Fantastische Fragmente

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From the series: Fantastische Fragmente #1
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Mirianda sitzt wie erstarrt auf der Kante ihres Stuhls. Die Heilerin nimmt ihr das Amulett aus der Hand, beugt sich vor und legt es ihr um den Hals. »Du musst es gut hüten! Gib es niemandem, außer deiner Erstgeborenen. Ihre Aufgabe wird es sein, das fehlende Teil mit deinem Teil zu vereinen. In höchster Not wird die Kraft des Drachen deine Familie und dein Volk retten.«

Miriandas Haut kribbelt. An der Stelle über ihrem Herz, an der das Amulett sie berührt, breitet sich ein Leuchten aus. Durchströmt ihrem gesamten Körper, bis sie von innen herausleuchtet. »Es ist magisch!«, sagt sie ihre strahlenden Hände betrachtend. »Vater duldet keine Magie im Schloss.« Mirianda schüttelt den Kopf, als wäre dieser Gedanke ein lästiges Insekt.

»Es ist magisch!«, bestätigt Saragunde. »Dem Amulett haftet die Lebenskraft deiner Mutter an, verbindet sich mit der deinen. Deine innere Sonne erwacht. Eines Tages wird deine Tochter seine wahre Magie freisetzen. Aber bis dahin fällt noch viel Wasser vom Himmel herunter und du wirst uns alle von Halamors Knechtschaft erlösen!«

Mirianda öffnet den Mund. Fragen brennen in ihr. Doch bevor ein Wort den Weg auf ihre Lippen findet, spricht die Heilerin weiter. »Ein Geschenk habe ich noch für dich, nur fürchte ich, dieses wird dir nicht gefallen.« Saragundes klauenartige Hände greifen nach ihr. Das sich ausbreitende Strahlen der Heilerin, verbindet sich mit dem Leuchten von Miriandas Haut. Die Heilerin Saragunde löst sich vor Mirianda in Luft auf.

»Bis zum heutigen Tag habe ich all meine Kräfte aufgespart, um dir meine Erinnerungen zu schenken. Was du jetzt siehst, wirst du nur einmal sehen.« Mirianda hört das Lächeln in Saragundes Stimme. Einem Windhauch ähnlich streift die sanfte Berührung der Heilerin ihre Haut, auch wenn sie die Hände der anderen nicht länger erkennt. Tränen fließen.

»So viel hängt von dir ab, Kind. Die Hoffnungen Wardistans liegen auf dir. Enttäusche sie nicht! Enttäusche deine Mutter nicht!«

Noch einmal umschmeichelt ein Windhauch Miriandas Gesicht, sanft wie ein Kuss fährt er über ihre Stirn. Mit ihrem letzten Atemzug setzt Saragunde ihre Erinnerungen frei.

Saragundes Offenbarung

Wie in einem Traum zieht das Leben der Heilerin an Mirianda vorüber. Sie sieht blühende Rapsfelder, Sonnenlicht. Riecht das Holz brennender Häuser. Der Himmel verdunkelt sich. Auf einem Hügel steht Halamor und zeichnet rätselhafte Kreise. Männer mit wilden Bärten, bewaffnet mit Schwertern und Äxten, erschlagen Kinder, Frauen, Alte. Die Beschwörungen der Dorfbewohner prallen an Halamors Magie ab, verpuffen. Sein Lachen dröhnt in Miriandas Ohren. Staunend beobachtet sie, wie die Getöteten sich in Krähen verwandeln, einige Kreise über dem Ort ziehen, bevor sie laut kreischend in der Dämmerung entschwinden.

Die Bilder vor Miriandas Augen werden schneller. Überlappen sich. Sie zeigen Saragunde in gleißendes Licht gehüllt im Thronsaal vor König Halamor stehend. Sonnenhelle Felder in Frühlingsblüte wechseln zu blutiger Erde. Stumm schreiende Frauen und Kinder. Tote, überall Tote. Männer in der Uniform Wardistans morden, brandschatzen und rauben, dazwischen Halamor und Haradan in glänzender Rüstung, stets mit gezückten Schwertern oder einen Morgenstern schwingend. Die Erinnerungen fließen immer weiter, immer schneller. Bis sie sich inmitten eines wüsten Festes verlangsamen.

