Chong

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>>Wie kommst du darauf?<<

>>Ich kann keine Menschenseele mehr in dem Raum entdecken und die müssten doch mittlerweile ihren Kumpel zumindest vermissen. Irgendeiner müsste doch mal den Kopf rausstrecken, aber da tut sich nichts und genau das macht mir Sorgen. Warte hier ... <<

>>Was hast du vor?<<

>>Ich werde rüberkriechen und nachsehen, was da los ist.<< Chong wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, denn für Diskussionen blieb ihm keine Zeit. Vorsichtig pirschte er sich auf dem Bauch näher an das rechteckige Loch, das eine grüne Stahltreppe in sich barg, und lugte in die Tiefe. Nichts. Kein Schuss, kein Geräusch. Er kroch angespannt an der Treppe vorbei, bis er sich unmittelbar an der Wand der Kajüte, direkt unterhalb eines der Fenster befand. Die Stille ringsum zerrte allmählich an seinen Nerven. Stille? Das war es, was Chong so nachdenklich stimmte, denn er vernahm weder Motorengeräusche der Schiffsmaschinen, noch spürte er den leisesten Fahrtwind auf seiner Haut, woraus er schloss, dass das Schiff irgendwo auf offenem Meer vor Anker lag, und das stimmte ihn noch misstrauischer. Er holte tief Luft und lugte vorsichtig über den unteren Rand des Fensters in den Raum, doch er konnte keine Menschenseele ausmachen. In geduckter Haltung sprintete er zu der Tür um die Ecke, stieß sie auf und sprang mit schussbereiter MP vorwärts, doch er ließ sie rasch wieder sinken. Außer angetrunkenen Bierflaschen, unzähligen Seekarten, sowie einem verwirrenden Heer aus Hebeln, Schaltern und Knöpfen konnte er nicht einmal eine Fliege ausmachen.

>>Verdammt, was ist hier los?<<

Chong kehrte zur Treppe zurück. Es ließ sich nicht vermeiden, dass seine Schritte auf den stählernen Stufen ein lautes Echo erzeugten, das von den Wänden ringsum höhnisch widerhallte. Er wusste mit absoluter Sicherheit: Falls unter Deck jemand in einem Hinterhalt auf ihn lauerte, dann war er praktisch schon so gut wie tot ...

Die Treppe mündete in einen schmalen, gerade mal mannshohen Gang und irgendwie hatte es Chong fast schon erwartet, dass es weiter ruhig blieb. Er durchforstete hastig unzählige Räume und spätestens, als er die Mannschaftskajüten sowie den angrenzenden Aufenthaltsbereich und den Maschinenraum abgegrast hatte, war er sich vollkommen sicher, dass das Schiff verlassen worden war.

In Chongs Gedanken tauchte plötzlich das überdimensionale Gesicht von Maurice Cheng auf. Au revoir, mon ami, schien es zu sagen. Ein eiskalter Schauer jagte über Chongs Rücken und er fühlte plötzlich das Blut in seinen Schläfen pochen. Ein gewaltiger Andrenalinschub fegte wie ein Tornado durch seinen Körper.

Das Stresshormon aktivierte Chongs Erinnerungsvermögen. Er erinnerte sich daran, wie viele Jahre zuvor eine Hundertschaft schwer bewaffneter Polizeibeamte in den USA kurz davor gestanden hatte, Chengs Anwesen zu stürmen, um ihn festzunehmen. Tot oder lebendig. Das Grundstück war lückenlos umstellt gewesen. Dazu ein Hubschrauber mit Spezialeinsatzkräften hoch in der Luft über Chengs Villa, um das Dach einzunehmen. Dann kam der Zugriffsbefehl … und mit ihm war alles in die Luft geflogen ... 22 Beamte hatten damals bei dem Versuch Chengs Villa zu stürmen ihr Leben verloren, weitere 17 waren schwer verletzt worden. Chong wusste, er würde die grauenhaften Bilder von verblutenden, schreienden Menschen, zerfetzten, entstellten Gesichtern und abgetrennten Gliedmaßen nie mehr vergessen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf ihn schlagartig die Erkenntnis und er rannte wie der Teufel zurück an Deck. Mina blickte ihn verwundert an, als Chong sie hastig am Arm packte und zur Reling zerrte.

>>He, was soll das? Bist du verrückt?<<

>>Spring ins Wasser. Mach schon. Hier wird bald alles in die Luft fliegen.<<

>>Aber was ... wie kommst du darauf?<<

Statt einer Antwort legte Chong rasch den Arm um sie und riss sie mit sich über Bord. Beide fielen wie ein Stein ins Wasser, als es hinter ihnen einen lauten, ohrenbetäubenden Knall gab.

