Fantastische Fragmente

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From the series: Fantastische Fragmente #1
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Impressum

Über das Buch:

Mirianda - Die Offenbarung der Heilerin

Die Geschichte enthält u.a. folgende sensible Inhalte:

Prolog

Ankunft der Heilerin Saragunde

Geburtstagsmorgen

Soranas Vermächtnis

Saragundes Offenbarung

Miriandas Reise

Im Schatten der vieltausendjährigen Ibe

Epilog

Über die Autorin:

Der einsamste aller Engel

Der folgende Text erwähnt/thematisiert

Tharel

Sofiel

Über die Autorin:

Luna von San Trijato

Die Geschichte enthält u.a. folgende sensible Inhalte:

Prolog

Aylin, Tochter

Aylin, Protegé

Aylin, Beraterin

Aylin, Parlamentsmitglied

Aylin, Luna Immaja

Über die Autorin:

Impressum neobooks

Sylvia Tornau | Sharlene Anders | Claudi Feldhaus

Fantastische Fragmente

Von Amuletten, Todesengeln und Übermenschen

Impressum

© 2021

Sylvia Tornau | Sharlene Anders | Claudi Feldhaus

https://www.tatmoor.de

https://www.instagram.com/weltwirker

https://www.kakaobuttermandel.de

Sylvia Tornau | Sharlene Anders | Claudi Feldhaus

c/o Der Kleinste Buchladen

Reinsberger Dorf

Am Weinberg 1

99938 Plaue

2. Auflage 2021

Buchsatz: Claudi Feldhaus

Coverdesign: Andrea Witte

ISBN: 978-3-753171-28-9

Hinweise zu sensiblen Inhalten befinden sich zu Beginn der jeweiligen Geschichten.

Über das Buch:

Drei Autorinnen treffen sich zu einem Kaffee. Sie reden über ihre Arbeit. Das Gespräch führt zu drei Romanen, die zum Teil schon veröffentlicht sind.

Sylvia Tornau: „Seraphina – Auf der anderen Seite“, ein dunkles Märchen

Sharlene Anders: „weltwirker“, ein phantastisches, transmediales Story-Universum

Claudi Feldhaus: „Zimazans“, eine dystopische Romantasy.

Zu jedem dieser Romane gibt es eine bisher unveröffentlichte Vorgeschichte. An diesem Abend entsteht die Idee zu der vorliegenden Anthologie Fantastische Fragmente.

Eine Königstochter begibt sich auf die Reise, aus Gegensätzen ein Ganzes zu schaffen und ihr verzaubertes Königreich zu erlösen.

Ein einsamer Engel sucht die verbotene Nähe desjenigen, der ihn berührte wie niemand zuvor.

Eine Frau mit lahmen Flügeln macht sich auf den Weg, die Mächtigste ihres Metropols zu werden.

Drei Geschichten unterschiedlich in Stil und Sprache, verbunden durch das Genre Dark Fantasy und durch ihre Themen Verrat, Liebe und der Suche nach dem eigenen Platz im Leben.

Mirianda - Die Offenbarung der Heilerin

Eine Vorgeschichte zu

Seraphina - Auf der anderen Seite

von Sylvia Tornau

Lektorat: Kristina Russ

Für:

Lene, Momo und alle, die meine Geschichten gern lesen.

Die Geschichte enthält u.a. folgende sensible Inhalte:

Erwähnung/Thematisierung:

Genozid und Krieg, Sexismus,

körperliche Gewalt,

sexualisierte Gewalt,

gewalttätige Morde, Blut,

romantische Liebe, heterosexuelle Küsse

Prolog

Einst versank das blühende Wardistan durch die Magie des künftigen Königs, des Zauberers Halamor, in Finsternis und Elend. Seither leben die Menschen im Dämmerlicht und sterben in großer Zahl vor ihrer Zeit. Die Sonne ward zu einer Legende, welche den Kindern zur Nacht erzählt wird. Keine Magie neben seiner duldend, sorgte König Halamor für die Vernichtung sämtlicher magiebehafteter Clans. Nur eine Magierin überlebte das Massaker.

Alle zwölf Monate stellt sich König Halamor im Thronsaal seines Palastes den Bitten des Volkes. Sie kommen in Scharen, denn groß ist die Not. Die einen ersuchen den Erlass von Steuern, weil die Ernte seit Jahren nicht gedeihet. Andere erbitten eine Arznei für ihre leidenden Angehörigen. Spät am Nachmittag erhebt sich der König. Die Audienz ist beendet. Ohne zu murren, löst sich die Reihe der Bittenden auf. Einzig ein Hutzelweib tritt auf den Herrscher zu, verstellt ihm den Weg. Halamor rümpft beim Anblick der zerlumpten Alten die Nase, doch ihr unerschrockener Blick weicht dem seinen nicht aus.