Mirianda hört die Stimmen der Feiernden, die Musik. Sie findet sich mitten im Geschehen wieder. Eine der Frauen tanzt mit geschlossenen Augen auf sie zu. Sie versucht auszuweichen, aber zu spät. Der Arm der Tänzerin ragt durch sie hindurch. Mirianda greift haltsuchend hinter sich, nach einer reich gedeckten Tafel mit kross gebratenen Fleischstücken, dampfendem Fladenbrot und riesigen Obstschalen, doch sie stolpert, fällt hin. Steht verwirrt wieder auf. Traut ihren Sinnen nicht mehr. Um sich zu vergewissern, greift sie nach einem Stück Brot, bekommt es nicht zu fassen. Die beringte Hand eines Mannes packt durch sie hindurch eine Karaffe Wein vom Tisch.

Ich bin für sie unsichtbar und doch mitten unter ihnen. Ich bin in Saragundes Erinnerung!

Mirianda schiebt den Gedanken zur Seite. Dreht sich langsam einmal um sich selbst. Sie ist den Kriegern Wardistans so nah. Sie ist die stumme Zeugin aus einer anderen Zeit. Oberflächlich betrachtet sieht alles nach einem Fest aus, doch ist die Atmosphäre eher rau und bedrohlich.

Die Gesichter der Männer, gierig und trunken. Die der sich anmutig bewegenden Tänzerinnen wirken maskenhaft, wie erstarrt.

Halamor erhebt sich von einem bunt bestickten Kissen. Er winkt den Musikern, seinen johlenden Mannen und den Frauen, niemand missachtet sein Kommando. Mirianda schließt sich dem Zug an. Lärmend ziehen die Menschen durch die Flure des Schlosses, bis der König erneut die Hand hebt. Alle halten in ihren Bewegungen inne, die Musik verstummt. »Königin Sorana«, flüstern die Tänzerinnen.

Mirianda drängt sich weiter nach vorn.

Mutter! Ich werde gleich Mutter sehen! Abrupt bleibt sie mit vor Schreck geweiteten Augen stehen.

Die Königin empfängt Halamor im Ornat einer Kämpferin vor der Tür zu ihren Kammern. Bewaffnet mit Schwert und Axt. Ihre Haut strahlt und erfüllt alles und jeden mit einem gleißenden Licht.

Nur ihn nicht! Heiß und kalt durchläuft die Angst Miriandas Körper. Sie will sich schützend vor ihre Mutter Sorana stellen, sie vor dem Vater beschützen.

Der König lacht höhnisch. »Du wagst es, dich mir zu widersetzen?«

»Du wagst es, in mein Land und mein Schloss einzudringen?«, faucht Sorana, hebt das Schwert zum Angriff. Mit all ihrer Wut schlägt sie auf ihn ein.

Viele schmerzhafte Wunden erträgt er, bevor es ihm gelingt, sie zu schänden. Obwohl alle zusehen, lässt er nicht von ihr. Halamor wird von seiner Gier überwältigt. Im Blut des Kampfes macht er sich Sorana untertan. Das von der Königin ausgehende Strahlen erlischt und weicht einem graublauen Dämmerschein.

Mirianda hält den Atem an. Schließt ihre Augen. Vergessen. Das ist nicht wahr! Alles in ihr schmerzt. Sie drückt die Handflächen gegen den Schädel. Schreit, laut. Niemand hört ihren Schrei. Was sie gesehen hat, ist die Wahrheit. Sie weigert sich, wehrt sich, doch es ist so ihrer Mutter widerfahren. Die Bilder sind eingebrannt in sie. Sind jetzt auch ihre Erinnerungen. Sie weint. Setzt sich inmitten des Getümmels. Hebt den Kopf erst wieder, als es um sie herum leiser wird. Das Geschehen gleicht nun einem lebendig gewordenen Gemälde.

Hinsehen! Sieh hin!

Mirianda erhebt sich schwerfällig, beobachtet aus sicherer Entfernung.

Vor Soranas Augen lässt der König drei der ihr treu ergebenen Untertanen von seinen Kriegern vierteilen. Bevor sich die Schlächter dem vierten Mann nähern, hebt Sorana die Hand und stimmt der Hochzeit mit Halamor zu. Sie überreicht ihm Krone und Zepter. In einer schnellen Zeremonie ernennt der König seinen Gefährten, den Inquisitor Haradan zum Lohn für seine treuen Dienste, zu seinem Lehnsmann über das Mittelreich.