Zwei Kilometer weiter lag zur gleichen Zeit eine schneeweiße Luxusjacht vor Anker. Ein Mann in weißer Hose und blauem T-Shirt spähte mit genüsslichem Lächeln durch sein Fernglas.

>>Zufrieden?<<, fragte ein anderer.

Maurice Cheng nickte lächelnd. >>Aber wir sollten sichergehen, dass die beiden auch wirklich kaltgestellt sind. Mathieu.<<

Der Angesprochene trug eine moderne Tauchausrüstung sowie eine Harpune.

>>Hast du nicht Lust, ein bisschen zu tauchen?<<

>>Mit Vergnügen ... <<

>>Wir erhalten heute noch eine Lieferung unserer ... arabischen Freunde ... und ich möchte nicht riskieren, dass uns irgendwer dazwischenfunken könnte. Und sei es auch nur durch einen dummen Zufall ... <<

Es war ein offenes Geheimnis, dass in so manchen orientalischen Ländern Drogen produziert wurden. Allein in Afghanistan wurde weit über die Hälfte des Weltopiumhandels hergestellt ... und da der Terrorismus enorme Geldsummen zu seiner Finanzierung benötigte, hatten extreme Muslime längst den Drogenhandel für sich entdeckt. Karem-Abu Jossr hatte sich Cheng als zuverlässiger Geschäftspartner angeboten und Cheng seinerseits hatte die Gelegenheit genutzt.

>>Au revoir, mon ami.<<

***

Etliche Stunden zuvor.

Han-Yeun spürte, wie sich unmittelbar nach dem Telefongespräch mit ihrer Tochter ihr Magen aus irgendeinem unerfindlichen, verrückten Grund zu verkrampfen begann. Eine unerklärliche, noch nie da gewesene Unruhe wanderte wie ein grauenhaftes, grässliches Insekt langsam durch ihren Körper. Sie wusste, dass es in der Natur Tiere gab die, wenn sie eine Gefahr witterten, instinktiv extrem nervös wurden. Daran musste sie einfach denken, als sie das Gespräch beendet hatte. Noch immer befand sie sich am Flughafen, tauschte nachdenklich in ihrer Umkleidekabine ihre Stewardessenuniform gegen eine pechschwarze Lederkluft, nahm ihren blau-weißen Motorradhelm von der Ablage über ihrem Spind, fuhr sich noch einmal flüchtig durchs Haar und trat schließlich hinaus in einen der unzähligen Gänge.

Sicherheitsleute, Wachmänner patrouillierten an den Flughafenterminals, in das übliche Männergerede versunken. Han-Yeun grüßte sie flüchtig, wurde jedoch kaum von ihnen zur Kenntnis genommen. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, wie so häufig nach Langstreckenflügen, und die Zeitverschiebung tat das ihre dazu.

>>Vielleicht bin ich einfach nur hysterisch ... bilde mir irgendetwas ein<<, murmelte sie vor sich hin, während sie sich mit schweren Beinen dem Ausgang näherte.

Ein paar schnatternde Kolleginnen überholten sie mühelos:

>>Ist von Este Laure ... für nur 100 Dollar ... in New York ... Schnäppchen ... <<

>>So günstig ... 100 Dollar zahl' ich allein für mein Katzenfutter ... <<.

>>Hallo Hanni, grüß dich ... auch wieder im Lande? Fahr bloß nicht per Anhalter ... du wirkst schon mitgenommen genug ... <<, frotzelte die Erstere grinsend, als sie im Vorbeigehen Han-Yeun neben sich gewahrte.

>>Danke für das Kompliment. Ich hoffe, dein nächster Flieger muss in der Antarktis notlanden, damit sich die Pinguine über deine Witze einen Frack lachen können<<, konterte Han prompt.

>>Ach, die Kälte würde nichts ausmachen. Ich hab' nämlichen 'n heißen Arsch ... <<

Die beiden lachten lauthals miteinander und Han war heilfroh als die beiden endlich weiterzogen, denn ihre Ohren schmerzten bereits. Wenig später trat sie hinaus auf den Personalparklatz und sog die nächtliche Luft tief ein. Ihr ganzer Stolz stand am anderen Ende des Platzes und ließ ihr Herz pulsieren: eine Harley Davidson Goldwing ... Schon als Kind war Han verrückt nach Motorrädern gewesen, nicht zuletzt, weil einer ihrer älteren Brüder damals ein begeisterter Motocrossfahrer gewesen war. Mit ihren großen, schwarzen Augen hatte sie damals jedes Mal nahe an der Rennstrecke gestanden und die vorbeisausenden Motorräder verfolgt.