»Was willst du?«, knurrt er, das Beben des Zorns in seiner Stimme kaum verhehlend, gepaart mit einem Funken Neugier.

So lange schon hatte niemand mehr gewagt, sich ihm in den Weg zu stellen. Mit einer Handbewegung bedeutet er den Wachen, sich zurückzuhalten. »Ich will einen Handel mit dir«, antwortet die Alte. »Ich bin die Heilerin Saragunde, die Letzte vom Geschlecht der Merowinger. Einst waren wir ein mächtiges Magiervolk, doch all die Meinen ließest du vernichten. Aus Machtgier, weil du keine andere Magie neben deiner duldest!«

Halamors Gesicht färbt sich rot an. Voller Wucht schleudert er seinen Weinkelch zu Boden. »Für diese Unverfrorenheit wirst du sterben!«, brüllt er.

Die Heilerin lächelt. Mit einer fließenden Handbewegung öffnet sie ihren schwarzen Umhang. Ein leuchtendes Strahlen umschmeichelt ihre Silhouette. Wie ein Schleier, zart aus weißem Licht gewebt, leuchtet Saragundes Aura. Die sie Umstehenden weichen erschrocken zurück, drängen aus dem Thronsaal hinaus.

Halamor blinzelt überrascht. »Hexe!« Seine Worte klingen eher nach dem Quaken eines Frosches statt denen eines Magiers. »Du wagst es ...«

»Schweig!« Saragundes Stimme hallt durch den Raum. »Ich schlage dir einen Handel vor. Ich bin es leid mich vor dir zu verstecken. Mein Leben in Sicherheit und dafür bekommst du den ersehnten Thronfolger! Töte mich und dein Geschlecht ist dem Untergang verdammt! So wurde es von meinen Ahnen prophezeit.«

Halamor erblasst.

»Deine Lenden sind stark, doch das Gift deiner Magie tötet deine Frucht in jedem Weib. Keine besitzt die Stärke, dir ein Kind zu gebären. Ich helfe dir, ein starkes Weib zu finden. Ein schönes Weib. Die Schönste unter der Sonne! Der Preis ist meine Freiheit. Du lässt mich in Würde altern!« Mit ihrem Blick hält sie den seinen fest. Halamor windet sich. Je mehr er versucht, sich ihrem Zauber zu entziehen, desto heller strahlt die vor ihm stehende Frau, zieht ihn in ihren Bann. Seine Augen verengen sich zu dünnen Schlitzen, die Mundwinkel sinken schlaff herab. Sein Mienenspiel wechselt von Wut zu Angst, zu Resignation. Er senkt den Blick.

»Du weißt, ich spreche die Wahrheit. Wenn du nicht findest, was du suchst, töte mich. Doch findest du, was du begehrst, wirst du die weiße Magie der Heilerin brauchen!«

»Hier gibt es genug Heilerinnen!«, erwidert der König trotzig.

Saragunde stöhnt gespielt gequält auf. »Keine mit meinen Fähigkeiten!« Sie schließt ihren Umhang und verdeckt ihre strahlende Aura. Wieder steht das alte Hutzelweib vor Halamor. Mit dem Schwinden ihres Lichtes kehrt die Dämmerung zurück. Den König schaudert. Er erhebt sich, streckt seine Glieder. Lange überlegt er. Läuft in großen Schritten im Raum auf und ab. Bleibt abrupt vor der Alten stehen, schüttelt den Kopf, lächelt verschlagen.

»Bleib! Doch wisse: Wenn mir nicht gefällt, was du bietest, wirst du sterben.«

 

Ankunft der Heilerin Saragunde

Laut lamentierend kreist ein Krähenschwarm über dem Schloss. Eine einzelne Krähe löst sich aus der Formation, stürzt mit wildem Gekreisch gen Boden. Öffnet mitten im Sturz die Flügel, fängt sich, schwebt in der Luft und landet sanft auf der Schulter eines in schwarze Lumpen gehüllten Weibes.

»Jaja«, brummelt sie zur Begrüßung und hievt sich mit langsamen Bewegungen von ihrem Reittier, einem in die Jahre gekommenen Esel. Kaum stehen ihre Füße auf festem Boden, fingert sie mit arthritischen Händen an den Reitgurten. Befreit das Grautier von seinem Geschirr. Streicht ihm über den Kopf. Das Tier schnaubt leise.