Miriandas Tränen der Trauer und der Wut versiegen, weichen der eisigen Hand des Zorns. Ein schützender Nebel hüllt das Geschehen ein. Distanziert, wie aus weiter Ferne beobachtet sie Soranas Weigerung, mit Halamor im Schloss zu leben. Sie sieht den sich stetig wölbenden Bauch ihrer Mutter, die Wachen vor dem Gewölbe. Saragunde umsorgt die Entkräftete mit Licht und Wärme, aus der Quelle der ihr eigenen Magie. Sie reicht Heilkräuter und Speisen.

Ein lauter Schrei Soranas rüttelt Mirianda aus der Erstarrung. Saragunde eilt an das Bett der Königin. Streicht mit der Hand über den gewölbten Bauch. »Es ist bald so weit«, bestätigt sie deren fragenden Blick. Die Heilerin dreht sich um, doch Sorana packt sie fest am Handgelenk. »Du bist mir in den letzten Monden zu einer engen Freundin geworden. Außer dir habe ich keine Vertrauten. Meine Kraft schwindet, ich werde den morgigen Tag nicht erleben. Ich lege das Schicksal des Mittelreiches und das Schicksal meiner ungeborenen Tochter in deine Hände.«

Sorana nimmt ein Amulett von ihrem Hals und überreicht es Saragunde. »Dies ist das einzig Wertvolle, das Halamor mir ließ. Ich schloss all meine Sonnenkraft darin ein und verbarg so seine wahre Macht vor ihm. Es ist die Quelle der heiligen Kraft meines Volkes. Auf keinen Fall darf es in seine dunklen Hände geraten, sonst ist unsere Welt dem Licht für immer verloren.« Sorana trinkt einen Schluck aus dem Kelch, den Saragunde ihr reicht. »Du bist eine Magierin aus dem Volk der Merowinger. Deiner Lichtmagie wird es sich anvertrauen. Teile es und seine Macht wird bewahrt sein, bis zu dem Tag an dem sich alles entscheidet. Überbringe eine Hälfte an meine Tochter, am Tag ihrer Volljährigkeit. Sobald sie es trägt, wird mein Licht auf sie übergehen. Verkünde ihr die Prophezeiung, die du in meinen letzten Minuten hören wirst. Den anderen Teil bringe in die Anderwelt.«

Saragunde holt tief Atem, doch Sorana schüttelt kaum merklich den Kopf. »Ihr Merowinger besitzt wie kein anderes Volk die Gabe, in die Anderwelt zu reisen. Finde dort ein Kind, dessen Seele rein ist und dessen Herz, überwuchert von der Blume des Schmerzes, sich nach dem Licht der Liebe verzehrt. Hinterlasse diesem Kind ein Tor, auf dass es den Weg in unsere Welt findet, wenn es an der Zeit ist. Mit der Sehnsucht dieses Kindes aus der Anderwelt und mithilfe des Amuletts meiner Ahnen, wird am Tag der Entscheidung das Licht in unsere Welt zurückkehren.« Sorana sucht Saragundes Blick. »Schwörst du es?«, fragt sie flehend.

»Ich schwöre bei allem, was meinen Ahnen heilig ist«, antwortet die Heilerin und greift ehrfürchtig nach dem Amulett.

 

In dieser Nacht gebiert die Königin. Saragunde legt der Geschwächten den Säugling auf den nackten Bauch. Im Augenblick, in dem sich die Wärme von Mutter und Kind verbindet, löst sich Soranas Aura. Hüllt sich, einem Schutzmantel gleich, um den knittrigen Körper des Mädchens und um die Heilerin, bis sie im Inneren des Neugeborenen eingeschlossen ist. Mit einer Stimme, fern, wie aus einer anderen Sphäre, verkündet die Königin: »Du bist Mirianda, Tochter Halamors des Dunklen und Tochter Soranas, der im Licht Geborenen. Möge die Kraft meiner Liebe dich und die deinen nie verlassen. Aus Gegensätzen schaffe ein Ganzes. Ist wieder vereint, was Halamor trennte, wird seine Macht gebrochen sein!«

Mit diesen Worten verlöscht das Licht. Soranas von der Dunkelheit geschwächtes Herz hört auf zu schlagen. Behutsam nimmt Saragunde Mirianda auf, hebt sie hoch über ihren Kopf, zeigt sie den Dienerinnen. »Ihr hörtet, was die Königin sprach. Dieses Kind wird uns von Halamors Dunkelheit befreien. Schützen wir es mit unseren Körpern und mit unserem Schweigen!«, fordert sie die sie umringenden Frauen auf. »Ein Wort von dem, was ihr hier erlebt und gehört, und eure Kinder mögen zu Staub zerfallen!«, zischt Saragunde.