Han stülpte sich lächelnd den Helm über ihren Kopf und schwang sich auf die reichlich Platz bietende Sitzbank. Sie machte als zierliche Frau auf einem fünf Zentner schweren Motorrad vermutlich den gleichen Eindruck wie eine Fliege auf einem Elefanten, aber das war ihr egal. Sie steckte den Zündschlüssel ins Schloss, bis die Maschine unter ihrem Hintern ein erstes, startbereites Grollen ertönen ließ.

Das erste Mal mit Harleys in Kontakt gekommen war sie einige Jahre zuvor bei einem Flug in die USA. Da sie zwischen den Flügen immer eine bestimmte Aufenthaltsdauer am Zielort hatte, war es ihr in den Sinn gekommen, eine Motorradmesse zu besuchen. Und die Harley war es gewesen, die spontan ihr Herz erobert hatte. Chong hatte sie kurzerhand nach Europa importieren lassen, um sie ihr zum Geburtstag zu schenken.

Mir den Zehenspitzen konnte Han gerade noch mal so eben den Boden berühren. Es stellte jedes Mal einen wahnsinnigen Kraftakt für sie dar, die Maschine nach vorne zu schubsen, um die Stützen einzuklappen, aber irgendwie schaffte sie es doch. Schließlich glitt die Harley mit sanftem Donnern langsam vorwärts. Han kuppelte, schaltete und gab Gas. Eine Erfahrung, die jedes Mal einzigartig war und die von jedem eingefleischten Harleyfahrer bestätigt werden konnte.

Das Motorrad preschte durch nächtliche, schwach befahrene Straßen dahin, während Hans Gedanken zum Telefonat mit ihrer Tochter zurückkehrten. Chong war im Grunde genommen ein sehr pflichtbewusster und gewissenhafter Mann und dass er so spät in der Nacht noch weggegangen war erschien ihr recht ungewöhnlich, noch dazu ohne eine Nachricht zu hinterlassen. An der nächsten Kreuzung blickte sie flüchtig auf ihre Armbanduhr, die ihr zehn vor zwei signalisierte. Nachdem die Ampel endlich auf Grün geschaltet hatte ließ sie das Motorrad kurzerhand einige Meter entfernt an den Straßenrand rollen und hielt an. Hastig kramte sie ihr Handy aus der Jackentasche hervor und tippte mit dem Daumennagel, doch diesmal meldete sich nicht ihre Tochter ...

 

>>Ja?<<, vernahm sie eine schnöde, mürrisch klingende Stimme und schlagartig legte sich eine kalte, eisige Hand um ihr Herz.

>>Falsch verbunden<<, stieß sie mühsam hervor und beendete rasch mit zittrigen Fingern das Telefonat. >>Mein Gott, was geht da vor?

Sie hatte sich eindeutig nicht verwählt, hatte ihre Nummer gewählt, doch anstelle ihres Mannes antwortete am frühen Morgen ein Unbekannter, der sich alles andere als freundlich anhörte.

>>Du liebe Güte. Was soll ich jetzt nur tun?<<

***

Die peinigenden Kopfschmerzen schienen sie fast in den Wahnsinn zu treiben, dabei hatte sie bereits unzählige hoch dosierte Aspirinpillen mit Mineralwasser die Kehle hinunter gespült. Als der mächtigste Mann der Welt das Oval Office betrat wurde das Pochen in ihren Schläfen nicht besser, im Gegenteil ...

>>Mister President ... <<

Das Gesicht des Staatsoberhaupts der USA wirkte äußerst angespannt. Tiefe Ringe hatten sich unter seine braunen Augen gelegt. Er hörte sich die Ausführungen seiner Sicherheitsberaterin über den jüngsten Anschlag im New Yorker Hauptbahnhof an und ertappte sich dabei, wie er unaufhörlich mit der Rechten am Knoten seiner Krawatte herumzunesteln begann, als würde sie ihm die Luft abschnüren.