»Leb wohl Schöner«, flüstert die Alte und gibt dem Esel einen sanften Schlag auf die Flanke. Der Graue bockt auf, schüttelt sich, trabt los. Nach wenigen Metern verfällt er in einen gemächlichen Schritt. Sie sieht ihm hinterher, bis er im Grün des Olivenhains entschwindet. Einmal noch schreit er ein heiseres I-ha zum Abschied. Das Weib seufzt. Löst den Blick vom staubigen Weg, auf dem der Esel entschwunden ist. Richtet die zerlumpten Kleider. Die Krähe zupft am schwarzen Umhang, drängt zur Eile.

Ein rauchiger Husten schüttelt das Weib, der Atem rasselt. Sie beugt den Körper nach vorn, stützt die Arme auf die Schenkel. Tief atmet sie ein und aus, ein und aus. Ihre Atemzüge beruhigen sich, das Rasseln wird schwächer. Sie hält die Augen geschlossen, das Gesicht entspannt sich. Der gebogene Schnabel der Krähe zwickt das Weib am Ohr, reißt sie aus der Versunkenheit. Sie nickt, lächelt. Fährt mit dem Finger leicht über das Gefieder des Tieres. Sie räuspert sich und richtet sich auf. Läuft in kurzen Schritten auf das Schlosstor zu und klopft energisch. Die Krähe flattert auf, hackt mit raschen Schnabelstößen gegen das Tor.

Tock-tock-tock.

Ein zahnloser Wächter öffnet das Späher-Fenster. »Wer stört?«, fragt er mit harscher Stimme. Weicht vor der Krähe zurück, die nach seinem Gesicht hackt.

»Saragunde, die Heilerin. König Halamor und Prinzessin Mirianda erwarten mich«, antwortet das Weib so kraftvoll, dass der Torhüter suchend hinter sie sieht. Doch außer der Alten ist da niemand.

»Pfeif dein Federvieh zurück«, herrscht er sie an.

Als würde sie seinem Befehl gehorchen, landet die Krähe auf dem ausgestreckten Arm der Heilerin. Der Blick des Wächters wandert an der Gestalt des Weibes von unten nach oben. Mit einem Grinsen zieht er den Rotz aus der Nase hoch, zielt und spuckt direkt neben ihre staubigen Schuhe. Sie weicht nicht zurück, zuckt nicht einmal. Er schließt das Fenster. Mit einem rostigen Quietschen öffnet sich das Tor.

Ungeachtet ihrer äußerlichen Gebrechlichkeit wischt Saragunde mit flinken Fingern ihre Kleidung glatt und richtet sich zu stattlicher Größe auf. Der schwarze Umhang, vom Staub befreit, zeigt auserlesene verwobene Blütenmuster und Runen. Auf diesem Untergrund wirkt selbst die Krähe auf der Schulter der Heilerin majestätisch und edel.

Würdevoll tritt Saragunde einen Schritt auf den Wächter zu. Er weicht zurück, senkt den Blick. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Keine seiner Bewegungen entgeht ihr. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielt ihren Mund. Innerlich triumphiert sie, äußerlich wirkt sie kühl und bedrohlich. Trotz ihres stattlichen Alters und ungeachtet all ihrer Gebrechen beherrscht sie ihn noch immer, diesen äußerst nützlichen Blendzauber.

Ohne sie anzusehen, weist der Torhüter mit dem Arm Richtung Garten. Mit erhobenem Kopf und kraftvollen Gang läuft sie an ihm vorüber. Ihr Umhang streift ihn am Arm. Kalt. Ihn schaudert. Die Krähe lässt den Wächter nicht aus den Augen. Mit fünf Schritten ist Saragunde an ihm vorbei. Seine Schultern sinken entspannt nach unten und er atmet hörbar aus. »Hexe«, murmelt er.

Sie dreht sich nicht um. Ihr stummes Lachen wäre zu verräterisch. In jüngeren Jahren hätte sie ihn ob dieser Beleidigung in einen Stein verwandelt, heute aber haushaltet sie mit ihrer Energie. Sich über die Häme dieses Wichts zu ärgern und ihn zu erschrecken würde nur ihre Kräfte schmälern.