Die Heilerin badet und wickelt den Säugling und bringt ihn zum König. Sie überreicht ihm das lebendige Bündel. »Sorana ist verstorben, aber vorher gab sie deinem Kind den Namen Mirianda.«

Halamor sieht sie mit finsterem Blick an. »Verschwinde aus meinem Schloss!«, befiehlt er.

Saragunde lacht hart. »Ich werde gehen. Doch einmal noch werden wir uns wiedersehen.«

Seine Adern an den Schläfen färben sich dunkel und pulsieren.

»An Miriandas siebzehnten Geburtstag werde ich zurückkehren, um ihr die Wünsche ihrer Mutter zu überbringen.«

Halamor springt auf, den Zeigefinger der Schwerthand drohend auf die Heilerin gerichtet. »Nie wieder wirst du dieses Schloss betreten, oder du bist des Todes«, brüllt er sie an.

Ein wissendes Lächeln huscht über Saragundes Gesicht. »Indem ich deiner Tochter mit meiner Magie ins Leben verhalf, hast du dich an mich gebunden. Soranas letzte Atemzüge galten einem Schutzzauber für deine Tochter, in den sie mich einschloss. Brichst du ihn, wird dein Geschlecht mit dir untergehen.« Mit diesen Worten wendet sie ihm den Rücken zu und verlässt das Schloss.

Miriandas Reise

Miriandas Gesicht ist tränennass. Ihr Körper ist vom Erlebten wie betäubt. Lautes Gekreische holt sie aus ihrer Erstarrung in die Gegenwart zurück. Einen letzten Blick erhascht sie auf Saragundes Traumgestalt, die einem vergehenden Regenbogen gleich, in der Dämmerung entschwindet.

Noch immer hockt Mirianda auf dem Sessel im Pavillon. Auf dem Tisch steht unberührt die Karaffe mit Wasser. Die Heilerin ist verschwunden. Nur ihr Umhang liegt leer auf dem Kissen ihres Stuhls. Der Himmel ist schwarz und drohend. Hunderte Krähen verdunkeln ihn, laut kreischend ziehen sie ihre Kreise.

Mirianda nimmt den Umhang auf den Schoß. Sie streicht mit den Fingern über das kühle Metall an ihrer Brust. Saragunde war kein Traumgespinst. Sie friert. Was sie wie im Traum sah und hörte, ist die Wahrheit. Das Amulett ist dafür ebenso Beweis, wie ihre im Dämmerlicht hell schimmernde Haut. Ihr geliebter Vater Halamor ist ein Magier, ein Weltverdunkler, ein Krieger und ein Menschenschinder. Er war der Schänder ihrer Mutter. Er war schuld an ihrem Tod. Eine ungekannte Kälte kriecht durch Miriandas Körper, breitet sich aus. Sie hebt den Blick gen Himmel. Nicht die Krähen irritieren sie. Es ist die fehlende Helligkeit. Die Dämmerung nicht mehr eine weitere Schandtat des Königs, seine erste vielleicht. Doch es gibt eine Welt hinter den Wolken. Jetzt kennt sie die Sonne. Ihre Mutter war Königin Sorana, die im Licht Geborene.

Mirianda verlässt den Pavillon, steigt Stufe um Stufe zum Schloss empor. In den Fenstern sucht sie nach der Gestalt des Vaters. Er zeigt sich nicht. Kurz entschlossen wirft Mirianda sich den Umhang der Heilerin über. In der Ferne hört sie das heisere Krächzen der Krähen. Die Tochter des Königs schleicht an ihrem siebzehnten Geburtstag, um Jahre gealtert, aus dem väterlichen Schloss. Nur einmal dreht sie sich um, wirft einen Blick auf sein Turmzimmer. In ihrem Gesicht spiegeln sich Trauer und Angst. Ein greller Lichtblitz erhellt den Himmel über dem Turm, in dessen Fenster sie den Schatten des Halamors erkennt.