>>Mein Gott ... gibt es ... haben wir eine konkrete Schadensbilanz? Anzahl der Opfer ... der Verletzten ... genaue Hinweise über die Drahtzieher?<<

Die Sicherheitsberaterin deutete auf die beiden stumm und ehrfürchtig schweigenden Männer — hochrangige Vertreter von FBI und CIA, verantwortlich für die innere Sicherheit des Landes — zu ihrer Linken. Ein Mittfünfziger im dunklen Nadelstreifenanzug trat schließlich einen Schritt vor. Er hatte ein rosiges, fülliges Vollmondgesicht und sein ansonsten kahler Schädel wurde von einem dünnen silbrigen Haarkranz umrahmt. Der Mann genoss sichtlich die ihm zuteilgewordene Aufmerksamkeit, rückte ruhig, fast schon bedächtig seine dicke, altmodische Hornbrille zurecht und tat einen tiefen Atemzug, der die Fleischmassen über seinem Gürtel in Bewegung brachte.

>>Burke? Kommen Sie endlich zur Sache, oder sollen wir Ihnen vielleicht von den Lippen ablesen?<<, mahnte die Sicherheitsberaterin, woraufhin der Angesprochene schuldbeflissen seine klugen, listigen Augen zu Boden senkte.

>>Verzeihung.<<

>>Also?<<

>>Eine konkrete, verlässliche Aussage über die Höhe der entstandenen Schäden lässt sich zurzeit leider nicht erstellen. Die Aufräum- und Bergungsarbeiten dauern wahrscheinlich noch Tage, wenn nicht gar Wochen. Viel schlimmer sieht es aus in Bezug auf die Opfer. 47 wurden direkt oder unmittelbar durch die Explosion getötet. Darunter auch der Attentäter. Das, was von seinem Körper noch übrig geblieben ist, ist für eine Identifizierung nicht geeignet. Gewebe und Knochenfragmente wurden über Hunderte von Meter verstreut. Derzeit wissen wir weder mit Sicherheit, wer er ist, noch wo er herkam. Die Gerichtsmediziner versuchen zurzeit, durch Untersuchungen von DNA und Zahnsplittern weiterzukommen. 229 Verletzte haben die Rettungskräfte bislang registriert, von denen vermutlich elf in den nächsten Tagen an ihren schweren Verletzungen sterben werden. Doch es hätte schlimmer kommen können, viel schlimmer ... <<

Burke berichtete von dem mit Kerosin beladenen Güterzug.

>>Wir alle sind Specialagent Jamal zutiefst zu Dank verpflichtet. Er war zufällig vor Ort, hat anscheinend einen kühlen Kopf bewahrt und die Ausweitung der Katastrophe damit verhindert ... <<

Burke fuhr mit einer kurzen Beschreibung von Jamals Lebenslauf fort.

>>Ein ehemaliger Harvardabsolvent ... cum laude ... dann United-States-Marine-Korps ... brachte es dort bis zum Lieutenant, bevor er von uns ... ich meine natürlich von der Regierung angeheuert wurde ... einer unserer besten und zuverlässigsten Männer — erfahren, hochintelligent, körperlich absolut topfit, hohes Maß an Selbstkontrolle, auch unter Stress ... spricht fließend mehrere Sprachen ... ein überaus integerer, loyaler und zuverlässiger Charakter ... <<

>>Ich werde ihn mit dem Silverstar auszeichnen lassen<<, erwiderte der President.

Price, die Sicherheitsberaterin, kannte Jamal schon seit seinem Eintritt in den Staatsdienst und war von seinem Charme genauso fasziniert, wie von seiner bescheidenen, normalerweise zurückhaltenden Art. >>Es gibt sichere Hinweise, dass Karem-Abu Jossr hinter dem Anschlag steckt. Das letzte Lebenszeichen von Jossr stammte aus Frankreich ... um genau zu sein: Paris ... <<

>>Dann wird es, glaube ich, höchste Zeit, dass wir einen unserer Männer nach Europa schicken, um diesen Hundesohn bei den Ei... <<

>>Mister President!<< Price war eine solche Ausdrucksweise ihres Vorgesetzten alles andere als gewohnt.

>>Entschuldigung ... ich meine natürlich, dass es höchste Zeit wird, Jossr ein für alle Mal das Handwerk zu legen<<, korrigierte sich Donald Harellson, der Präsident, rasch. >>Da draußen vor dem Oval Office lauern drei Dutzend Reporter, die nur darauf warten sich wie blutgierige Wölfe auf uns zu stürzen ... noch dazu stehen in einem halben Jahr die nächsten Präsidentschaftswahlen an ... ich kann mir gut vorstellen, dass die Presse zusammen mit der Opposition mächtig Druck auf uns ausüben wird wegen des aktuellen Terroranschlags. Deswegen wird es wichtig für uns alle werden Ergebnisse zu liefern. Schuldige zu finden. Ehe es jemand anderes tut, der vielleicht die Dinge nach seinem eigenen Gutdünken auslegt ... <<

>>Wir sollten unseren Besuch in Frankreich offiziell machen ... ich halte es für ratsam, den französischen Staatschef über den aktuellen Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen, da wir mit ziemlicher Sicherheit auch auf die Hilfe der französischen Behörden angewiesen sein werden. Es wäre außerdem ratsam ein Zweierteam über den großen Teich zu schicken. Das hat nicht nur den Vorteil, dass zwei paar Augen und Ohren mehr wahrnehmen. Falls einem unserer Leute etwas zustoßen sollte könnte der andere die Arbeit fortführen<<, fügte Price hinzu.