Geburtstagsmorgen

Sonnenstrahlen kitzeln in Miriandas Nase. Sie hüpft Stufe um Stufe die alten Treppen von der Terrasse hinab in den Garten. Der herbe Korianderduft vermengt mit dem betörenden Duft der Stockrosen, die Wärme der Sonne auf der Haut, all das verleiht ihr die Kraft, jeden Morgen in die Düsternis des Speisesaales einzutauchen. Dieser Saal, mit all den prunkverzierten Möbeln, dem Gold der Leuchter und dem kalten Marmorboden ist ihr zuwider. Am meisten aber hasst sie die Stille in diesem Raum. Was für ein Gegensatz zu dem Summen und Surren, all dem Lebendigen eines Gartens. Heute liegt eine heitere Ruhe über dem Schloss. Mit dem heutigen Tag ist Mirianda, Tochter des Königs Halamor von Wardistan, volljährig. Sie ist siebzehn Jahre alt. Erwachsen.

Vor der Tür zum Speisesaal stoppt sie. Fährt sich mit der Hand durch das lockige Haar, glättet, was sich glätten lässt. Sie zupft ihren Rock zurecht, nimmt Haltung ein und drückt die Tür auf. König Halamor steht mit dem Rücken zu ihr mitten im Raum. Die sorgfältig zurechtgelegten Vorstellungen von der Würde der künftigen Königin fallen von ihr ab. In kindlicher Vorfreude stürmt sie auf ihren Vater zu, der sich mit finsterer Miene zu ihr umdreht. Mit ausgestrecktem Arm hält er sie davon ab, ihn zu umarmen. Mirianda stoppt ihren Lauf. Um Atem ringend deutet sie einen Knicks an.

»Du bist spät!«, knurrt er, »Du weißt, wie ich es hasse, zu warten!«

Sie lächelt. Nein, ihr Halamor hat keine Mühe, seinem Gesicht einen Anschein von Groll zu geben. Mirianda verstört es nicht. Sie ist mit diesem Anblick aufgewachsen. Sie liebt diesen grimmigen alten Mann, der nur in ihren Augen ein alter Mann ist. Für sie ist er ihr Vater. Für alle anderen ist er der große Zauberer, der König von Wardistan. Ein Herrscher, der sein Land mit eiserner Faust und unbeugsamen Willen regiert. So munkeln es die Dienerinnen in den Fluren des Schlosses, nicht ahnend, dass die Königstochter sie belauscht.

Halamor setzt sich an die Tafel und sieht seine Tochter an.

»Guten Morgen Vater!« Sie spielt das Spiel der Erwachsenen, welches sie schon so oft übte. »Habt Ihr gut geruht?« Sie lächelt ihn an und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn.

Ein Hauch unterdrückter Freude erhellt sein Gesicht. »Mirianda!« Mit einem kraftvollen Ruck zieht Halamor sie auf seinen Schoß.

»Aber Vater!« Sie stemmt sich mit beiden Händen gegen seine Brust. »Ich bin kein Kind mehr! Ich bin jetzt eine Frau!« Kichernd schlingt sie ihre Arme um seinen Hals.

»Herzlichen Glückwunsch zum Siebzehnten«, flüstert er in ihr Ohr. Gibt ihr einen Kuss auf das Haar und reicht ihr einen mit Smaragden verzierten Armreif. »Ein würdiger Schmuck für eine Königstochter!«

Miriandas Finger streichen über die leuchtend grünen Steine und das kühle Silber. Sie umarmt Halamor erneut.

»Danke Vater«, sagt sie, steht auf und tritt vor das überlebensgroße Gemälde einer zartgliedrigen, kraftvollen und eindrucksvollen Frau mit symmetrischen Gesichtszügen. Das Bild, so vertraut wie die Möbelstücke im Saal. Allen Tand und Prunk würde sie eintauschen für das Abbild ihrer Mutter. Seit jeher hält sie Zwiesprache mit ihr. Diese gütigen Augen voll dunkler Sehnsucht. Oder ist es ihre eigene Sehnsucht, die sie darin erkennt? Mit jedem Jahr ähnelt sie diesem Bildnis mehr. Mirianda streicht zart mit den Fingerkuppen über das schmale Gesicht. In ihrer kindlichen Fantasie stellte sie sich vor, die Mutter würde nach Zimt und Koriander riechen, mit einem Hauch von Orange. »Ach wenn Sorana nur einmal mit mir sprechen könnte, mich umarmen, mir mit ihren schlanken Händen übers Haar streichen. Allen Schmuck aus deinen Schatzkammern würde ich geben für ein Wort von ihr, für eine Berührung.« Mirianda presst einen Kuss auf zwei ihrer Finger und drückt diese auf die vom Farbauftrag raue Wange der Mutter. »Alles was ich von ihr habe, ist dieses Bild. Warum redest du nicht mit mir über sie Vater?«