Drei Tage und Nächte läuft Mirianda, ohne innezuhalten. Keiner Menschenseele begegnet sie. Sie meidet die Siedlungen der Menschen. Die Gefahr erkannt zu werden ist groß. Sie kennt ihren Weg nicht, noch ihr Ziel. Sie folgt dem Schwarm der Schwarzgefiederten, der sie seit jenem Tag im Pavillon begleitet. Bis auf die einsilbigen Unterhaltungen mit einer Krähe, die sich mutig auf ihrer Schulter niederlässt und in der sie den Geist Saragundes erahnt, spricht sie kein Wort. Versunken in ihre düsteren Gedanken läuft sie Schritt um Schritt. Am dritten Tag sinkt sie erschöpft am Ufer eines Sees zu Boden, trinkt gierig von dem klaren Wasser, legt sich nieder und schläft ein. Im Traum hört sie fernes Gewisper. Wirft sich ruhelos von einer Seite auf die andere, doch die Stimmen kommen immer näher.

Blinzelnd öffnet Mirianda die Augen und sieht sich umringt von fünf moosbewachsenen Gestalten. »Warum stört ihr meinen Schlaf?«, fragt sie.

»Wir wollen nicht stören«, antworten die Wesen im Chor, wie aus einem Mund. »Wir sind die Mingowen, die Moosigen. Wir fanden dich im Schlaf der Erschöpfung am Rande des dunklen Sees. In den Wäldern hörten wir die Häscher Halamors nahen, deshalb brachten wir dich in Sicherheit.«

»Wo ist in Sicherheit?«, fragt Mirianda, sich unauffällig umsehend.

»Im Schloss von König Erdschwer.« Die Umstehenden wackeln mit den moosigen Köpfen. »Hier im Inneren der Erde leben wir seit Anbruch der großen Dämmerung.« Die Mingower versinken in düsterem Schweigen.

»Ach papperlapapp«, ruft eine Mingowin aus, der das Moos wie ein Bart im Gesicht zu wachsen scheint. »Was stehen wir hier rum und reden und reden und das arme Kind verhungert!« Energisch erhebt sie sich.

»Aber ihr wisst doch gar nicht, wer ich bin?«, wehrt sie ab.

»Pah, das weiß doch jedes Kind« lacht die Moosige. »Die Prophezeiung besagt, das Mirianda, Tochter der Sorana und des Halamor, aus Gegensätzen ein Ganzes schaffen wird und wieder vereint, was Halamor einst trennte. Und Kind, glaub mir, seit Beginn der Dämmerung haben wir nie wieder einen Menschen so hell leuchten sehen wie dich.«

Die Mingowen lachen.

»Mir für meinen Teil genügt das«, fügt die Moosige forsch hinzu.

»Wir kennen und wir wissen«, murmeln die anderen Mingowen und verneigen sich vor Mirianda.

»Schluss jetzt!«, poltert die Moosige. »Wir gehen ins Schloss, das Abendmahl wartet.« Mit diesen Worten ergreift sie Miriandas Hand und bedeutet ihr, aufzustehen. Mirianda gehorcht. Sie laufen durch von Fackeln beleuchtete Gänge. Wände aus purem Gold, dessen weicher Glanz das Licht reflektiert und so die Räume heller scheinen lässt. Getrieben von Hunger und Neugier vergisst sie, dass sie hunderte Klafter tief ins Innere der Erde läuft. Unzählige Biegungen später erreichen sie einen taghell erleuchteten Saal. Mirianda kneift die Augen zusammen. Sie folgt mit dem Blick den Stimmen der Mingowen. Munter schwatzend lassen sie sich an einer reich gedeckten Tafel nieder. An der Stirnseite sitzt ein stattlicher Mann. Dunkle Locken und ein schwarzer Bart umrahmen sein Gesicht.

»Ihr müsst König Erdschwer sein«, entfährt es ihr. Seine freundlichen und sanften Gesichtszüge ziehen sie an. Mit einer einladenden Geste fordert er sie auf, neben ihm Platz zu nehmen. Schweigend essen Erdschwer und Mirianda, einander unauffällige Blicke zuwerfend und scheinbar den Gesprächen der Anwesenden lauschend. Wie aus weiter Ferne hört sie die Moosige.

»Das Feuer ist entfacht, der Wein entkorkt, möge der Funke springen.« Mit diesen Worten beugt sie sich vor und flüstert Mirianda zu »Falls Ihr unsere Hilfe benötigt, wir sind Euch stets zu Diensten.« Sie verbeugt sich vor Erdschwer und verlässt im Kreis der ihren den Raum.