>>Gute Idee, nur wen von unseren Leuten sollten wir Jamal als Partner bei dem ihm vorliegenden Auftrag zur Hand gehen lassen?<< Harellson blickte fragend in die Runde.

>>Dinks?<<

Price funkelte Burke böse an. >>Kommt nicht infrage, der Junge ist noch viel zu grün und unerfahren. Außerdem ist er hitzig und temperamentvoll. Wir können in Paris keinen Ramboverschnitt brauchen.<<

>>Partons?<<, fragte Burke zögernd.

Die Sicherheitsberaterin schüttelte energisch den Kopf. >>Ich denke nicht, dass Partons schon wieder hundertprozentig einsatzfähig ist. Er hatte sich vor ein paar Monaten erst bei einer Übung das Sprunggelenk frakturiert, als er mit ein paar anderen Jungs das Abseilen von Hubschraubern trainierte. Er ist zwar ein guter Mann, aber ich möchte kein unnötiges Risiko eingehen.<<

>>Heller?<<

Specialagent Heller war zwar, was seine Arbeit anbelangte top, aber charakterlich sicherlich nicht jedermanns Kragenweite. Dazu trug nicht zuletzt auch seine bisweilen aufdringliche, manchmal auch überhebliche Art bei. Price schwieg einen kurzen Augenblick — ein Zeichen, dass sie nachdachte. Sie wusste, dass Jamal und Heller bislang noch nie als Teampartner gemeinsam gearbeitet hatten und daher fragte sie sich spontan, wie die beiden wohl miteinander zurechtkommen würden. Jamal würde vermutlich gute Mine zum bösen Spiel machen. >>Ach was, sie sollen miteinander arbeiten ... und sich nicht heiraten<<, murmelte sie schließlich, dann nickte sie.

>>Einverstanden<<, fügte der Präsident hinzu. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das intensive Bedürfnis nach einer Zigarette, doch er widerstand tapfer. >>Gibt es sonst irgendwelche schlechten Neuigkeiten, die mir meinen Tag noch mehr verderben könnten?<<

Price nickte düster. >>Ich fürchte ja.<<

Das Oberhaupt der USA hatte das Gefühl, als hätte man ihm ein Glas Eiswasser ins Gesicht geschüttet.

>>Unsere russischen Freunde wurden von den Terroristen ebenso wenig verschont wie wir. Irgendwelche Verrückten haben vor wenigen Stunden versucht einen Militärkonvoi zu überfallen. Der Premier im Kreml hat einen wahren Tobsuchtsanfall bekommen, als er davon erfahren hat. Er hat unverzüglich den Befehl gegeben die Terroristen mit allen erdenklichen Mitteln zur Strecke zu bringen. Die ganze Aktion erscheint mir von vornherein als völliger Wahnsinn. Ein russischer Jeep wurde durch eine Panzerfaust der Terroristen getroffen und förmlich in Stücke gerissen. Der Befehlshaber der 5. russischen Infanteriedivision, Oberst Wolkov, erahnte jedoch irgendwie intuitiv die Pläne seine Gegner und so ließ er die ganze Kompanie, die dabei war von einem ihrer Manöver nach Hause zurückzukehren, kurzerhand in der Nähe einer Brücke anhalten und ausschwärmen. Der Rest ist, wie sich bereits alle denken können, Geschichte. Hunderte und Aberhunderte schwer bewaffnete Soldaten strömten aus und begannen Jagd auf die Terroristen zu machen. Die leisteten zwar noch eine Weile Gegenwehr, waren letztlich aber doch der übermächtigen russischen Armee hoffnungslos unterlegen. Keiner von ihnen überlebte. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um tschetschenische Rebellen. Als Wolkovs Sprengstoffexperten die Brücke untersuchten stellten sie fest, dass an nahezu allen Brückenpfeilern Sprengladungen angebracht worden waren. Die hätten ausgereicht, um die gesamte Konstruktion in die Luft zu blasen.<<