Halamor schweigt. Seine ohnehin dunklen Augen färben sich schwarz. »Sorana ist tot!«, antwortet er mit belegter Stimme. »Sie starb bei deiner Geburt. Dies wird für immer der Tag sein, an dem mir das Schönste genommen und das Beste geschenkt wurde.« Mit finsterer Miene starrt er das Gemälde an. »Es ist schlimm genug für mich, dass du ihr Jahr für Jahr ähnlicher wirst.«

Mirianda dreht sich zu Halamor um, sieht ihm in die Augen, seinen Blick mit dem ihren haltend. »Ich weiß Vater!« Ihre Stimme kippt ins Mädchenhafte. »Aber du weißt, wie weich ihre Haut war. Wie sie roch. Wie kennst den Klang ihrer Worte. Ich weiß nicht einmal, wie ihr euch kennengelernt habt?«, drängt es aus ihr heraus.

»Nicht!« Halamors Stimme duldet keinen Widerspruch. Abrupt dreht er sich zum Tisch. Mit einem Kopfnicken bedeutet er dem Pagen, dass er die Speisen auftragen möge.

Mirianda wischt sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht und setzt sich ebenfalls an den Tisch. Des Vaters Kühle verfliegt so schnell, wie sie gekommen war. Sanft legt er seine Hand auf die ihre. »Lass uns essen. Mit vollem Magen streitet es sich besser.«

Statt des üblichen Haferbreis stellt der Page Reis mit Mandelmilch und Zimt, Kirschen und Weißbrot auf den Tisch. Dazu Aalpastete und übel riechenden Käse, den der König an Festtagen bevorzugt. Neben der Pfannkuchen-Torte mit Spinat fehlt auch Miriandas Lieblingsgericht nicht, junge Bohnen in Milch gekocht. Statt eines Bechers Wasser steht ein nach Holunder und Geranie duftender Wein auf dem Tisch. Tochter und Vater sprechen ein Tischgebet. Sie lächeln einander zu und widmen sich schweigend den herrlichen Speisen.

Alles ist verzehrt, der Tisch ist abgeräumt. Mirianda schiebt ihren Stuhl zurück.

»Warte!«, bittet Halamor und sieht sie nachdenklich an. Er räuspert sich. »Ich habe dir einen Gast eingeladen.«

Miriandas Augen weiten sich vor Überraschung. Ihre Augenbraue zittert leicht.

»Es ist die Heilerin, die deiner Mutter bei deiner Geburt zur Seite stand.«

Mirianda springt mit einem spitzen Schrei von ihrem Stuhl auf. »Vater!« Auffordernd zieht sie ihn hoch, fällt ihm um den Hals. Von ihrem Ungestüm überfordert, erstarrt er in ihrer Umarmung.

»Wo?«, fragt sie, »Wo ist sie?«

Mit dem Kopf nickt er Richtung Garten. Mirianda reißt sich los von ihm. Rennt zur Tür. Stoppt, dreht sich noch einmal zu ihm um. »Danke, Vater. Danke!«

Halamor steht wie angewurzelt. Die Arme erhoben, wie in der Umarmung erstarrt. Jegliche Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen. All seine Kraft und Würde scheint von ihm abgefallen. Mit hängenden Schultern dreht er sich schwerfällig um und lässt sich auf seinen Stuhl fallen. Mit der Hand winkt er dem Pagen. »Mehr Wein!«, befiehlt er. »Mehr Wein!«

Soranas Vermächtnis

Mirianda eilt die Stufen in den Garten hinab. Beachtet weder die Rosen und wilden Orchideen noch den Sommerflieder. Ihr Blick fixiert die schwarz gekleidete Frau, die mit geschlossenen Augen vor dem herb nach Rosmarin und Salbei duftenden Kräuterbeet steht. Schwer atmend, mit vom Laufen geröteten Wangen, stoppt sie vor der Alten. »Willkommen!«, grüßt sie atemlos.