Die vielen Eindrücke der vergangenen Tage, das Licht im Saal, die Wärme des Holzfeuers und die fast greifbare Zuneigung, mit der Erdschwer sie betrachtet, verwirren Mirianda. Nie saß sie mit einem Fremden allein am Kamin. Nie war sie einem ihr Unbekannten so nah. Das Feuer knackt und wirft züngelnde Schatten an die Wand. Die leise Stimme des Königs bricht das Schweigen.

»Vor langer Zeit, als es in Wardistan noch Sonnenlicht gab, arbeiteten die Menschen hart, um dem Boden seine Früchte zu entlocken. Das Leben war schwer und mühevoll, und dennoch feierten wir Feste, freuten uns über Geburten und trauerten, wenn einer der unseren uns für immer verließ.« Erdschwer seufzt. »Als Halamor die Dunkelheit rief, war alles vorbei. Was du hier siehst, ist ein Abglanz unseres Lebens unter der Sonne. Sobald die Mingowen mir sagten, wen sie schlafend am dunklen See fanden, wollte ich dich auf der Stelle in den tiefsten Kerker werfen.« Erdschwer sieht ihr direkt in die Augen. Sie hält seinem Blick stand. »Doch die Mingowen erinnerten mich an die Prophezeiung von der strahlenden Jungfrau, die das Licht der Sonne in sich trägt und uns alle befreien wird.«

Mirianda schließt die Augen und lauscht den Worten des Königs. All das Leid und die Hoffnungslosigkeit, die Halamor über das Land brachte, lasten in diesem Augenblick auf ihren Schultern. »Was soll ich tun?«, flüstert sie.

»Dein Vater ist krank vor Sehnsucht nach dir. Sein Schmerz lässt Wardistan Tag für Tag dunkler werden. Finde einen Weg. Bring uns die Sonne zurück!« Schatten der Trauer vibrieren in Erdschwers Stimme.

Kummer presst Miriandas Brust zusammen. Sie schluchzt. »Ich verspreche es bei meinem Leben. Ich werde den Weg finden«. Tränen tropfen auf ihre Hände. Sie zittert. Erdschwer legt behutsam seine Arme um sie. So hocken sie lange und halten einander fest. Zwei beladene Seelen, keinen Ausweg wissend. Ihre Augen schließen sich vor Müdigkeit. »Du musst gehen«, flüstert er ihr zu.

»Kann ich nicht bei dir bleiben«, fragt Mirianda. Erdschwer schüttelt bedauernd den Kopf. »Die Nacht neigt sich dem Ende entgegen. Ein Erdenmensch, der vor Tagesanbruch den Weg an die Oberfläche nicht schafft, verwandelt sich in einen Mingowen, ein Wesen der Nacht. All unsere Hoffnung und meine Liebe sind mit dir. Mirianda, nur als Mensch kannst du uns retten!« Mit diesen Worten verabschiedet sich der König von ihr, doch sein sehnsuchtsvoller Blick sagt: »Bleib!«

Ohne Miriandas Antwort abzuwarten, verschwindet Erdschwer durch eine kaum wahrnehmbare Tür in der Wand. Etwas zupft an ihrem Arm. Die Moosige ist unbemerkt neben sie getreten. »Es ist Zeit!«, fordert sie Mirianda auf. Ergreift ihre Hand und führt sie auf denselben verschlungenen Wegen aus dem Schloss, auf denen sie es betreten hat. Schweigend laufen die beiden durch die vom Gold erleuchteten Gänge. Die Moosige summt eine sich immer wiederholende Melodie, von der Mirianda noch schläfriger wird. Auf einem Feld, unter einer alten Eiche, halten sie. Es bedarf keiner Aufforderung. Sie legt sich mit geschlossenen Augen in das wispernde Gras. Die Stimme der Moosigen klingt weit entfernt und doch nah genug, dass Mirianda ihre Worte versteht. »Dies ist der heilige Baum, das Herz Wardistans. Hier fanden wir vor langer Zeit König Erdschwer in den Armen seines Bruders König Windleicht. Beide sterbenskrank, von Halamors Fluch getroffen. Dies wäre ihr Grab geworden, hätten wir sie nicht voneinander getrennt. Der eine kann nur in den Tiefen der Erde, der andere nur in den Höhen der Lüfte überleben. Auf der Erde leben können sie nur kurze Zeit, einander festhaltend. Doch schnell schwinden auf diese Art ihre Lebensgeister. Finde König Windleicht! Füge zusammen, was Halamor getrennt!«

Wo? Die Frage wabert durch ihren müden Kopf.

