitisches Desinteresse gerade sei für das Verhalten von Österreichern in außereuropäischen Gebieten charakteristisch gewesen. […] Es entsprach einer in großbürgerlichen Kreisen um die Jahrhundertwende verbreiteten Tendenz, das Scheitern früherer Ambitionen auf ein ‚Kolonialreich‘ zur bewußten Zurückhaltung, zur moralischen Überlegenheit der Monarchie zu stilisieren. […] Gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber einer ‚Dritten Welt‘, die sich vom kolonialen Joch zunehmend emanzipierte, stellte sich [auch] das neue Österreich [= die Zweite Republik ab 1945, C.R.] als unbelastet dar.2

Die Habsburger Reich, d.h. jenes „Kaisertum Österreich“, das nach dem „Ausgleich“ von 1867 international unter dem Etikett von „k.u.k.“ (’kaiser­lich-und-königlich’) bzw. als „Österreich-Ungarn“ firmierte, hatte in der Tat keine Übersee-„Schutzgebiete“ wie das benachbarte Deutsche Reich seit 1884: Aber ist nicht seine letzte territoriale Erweiterung nach Südosten hin (Bosnien-Herzegowina 1878/1908) nicht auch als Ersatzhandlung für jenes Zukurz- bzw. Zuspätkommen im internationalen Wettlauf des europäischen Kolonialismus zu verstehen – ebenso, wie vielleicht auch Galizien, die Bukowina und andere habsburgische Peripherien seit dem späten 18. Jahrhundert dafür in Betracht kämen? Und, allgemeiner gesprochen: Welche Spuren bzw. „Parallelaktionen“ hat der zeitgenössische Kolonialismus Europas im „politischen Unbewussten“ bzw. „sozialen“ Imaginären“3 der habsburgischen Kultur/en hinterlassen? Diese Fragen werden uns – unter Anderem – im Laufe dieses Buches beschäftigen.

Mit seiner Metapher vom „dark continent“,4 die unserer Monografie ihren Titel gab, meint Sigmund Freud freilich nicht jene verdrängte innere und äußere k.u.k. Kolonisierung,5 sondern „das Geschlechtsleben des erwachsenen Wei­bes“6 in seiner eigenen Kartografie der menschlichen Psyche – in die seine Lehre ebenso wie in das „Unbewusste“ generell mit uneingestanden kolonialen Wünschen vordrang.7 Das gendering ist evident: der Wiener Mann gibt sich als Entdeckungsreisender auf dem ‚dunklen Kontinent‘ der Frau. Wollte die Psychoanalyse hier nicht nur ihr Revier im wissenschaftlichen Wettrüsten ihrer Zeit – einer Nebenerscheinung des europäischen Imperialismus im 1900 – abstecken, sondern gleichsam auch ihre mentalen Schutzgebiete errichten (ähnlich wie der westliche Kolonialismus trachtete, nicht nur das materielle und soziale Außen der Menschen, sondern auch ihr psychisches Innen zu besetzen und zu manipulieren)?

 

Was uns im vorliegenden Buch beschäftigen soll, sind aber nicht die metaphorischen Expeditionen der Psychoanalyse, sondern wie gesagt ein anderer „dunkler Kontinent“ der Habsburger Monarchie. Auf einen blinden Fleck der Historiografie entrückt sind nämlich auch deren koloniale Begehrlichkeiten, bei denen die präsumptiven Kolonialherren und die von ihnen Beherrschten im selben Erdteil, ja sogar in unmittelbarer Nachbarschaft lebten, wie z.B. auf dem westlichen Balkan. Mehr oder weniger unbewusst sind auch jene kolonialen Phantasien, wie sie uns bis heute in literarischen Texten und anderen Zeugnissen der habsburgischen Kultur/en entgegentreten: manchmal implizit und verklausuliert, dann wieder erschreckend explizit, indem sie sich auf das eigene multiethnische Staatsgefüge beziehen oder dieses insgeheim in der überseeischen Projektion auf das Andere meinen.

Um dieses Verdrängte in den kulturellen Ordnungen „Kakaniens“ im langen 19. Jahrhundert wieder sichtbar zu machen, wird sich die vorliegende Monografie stichprobenhaft jenen kolonialen Vorstellungen und Praktiken in der hegemonialen österreichischen Kultur des Kaiserreichs widmen. Zunächst jedoch ist eine Bestandsaufnahme bestehender Zugänge zu unternehmen, anhand deren sich in einem weiteren Schritt unsere Forschungsfragen und methodologischen Herangehensweisen verdichten werden.