Die Heilerin öffnet die Augen. Mustert Mirianda mit durchdringendem Blick. Eine Energie silbrig, kalt und gleißend, bohrt sich in sie hinein. Tastet ihren Körper Faser für Faser ab. Verbindet sich mit der tief in Miriandas Seele schlummernden Kraft. Die feinen Härchen auf ihrer Haut stellen sich auf wie kleine Fühler. Wie aus weiter Ferne hört sie eine Melodie, fremd und doch vertraut. Ein längst in ihr wohnendes Wissen regt sich wie ein schlafendes Tier, kurz vor dem Erwachen. Ein tiefes Grollen steigt aus Miriandas Körper empor, löst sich auf in einem heftigen Rülpser. Beschämt senkt sie den Blick. Die Magie des Augenblicks verpufft. Die Betagte lacht leise. Mirianda stimmt befreit in das Lachen ein. »Herzlich Willkommen!«, wiederholt Mirianda ihre Begrüßung und reicht der Alten die Hand.

»Sei gegrüßt, Tochter der Sorana! Ich bin die Heilerin Saragunde, die Letzte vom Geschlecht der Merowinger, Vertraute deiner Mutter und Überbringerin ihrer Botschaft.« Mit diesen Worten deutet sie eine Verbeugung an, öffnet für einen Moment ihren Umhang. Ihr vom Leben gezeichnetes Gesicht leuchtet heller als tausend Kerzen und ihre gestrenge Miene wird weich. Erstaunt folgt Miriandas Blick dem ausgestreckten Arm der Heilerin, der gen Himmel weist. Ein kleines Loch in der Wolkendecke reißt auf. Ein Stück belebendes Blau wird sichtbar. Eine Farbe von einer Klarheit, wie sie das in der ewigen Dämmerung aufgewachsene Mädchen nie zuvor sah. Die Wolken ziehen schnell darüber, verschließen, was sich für einen kostbaren Augenblick zeigte. Mirianda steht da, mit geöffnetem Mund und starrt zum Himmel hinauf. Ein leises Krächzen lenkt ihre Aufmerksamkeit wieder zurück. Eine Krähe hockt auf der Schulter Saragundes, putzt mit spitzem Schnabel ihr glänzendes Gefieder.

 

Die Heilerin schließt ihren Umhang. »Gesegnet seiest du Mirianda, für jetzt und auf immer!« Mit diesen Worten fließt ein schimmerndes Nebellicht aus ihrem Mund, legt sich wie ein zartes Band um die Frauen.

Mirianda hört sich selbst antworten: »Gesegnet seiest du Saragunde, für jetzt und auf immer!«

Der silbrige Schleier wird mit jedem Atemzug durchlässiger. Legt sich wie ein lebendiger Stoff über ihre Haut und dringt in ihre Poren ein, löst sich in ihr auf. Voller Freude, leicht und im Wesen mit Saragunde verbunden atmet sie befreit auf.

Sie folgen dem von Frühlingssternen gesäumten Weg, bis zum mit Blumengirlanden festlich geschmückten Gartenpavillon. In der Ferne türmen sich dunkle Wolken, begleitet von einem dumpfen Grollen. Ein Schwarm der schwarz Gefiederten kreist über ihnen am Himmel. Die Vögel schlagen aufgeregt mit den Flügeln, krächzen in wildem Crescendo. Die Krähe auf Saragundes Schulter tippelt erregt hin und her. Die Heilerin greift sich das Tier, murmelt ein paar unverständliche Worte, küsst es auf den Schnabel. »Flieg mein Liebster. Flieg. Die Zeit ist nah!« Sie öffnet die Hände. Der Gefiederte schwebt noch einen Augenblick über ihren Köpfen, entfernt sich und verschwindet im Schwarm seiner lärmenden Artgenossen.

Die beiden Frauen setzen sich im Pavillon einander gegenüber auf die mit weichen Kissen bezogenen Hochstühle. Saragunde nickt Mirianda aufmunternd zu. Diese rutscht auf ihrem Stuhl nach vorn. »Bitte, erzähl mir von Sorana. Wie war meine Mutter? Habt ihr euch gut gekannt? Hat sie sich auf mich gefreut? War sie wirklich die Schönste aller Frauen, so wie Halamor es behauptet? Hast du…«

Mit einer abwehrenden Handbewegung stoppt Saragunde Miriandas Redeschwall. Sie gießt sich aus der Tonkaraffe ein wenig Wasser in den Glaskelch, nimmt einen Schluck. Richtet sich auf und atmet dreimal tief ein und aus. »Ich werde berichten, was ich zu berichten habe. Du aber darfst mich nicht unterbrechen. Ich spüre, ich habe nicht mehr viel Zeit. Die Ahnen kreisen über unseren Köpfen, auch sie spüren es. Was ich dir zu sagen habe, wird deine Welt, dein Leben verändern. Ich habe es deiner Mutter auf dem Sterbebett versprochen. Ich muss dir alles erzählen, damit ich in Ruhe sterben kann. Wirst du mich reden lassen, ohne mich zu unterbrechen?«, fragt sie und sucht Miriandas Blick.