Über der Dämmerung antwortet die sanfte Stimme. Jetzt aber schlaf! Leise summt die Moosige wieder die fremde Melodie, mit der sie sich langsam aus Miriandas Gedanken zurückzieht.

Am Morgen erwacht Mirianda unter dem ausladenden Dach der alten Eiche. Nach dem Besuch in König Erdschwers goldener Schattenwelt erscheint ihr das Dämmerlicht Wardistans dunkler als je zuvor.

Aus dem nahe gelegenen Wald sind Schritte zu hören. Äste knacken unter schweren Stiefeln. »Ein Licht« hört sie eine knurrige Stimme rufen. »Es bewegt sich!«

»Wenn das mal nicht unser Prinzesschen ist«, antwortet eine andere Männerstimme.

 

»Halamor wird es uns lohnen«, ruft ein Dritter.

»Gold, Vieh und Weiber«, grölt ein Vierter.

Mirianda wirft sich hastig Saragundes Umhang über. Das Leuchten verschwindet. Sie sucht mit den Augen ein Versteck. Das Gras ist zu niedrig, das wogende Weizenfeld zu viele Schritte entfernt. Sie wendet den Blick nach oben. Das Blätterdach der Eiche ragt weit in die Wolken hinein. Sie knotet ihre Röcke zusammen, sodass sie den Beinkleidern von Männern ähneln. Ihre Schuhe steckt sie in den Ausschnitt ihres Kleides. Jetzt kommen ihr die Spiele ihrer Kindertage zugute. Oft hatte sie sich auf den Bäumen im Garten vor den Rufen der Zofen versteckt. Eichhörnchenflink klettert sie empor. Mit einer Hand berührt sie schon die Wolken, da dringen die Stimmen der Männer zu ihr herauf. Mirianda hält inne. Wagt einen Blick nach unten.

Sie laufen suchend um den Baum herum. »Verfluchtes Weib« hört sie den mit der knurrigen Stimme murren. »Die Hexe hat sich in Luft aufgelöst!« Lautes Gekreisch übertönt das Geräusch der knackenden Äste unter ihren Füßen.

»Verdammtes Miestvieh« brüllt einer der Männer.

In diesem Augenblick durchbricht Mirianda die Grenze zwischen Erde und Himmel. Eingehüllt in den Wolkennebel, bemerkt sie eine Erschütterung des Baumes. Sie fürchtet, die Männer haben sie entdeckt und folgen ihr. Sie klammert sie sich an die dünner werdenden Äste. Der Wind zerrt an ihren Haaren, heftig und kühl. Die Furcht lässt Mirianda erlahmen. Zwei Meter über ihr ein kräftiger Ast. Mit letzter Kraft zieht sich nach oben. Angekommen kauert sie sich zusammen. Schlingt Arme und Beine um den Stamm des Baumes. Auf jedes Geräusch lauschend, sinkt sie allmählich in einen Schlummerzustand zwischen Wachen und Schlafen.

Im Traum hört sie leises Flügelschlagen und heiseres Krächzen. Über alle dem klingt das Lied der Moosigen. Mit ausgebreiteten Armen schwebt sie, einem Vogel gleich, durch die Lüfte. Immer höher und höher, bis sie erwacht. Mirianda öffnet die Augen, berauscht von diesem Traumflug und gestärkt von der Musik. Doch statt des rutschigen Asts steht sie festen Boden. Kühl und glatt belebt er ihre nackten Fußsohlen. Um sie herum ist es windstill. Wohin sie den Blick auch wendet, sie schaut in den Himmel, so strahlend blau, wie sie ihn nur von den Gemälden in Erdschwers Schloss und aus Saragundes Erinnerungen kennt. Weit unter ihr die geschlossene Wolkendecke. Sie hockt sich auf den Boden, tastet und klopft, staunt. Hoch über den Wolken steht sie in einem Raum aus Glas.

»Willkommen in meinem Palast, Mirianda, Tochter der Lichtgeborenen und des Dunklen!« Die silberhelle Stimme reißt sie aus ihren Gedanken. Sie wirbelt herum, springt auf. Ein Gesicht, umrahmt von hellen Locken, mit markanter Nase lächelt sie an. Ein Mann, so durchscheinend wie sein Palast aus Glas. Ein Blick in seine Augen, lapisblau, lässt sie alle eben noch drängenden Fragen vergessen. Eine nie gekannte Wärme durchströmt sie, auf ihrem Antlitz zeigt sich ein strahlendes Lächeln.