>>Das ergibt doch alles keinen Sinn ... ich meine ... so ein amateurhafter Anschlag ... noch dazu in wahnsinniger, selbstmörderischer Weise gegen die russische Armee. Das Ganze hätte nie und nimmer funktionieren können.<<

>>Vielleicht war genau das die Absicht, Mr. President. Vor einigen Jahrzehnten versuchten ein gewisser Führer auch seine Feinde zu verwirren, indem er Scheinangriffe an der einen Front ausführen ließ, um dann überraschend ganz woanders zuzuschlagen.<<

Der Präsident schluckte hörbar. >>Sie meinen ... eine Ablenkung, Price?<<

Price nickte. >>Möglich wär's schon ... auf jeden Fall war es eine konkret geplante Aktion. Und wer auch immer sie organisiert hat wusste schon im Voraus mit ziemlicher Sicherheit, dass sie ein selbstmörderisches Himmelfahrtskommando sein würde.<<

>>Sie denken, das waren alles so etwas wie Selbstmordattentäter?<<, warf Burke erstaunt ein.

>>Menschliche Bomben. Die gefährlichste Bedrohung durch Terroristen überhaupt. Etwas, wogegen es keinen sicheren Schutz geben kann. Radikale, muslimische Schläfer können unerkannt über Jahre hinweg in nahezu jedem Land der Erde leben, bis sie für ihren Auftrag geweckt werden. Leute, die so fanatisch sind, dass sie keine Furcht vor dem Tod haben und noch viel weniger davor, andere mit ins Verderben zu reißen.<< Price stellte erleichtert fest, dass das Hämmern in ihren Schläfen endlich nachzulassen begann, dann fuhr sie fort: >>Wir wissen derzeit genauso wenig wie unsere russischen Kollegen, was sich dort drüben bei denen genau abgespielt hat, aber wir können, glaube ich, ziemlich sicher sein, dass das Ganze keine Tat irgendwelcher dummer, harmloser Amateure oder gar unglücklicher Zufall war. Wer auch immer hinter der Sache in Russland steckt ... er wollte — davon bin ich überzeugt — Aufmerksamkeit. Ihm ging es womöglich sogar nicht um ein erfolgreiches Gelingen des Anschlags, sondern darum, dass die Aktion wahrgenommen wird. Die Frage ist momentan nur: Wer steckt dahinter und vor allem: Was will er damit bezwecken?<<

>>Wahrscheinlich werden wir die Antwort sehr bald erfahren<<, prophezeite der Präsident, wobei sich sein Gesicht zunehmend verdüsterte.

***

Su-Lin erschrak, als ein Geräusch sie plötzlich aus dm Schlaf hochgeschreckt hatte. Die Zimmertür öffnete sich leise und helles Flurlicht drang herein. Kurz darauf erschienen die schattigen Konturen eines Mannes in dem dunklen Raum. Der unbekannte Mann trat langsam in den Raum. Sie spürte ihr Herz vor Aufregung pochen und klopfen und sie hätte sich vor Angst beinahe in die Hose gemacht, konnte sich aber gerade noch beherrschen.

 

Der unheimliche, fremde Mann trat langsam näher. Jetzt war er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt und sie konnte sicher sein, dass der Mann auf keinen Fall ihr Papa war. Der würde sich auch nie und nimmer leise nachts an ihr Bett schleichen. Su-Lin schluckte leise und schloss rasch wieder ihre Augen.

>>Die kleine Göre scheint zu schlafen<<, murmelte der fremde Mann. >>Ist auch besser für sie ... << Dann machte er kehrt und verließ den Raum.

Su-Lin lag noch eine Weile regungslos in ihrem Bett, horchte und lauschte in die sie umgebende Dunkelheit, ehe sie es wagte ihre Augen wieder zu öffnen. Alles um sie herum lag in friedlicher Stille. >>Ich habe keine Angst vorm schwarzen Mann<<, flüsterte Su-Lin, während sie barfuß aus dem Bett hüpfte und ihre Kleider zusammensuchte. >>Von wegen kleine Göre ... <<

Auf dem Flur draußen ertönten plötzlich schwere Schritte. Langsam kamen sie näher, wodurch sie sich gezwungen sah, wie der Blitz in ihr Bett zurückzuspringen, doch die Schritte entfernten sich wieder, ohne dass jemand ihre Zimmertür geöffnet hatte. Sie wollte auf keinen Fall, auf gar keinen Fall mit jenem bösen, unheimlichen Mann allein im Haus bleiben. Sie erinnerte sich an die Warnungen ihrer Mutter: Falls irgendjemand jemals versuchen sollte dich festzuhalten oder dir wehzutun, dann versuch ganz einfach wegzulaufen ... zu anderen Erwachsenen oder zur Polizei ... um Hilfe zu holen. Su-Lin beschloss, sich diesen Rat zunutze zu machen.