Deren Wangen sind gerötet, ununterbrochen knetet sie ihre Hände. Sie schluckt heftig, nickt zustimmend.

»Du tust gut daran«, seufzt Saragunde. »Ich verspreche dir, so lange ein Hauch Leben in mir ist, werde ich dir berichten.« Noch einmal schickt sie einen Blick gen Himmel. Beobachtet die über ihnen krakeelenden Tiere. Schüttelt den Kopf, lacht auf, versinkt für einen Augenblick in das Zwiegespräch mit den Gefiederten. Die Krähen durchbrechen ihren Kreis und verteilen sich auf den Zweigen der umstehenden Bäume. Saragunde lächelt zufrieden. Sie wendet sich Mirianda zu und erzählt.

Lange vor deiner Geburt bat Amarun, der einstige König Wardistans, den Zauberer Halamor, ihm zu helfen. Obwohl der König aufgrund vergangener Kriege die Magie so sehr fürchtete, dass er sein Land der Kirche und der heiligen Inquisition unterstellte, sah er nirgendwo einen anderen Ausweg. Weil alle Gebete zu Gott ihm und seinen Untertanen nicht halfen, blieb die Schwarze Kunst Halamors seine letzte Hoffnung. Seit Monden hatte die Erde keinen Regen gesehen. Die Flüsse trockneten aus, das Land verdorrte und das gemeine Volk litt unter der Dürre. König Amarun bot dem Zauberer, zur Abgeltung seiner Dienste, unbegrenzten Zutritt zur Bibliothek der geheimen Bücher. Die meisten der nicht Magiebegabten jener Zeit fürchteten deren Macht. Die Menschen unterschieden nicht mehr zwischen heller und dunkler Magie und so sperrten sie jedes Zauberbuch weg, dessen sie habhaft wurden. Dieses gesammelte, uralte Wissen lagerte bewacht und gesichert in den Katakomben unterhalb des Königsschlosses.

Halamor entstammte einer Nebenlinie des Herrschergeblüts. Von Kindesbeinen an lebte der arme Anverwandte am Hof des Königs.

Amarun nahm ihn auf, gewährte ihm dieselbe Bildung, die er seinem Sohn zukommen ließ. Trotz des Wissens, dass in den Adern des Zöglings eine machtvolle Magie heranwuchs, vertraute er ihm und stellte er ihn unter seinen persönlichen Schutz.

Doch der Junge dankte es ihm nicht. Er neidete dem Königssohn die Königswürde. Trachtete insgeheim nach dem, was ihm qua Geburt nicht zustand. In seinen frühen Jahren schon beschloss Halamor, der Mächtigste aller irdischen Zauberer zu werden. Er verbarg diesen Wunsch lange tief in sich. Er war sich gewiss, seine Zeit würde kommen. Die Bitte des Amaruns war für ihn wie ein Fingerzeig Gottes. Halamor versprach, dem verzweifelten Herrscher zu helfen. Weil seine Magie für so eine große Aufgabe nicht ausgeprägt sei, erbat er sofortigen Zugang zur Bibliothek der geheimen Bücher. Der König, in seiner Not und im Vertrauen auf Halamors Ergebenheit, gewährte ihm diesen Wunsch unter der Bedingung, dass der am Königshof weilende Großinquisitor Haradan, jeden von Halamors Schritten begleite. Der junge Zauberer willigte ein.

Mithilfe eines Denkzaubers lernte er schnell. Er las die Seite eines Buches nur flüchtig und schon war das Wissen in seinem Kopf gespeichert.

In den langen Tagen und Nächten, die sie in den Katakomben mit dem Studium der Bücher verbrachten, erkannten der Halamor und der Haradan ihre Seelenverwandtschaft. Der Inquisitor, ein von Neid zerfressener Priester, über keinerlei Magie verfügend, verschrieb sich der Ausrottung alles Magischen und sicherte sich dafür den Segen von Papst und König. Das Streben nach irdischer Macht bildete den teuflischen Nährboden ihres Bündnisses.