»Schön, dass Euch gefällt, was Ihr seht, denn auch mir gefällt, was ich sehe!« Der Unbekannte deutet eine Verbeugung an. Mirianda errötet.

»König Windleicht«, stellt er sich vor. Galant bietet er ihr seinen lichtschimmernden Arm. Führt sie in einen Saal, von Sonnenlicht durchflutet. Geblendet bedeckt sie ihre Augen mit den Händen.

»Wie unbedacht von mir« schilt sich der König. »Ich vergaß, dass Ihr noch nie der Sonne wahren Glanz saht.« Windleicht klatscht. An den Wänden fallen seidene Tücher herab. Durch das zarte Gewebe hindurch starrt Mirianda hinaus. Erst jetzt erfasst sie das Farbenspiel, den Tanz der Sonnenarme. Die Sinne geöffnet, nimmt sie das Licht in sich auf. Es umschmeichelt ihre Haut. Wärme durchflutet sie. Ihr ist so leicht und froh zumute, alle Last und Verantwortung fällt von ihr ab.

Ein leises Räuspern holt sie zurück in den Palast. Im gedämpften Licht verbeugen sich drei geflügelte Gestalten mit silbrigen Haaren vor ihr, in Kleidern, so fein wie Spinnweben. »Das sind meine treuen Gefährten vom Stamm der Winaer« stellt Windleicht die Wesen vor. »Meine Beschützer. Unzählige Male retteten sie mir das Leben, wenn ich von Sehnsucht nach meinem Bruder und meiner Heimat getrieben kopfüber gen Erde stürzte. Mit ihren Mündern formen sie keinen Ton. Doch wenn Euer Geist rein ist, könnt Ihr sie hören.«

Mirianda und Windleicht setzen sich auf gläserne Stühle. Sie sprechen nicht, sehen einander nur unverwandt an. In ihrem Kopf summt eine leise Melodie, ähnlich der, der Moosigen, nur feiner und klarer im Klang. Einladend winden sich die Töne durch Miriandas Kopf und Körper.

Woher kennt ihr diese Melodie, fragt Mirianda.

Es ist das Lied des Ursprungs, der Liebe, des Schattens und des Lichts, antwortet ein dreistimmiger Chor. Einst kannten es alle Bewohner unserer Welt. Doch Dunkelheit verwirrte ihre Sinne, so haben sie seine Macht vergessen.

Wer wird sie erinnern?, fragt Mirianda. Ihr lebt hier oben in den Lüften und die Mingower tief verborgen im Inneren der Erde.

Wir wissen, singt der Chor. Du wirst einen, was getrennt. Du wirst dieses Lied in die Welt tragen.

Was wurde getrennt? Wie kann ich es einen?, drängt Mirianda.

So viele Fragen, antwortet der Chor, die vieltausendjährige Ibe im mittleren Wardistan. Sie ist der Schlüssel. Bist du dort, so wirst du wissen. Die Stimmen in Miriandas Kopf verklingen.

König Windleicht legt seine seidige Hand auf die ihre. Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Mirianda erwidert es und versinkt im Blau seiner Augen. Sie lässt sich fallen in die Tiefe dieser Verbindung ohne Berührung. Sie vergisst die Welt. Vergisst ihren Vater, ihre Mutter, vergisst für einen Moment die Begegnungen mit Saragunde und König Erdschwer. In Windleichts Gegenwart gibt es weder Tag noch Nacht. Ganz erfüllt ist sie und unbeschwert. Leicht und froh. Sie lachen und ihre unschuldigen Küsse gleichen dem sanften Streicheln eines Blütenblattes auf ihrer Haut.

Als die Sonne den siebten Kreis um den Palast vollbringt, verdunkelt sich der Blick des Königs und die Verbindung zwischen ihnen schwindet.

Es ist an der Zeit, warnt der Chor der Winaer.

Ein quälender Schmerz breitet sich auf Miriandas Haut aus, die sich im Spiel mit Windleicht hell und durchscheinend zeigt. Er verblasst, wie unter einem Schatten der auf ihn gefallen. Ihre Hände lösen sich voneinander.

»Gern würde ich Euch bei mir halten, Euch auf meinen Flügeln tragen« flüstert er ihr zu. »Doch unsere Welt ist verloren, wenn ich Euch an mich binde.« Windleicht und Mirianda umarmen einander ein letztes Mal. Verabschieden sich mit einem scheuen Kuss.

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