Ihr Zimmer lag ebenerdig, sodass sie mit einem einzigen Sprung von der Fensterbank gefahrlos auf dem grünen, streichholzkurzen Rasen vor dem Haus landen würde, ohne sich zu verletzen. Sie schlüpfte hastig in ihre Schuhe, lauschte noch einmal kurz an der Zimmertür, fischte aus ihrem Kleiderschrank eine flauschige rosa Jacke und öffnete schließlich das Fenster. Warme, milde Luft begann sie sanft zu umhüllen, während sie auf die Fensterbank hinaufkrabbelte. Sie ging tief in die Hocke und landete mit einem leichten Hopser auf dem Rasen. Auch wenn der unheimliche, fremde Mann, der so plötzlich in ihrem Zimmer aufgetaucht war sie erschreckt hatte, so fand sie zugleich auch alles ziemlich aufregend und spannend. >>Wie im Kino<<, flüsterte sie, sprang auf die Füße und huschte ums Haus, um bald darauf mit der Dunkelheit zu verschmelzen.

Kurze Zeit später erhellte sich plötzlich ihr Zimmer, als das Licht eingeschaltet wurde. Jemand riss fluchend vor Wut das Fenster, durch welches das Mädchen entschlüpft war auf und stierte wie ein Wolf, den man um seine Beute betrogen hatte, in die Nacht hinaus.

>>Verdammtes Balg<<, schimpfte der Kerl. Er ärgerte sich, dass er so dumm und leichtsinnig gewesen war, die Kleine aus den Augen zu lassen. Innerlich rechnete er bereits damit, dass die Göre bald mit irgendwelchen Nachbarn oder gar den Bullen auftauchen würde. >>Zeit, die Segel zu streichen.<<

Als Souvenir hinterließ er eine mit den Schuhen ausgetretene Zigarettenkippe auf dem Treppenabsatz vor der Eingangstür.

Irgendwo knackten Zweige in der Dunkelheit. Das Knacken wurde von leichten, schnellen Kinderfüßen begleitet.

>>Ich würde dir liebend gerne deinen Arsch versohlen<<, murmelte der Mann, doch er hatte nicht die geringste Lust mit der Kleinen Fangen zu spielen und so verwarf er den Gedanken rasch wieder.

Das Grollen eines schweren Motorrads dröhnte im selben Moment durch die nächtliche Straße, wurde lauter und lauter. Der Mann hegte keinen Zweifel, dass die Maschine sehr rasch näherkam.

>>Falsch verbunden<<, stieß der Kerl in Gedanken gehässig hervor, dann fiel schlagartig der Groschen. Er hatte keinen Zweifel, dass es sich bei dem Motorradfahrer um die Anruferin handelte, die einige Zeit zuvor mit ihm telefoniert hatte. Das Motorrad verlangsamte seine Fahrt, wodurch das Grollen der Maschine in ein sanftes Brummen überging.

>>Maaaaaammmmiiii<<, plärrte irgendwo ein helles, zögerliches Kinderstimmchen, als die Harley endlich zum Stehen kam.

Die zierliche Frau auf dem Rücken der Maschine klappte das Visier ihres Helmes hoch und starrte völlig entgeistert, aber doch zutiefst erleichtert auf ihre Tochter, die sich vor ihr wild gestikulierend aus der Dunkelheit schälte. Dann erblickte sie den fremden Mann auf dem Treppenabsatz vor ihrer Haustür und der unbekannte Kerl sah sie ...

Mit raschen Schritten kam er näher und Han hatte das Gefühl, als würde das schmierige Grinsen im Gesicht des Mannes größer und größer, als wüsste er bereits siegessicher, dass sie ihm nicht entkommen konnte.

>>Spring auf! Schnell ... mach schon ... beeil dich, er hat uns gleich erreicht ... <<

Schon umklammerte Su-Lin mit beiden Armen den Oberkörper ihrer Mutter die Vollgas gab, bis sich die schwere Maschine wie ein sprungbereiter Löwe kurz auf das Hinterrad stellte und davonjagte. Das Mädchen drehte kurz den Kopf, um über ihre Schulter nach hinten zu blicken, wodurch der Fahrtwind ihre Haare zerzauste.