Nur wenige Wochen später vollführten die beiden in Anwesenheit von König Amaruns und dessen Gefolge das Ritual der Wetterwende. Seiner jugendlichen Aufregung geschuldet verwechselte der Zauberer die Kräuter für das Verbrennungsopfer. Es gelang ihm, an jenem Tag den Regen herbeizurufen, die Wolkendecke über Wardistan blieb bis heute verschlossen. Den Dauerregen besänftigte Halamor, die ewige Dämmerung wurde im Lauf der Jahre zum Wahrzeichen seiner Macht. Amarun zeigte sich anfangs dankbar. Er schenkte dem Jungen Ländereien und dauerhaft unbegrenzten Zugang zu den Büchern. Mit der Zeit aber, aufgrund des fehlenden Sonnenlichts, kamen ihm Zweifel an der Redlichkeit Halamors. Lange gelang es Haradan, die Vorbehalte des Königs zu besänftigen.

Im fünften Jahr der Dämmerung bezichtigte Amarun den Zauberer frevelhafter Absichten. In einem Anflug höchster Wut und mit dem Ausbrechen dunkelster Magie tötete der Zögling König Amarun und all seine Anverwandten. Der Beauftragte des Papstes, Inquisitor Haradan, krönte kurze Zeit später den Zauberer Halamor zum rechtmäßigen Herrscher. Doch das Land war wegen der langen Dürre und des fehlenden Sonnenlichts verarmt. Nichts wuchs auf den einst üppigen Feldern. Alle Vorräte waren verbraucht. Aus den Menschen ließen sich keine Schätze pressen. So rüstete König Halamor seine Truppen und brachte, weit über die Grenzen von Wardistan hinaus, Angst und Schrecken in die Welt. Er brandschatzte in der Grenzregion, raubte die schönsten Frauen. Im anhaltenden Dämmerlicht verloren sie alle ihre Schönheit und nicht wenige von ihnen das Leben. Keine gebar ihm ein Kind. Der mächtigste Zauberer der Welt verfügte dank seiner Raubzüge über großen Reichtum. Kein Sprössling zierte seinen Hof. Ein Herrscher ohne Thronfolger ist wie ein König ohne Land.

Mirianda rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, doch bei Saragundes den letzten Worten hält sie es nicht auf ihrem Platz. Sie springt mit zornesrotem Kopf auf »So dankst du ihm seine Güte? Er hat dich hierher zu mir gebracht!«

»Schweig!«, ruft die Heilerin mit rasselnder Stimme. Sie wirft ihren Umhang von den Schultern und hebt die Arme gen Himmel. Sie wächst in die Höhe. Alles Schwache und Kranke fällt von ihr ab. Vor Mirianda steht eine hochgewachsene Frau, die langen weißen Haare flattern im Wind, Flügeln gleich. Die Krähen um sie herum krächzen und trippeln aufgeregt auf ihren Plätzen. Saragundes linker Arm kreist zweimal langsam durch Luft, dann fällt er wie ein Stein zurück. Die geballte Faust landet in der geöffneten rechten Hand. Die Krähen verstummen, alles verstummt. Kein Vogelgezwitscher, kein Bienensummen, kein Käferbrummen. Für einen Augenblick steht die Welt still.

Miriandas Mund öffnet sich, ob der merklichen Wandlung der Heilerin, doch nicht ein Laut ist zu hören. Saragundes Haut schimmert sanft in den Farben des Regenbogens. Das helle Leuchten umschließt Mirianda, besänftigt ihren Zorn.

»Setz dich und lausche!«, fordert Saragunde mit weicher Stimme. Diese greift Halt suchend hinter sich, lässt sich auf den Stuhl fallen. Die Heilerin löst eine zartgliedrige Kette mit einem blau schimmernden Anhänger von ihrem Hals. Ein einflügliger Drache mit einem Rubinauge. Im weit geöffneten Maul trägt er ein Zepter aus feurig roter Koralle. »Dies ist deine Hälfte des Amuletts deiner Mutter. Sie gab es mir, damit ich es für dich bewahre. Möge es dich auf deinem Weg begleiten, dich mit seiner Macht schützen und dich in finsteren Zeiten lehren, das Richtige zu tun.«

Zittrig greift Mirianda nach dem Drachenamulett. Das Erbe Soranas. Zum ersten Mal berührt ihre Haut etwas, was der Mutter gehörte. Ein wildes Feuer durchströmt ihren Körper. Sie hält den Atem an. Folgt dem Impuls, die Kette von sich zu werfen, doch Saragunde umschließt Miriandas Hand mit ihren Fingern. »Nicht!«, sagt sie. »Das Amulett will dich kennenlernen. Du spürst die Energie deiner Ahnen, sie erkunden dich, Pore für Pore. Sie sind dir wohlgesonnen.«