>>Der Mann steigt in ein blaues Auto<<, kreischte Su-Lin über den Motorenlärm ihrer Mutter zu. >>Jetzt verfolgt er uns.<<

>>Hätte ich mir fast denken können<<, sagte Han mehr zu sich selbst als zu ihrer Tochter. >>Festhalten! Wir biegen ab.<<

Das Motorrad legte sich mit seiner gewaltigen Masse so stark auf die Seite, dass Hans Knie fast den Boden streifte, als sie an der folgenden Kreuzung rechts abbogen, doch der blaue Wagen blieb ihnen unerbittlich auf den Fersen. Han warf einen flüchtigen Blick auf die Benzinanzeige der Harley, um festzustellen, dass der Tank fast leer war. Ein dunkler Schatten huschte unheilvoll über ihr Gesicht.

>>So ein Mist<<, fluchte sie leise, dann kam ihr eine Idee.

Sie nahm das Gas weg, bis die Maschine an den Straßenrand rollte.

>>Los. Spring ab. Schnell. Versteck' dich.<<

Su-Lin blickte ihre Mutter verständnislos an. >>Aber Mama.<<

>>Keine Widerrede. Mach was ich dir sage. Los, beeil dich.<<

Das Mädchen sprang schließlich vom Sozius, um sich hinter ein paar Mülltonnen zu kauern.

Man muss im Leben wissen, wann man kämpfen muss, hatte Chong früher einmal zu seiner Frau gesagt.

>>Du hast recht, mein Lieber<<, flüsterte sie leise.

Dann wendete sie mit ruhiger Entschlossenheit das Motorrad und steuerte geradewegs auf ihren Verfolger zu ...

***

Mina sah es zuerst.

Luftblasen, die ganz in ihrer Nähe aus der Tiefe des kühlen Meerwassers aufstiegen. Dicht unter der Wasseroberfläche schwebte ein dunkler, schwarzer Schatten langsam auf sie und Chong zu.

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit der Frachter in die Luft geflogen war, nur vereinzelt trieben Trümmer im Wasser. Stumme Zeugen der Katastrophe, die Chong und seine Begleiterin nur mit viel Glück überlebt hatten.

>>Da drüben. Was ist das?<<

Chong schwamm herum und blickte in die Richtung, in welche Mina deutete. >>Ich glaube, wir kriegen gleich Besuch. Sieht aus wie ein Froschmann ... <<

Er holte tief Luft und tauchte. Jetzt konnte er den anderen genau vor sich sehen. Es war ein Taucher, der langsam auf ihn zu glitt. Seine Harpune zielte unmittelbar auf Chongs Kopf und das wollte diesem gar nicht gefallen ... Chong sah, wie der Kerl, der sich nur wenige Meter von ihm entfernt befand, abdrückte. Blitzschnell bewegte sich etwas silbrig Glänzendes durchs Wasser. Chong machte eine Drehung und tauchte zur Oberfläche zurück, um nach Luft zu schnappen, wodurch das Geschoss haarscharf an ihm vorbei glitt.

>>Vorsicht<<, kreischte Mina urplötzlich. >>Hinter dir.<<

Chong fuhr herum. Der Froschmann hatte ihn ganz offensichtlich schneller erreicht, als er es erwartet hatte. Dafür hielt der Taucher jetzt in seiner rechten Hand ein großes Marinemesser mit nachtschwarzem Griff, bereit auf Chong einzustechen. Der andere war ein richtiger Riese mit Bärenkräften, wie Chong feststellen musste, denn obwohl es ihm gelang, den Arm des Angreifers zu fassen und ihm das Messer zu entwenden, zog der Kerl ihn wie eine Spielzeugpuppe zu sich heran, um seine massigen Pranken wie zwei Schraubstöcke um seine Oberkörper zu legen. Chong hatte das Gefühl, als versuchte jemand ihm das Rückgrat zu brechen, während der harte, kontinuierliche Druck der gegnerischen Arme allmählich sämtliche Luft aus seinen Lungen presste. Das Blut in Chong Schläfenarterie begann wild zu pulsieren, zu klopfen, zu hämmern, als der andere ihn unter Wasser zog. Tiefer und tiefer sanken die beiden Männer in ihrem gnadenlosen Ringen, das nur einer von ihnen überleben würde, dem Meeresgrund entgegen. Chong schaffte es schließlich, dem Froschmann das Mundstück seines Atemgerätes zu entreißen. Der verdrehte schlagartig die Augen, schlug und zappelte wie ein Fisch, als sich Chongs Rechte in seine Leber bohrte. Tausende Luftblasen stiegen aus dem stumm geöffneten Mund des Mannes auf und endlich spürte Chong, wie sich die Umarmung seines Gegners zu lockern begann, als der Körper des Tauchers erschlafft.