Luther – Steckbrief eines Überzeugungstäters

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Luther – Steckbrief eines Überzeugungstäters
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Christoph Türcke

Luther –

Steckbrief eines Überzeugungstäters


Dieser Text ist ein Essay; deshalb seine essayistische Zitierweise.

Sie ist durchaus auf genaue Nachweise bedacht, aber weder auf einheitliche Gesamtausgaben, die der Leser ohnehin selten zur Hand hat, noch auf die originale Schreibweise der Reformationszeit.

© 2016 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Hildendesign · München · www.hildendesign.de

Umschlagmotiv: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von shutterstock.com, u. a. Martin Luther (1483–1546).

Engraved by C. E. Wagstaff and published in The Gallery Of Portraits

With Memoirs encyclopedia, United Kingdom, 1833

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-86674-490-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Die »Wegbereiter«

Der Teufel

Die via moderna

Der Durchbruch

Der Ablaß

Das Management des Hochgefühls

Der innere und der äußere Mensch

Die zwei Reiche

Die Bauern

Der liebe Sohn – der ungezogene Sohn

Juden und Hexen

Der Überzeugungstäter

Dank

Der Autor

Christoph Türcke bei zu Klampen

Fußnoten

Vorwort

Das Mittelalter: das war jene lange Zeit vom achten bis zum fünfzehnten Jahrhundert, in der sich das Christentum in skandalöser Weise von seinem Ursprung entfernt hatte. Die biblischen Schriften waren von kirchlichen Verordnungen und Heiligenlegenden überwuchert worden; der Glaube an die rettende Heilstat Christi vom Glauben an die wundertätigen Wirkungen der Heiligen und ihrer sterblichen Überreste sowie an die Gottgefälligkeit großer Kirchenbauten, die sich stets über Heiligenreliquien wölbten. Je mehr Prachtkirchen emporwuchsen, desto mehr mutierten ihre Bauherren, die Kirchenfürsten, zu weltlichen Herrschern – und die niederen Kleriker zu Gesinnungswächtern. Sie zitierten die Christen einzeln in den Beichtstuhl, nötigten sie, alle Seelenfalten offenzulegen, alle Verfehlungen in Gedanke, Wort und Tat zu gestehen, und verhängten nach einem detailliert gestaffelten Strafregister empfindliche Bußstrafen der Selbstdemütigung, der Entbehrung, der Wallfahrt – oder entsprechende Geldzahlungen. Die Konvertierbarkeit von Bußstrafen in Sachleistungen war zu einer erheblichen kirchlichen Einnahmequelle geworden. Der Ablaßhandel blühte. Und dann kam eines Tages derjenige, der dieses Gespinst aus Aberglaube, Magie und Geschäftstüchtigkeit mit einem einfachen Satz zerriß. »Als unser Gott und Herr Jesus Christus sagte: Tut Buße usw., da wollte er, daß das ganze Leben der Gläubigen eine Buße sei«.1 So lautet die erste der 95 Thesen, die Martin Luther am 31. Oktober 1517, am Tag vor Allerheiligen, an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg schlug. Mit diesen Hammerschlägen begann eine neue Epoche. Der Schacher ums Seelenheil verlor seinen Kredit. In Glaubensdingen sollte niemand mehr einem Klerus verantwortlich sein, jeder nur noch dem eigenen Gewissen. Das war der Durchbruch zur Gewissens-, Denk- und Redefreiheit. Sie darf als das Wahrzeichen der europäischen Neuzeit gelten und ist als ihr höchstes Gut zu bewahren und verteidigen.

So weit die Grundzüge der Reformationslegende. Erstaunlich, wie wenig die zahllosen wissenschaftlichen Untersuchungen, die die Reformation inzwischen durchleuchtet haben, diese Legende zu entkräften vermochten. Es ist damit ähnlich wie mit Jesu Geburt. Daß sie nicht in Bethlehem stattfand, ist allen ernst zu nehmenden Historikern klar. Aber alle Weihnachten wieder reden Politiker und Nachrichtensprecher weltweit von den Feierlichkeiten in der Bethlehemer »Geburtskirche«. Kaum minder aufklärungsresistent ist die Reformationslegende. Das Geringste sind noch die symbolträchtigen Hammerschläge. Daß Luther seine Thesen an der Tür der Wittenberger Schloßkirche »angeschlagen« habe, hat Philipp Melanchthon, der 1517 noch gar nicht in Wittenberg war, erst nach Luthers Tod behauptet. Wenig spricht dafür. Leim läßt Papier an Kirchentüren entschieden besser haften als Nägel. Gut möglich, daß Luther seine Thesen an die Kirchentüren Wittenbergs kleben ließ; wir wissen es nicht. Viel wichtiger und unbestritten ist, daß sie gedruckt und gezielt an Multiplikatoren versandt wurden. Nur so erregten sie in kürzester Zeit landesweit jenes überwältigende Aufsehen, das ihren Autor mit fortriß und an eine höhere Fügung glauben ließ. Aber nach wie vor bekommen die Touristen in Wittenberg die Schloßkirchentür als Ort des »Anschlags« vorgeführt, der die Welt bewegte.

Und wie im Kleinen, so im Großen. Daß das christliche Abendland lange vor Luther von tiefen Glaubwürdigkeits- und Glaubenskrisen geschüttelt wurde, ist allgemein bekannt. Und doch ist es immer wieder er, auf den sich der Lichtkegel der Aufmerksamkeit richtet, als sei es die Kraft seiner Glaubensinbrunst und Predigt gewesen, die das Mittelalter einstürzen ließ. Ist es Zufall, daß diese Legende just zu der Zeit, als der sogenannte Realsozialismus zusammenbrach, im Ursprungsland der Reformation neuen Auftrieb bekam? Die DDR hatte Luther das Etikett »Fürstenknecht« aufgedrückt. Die deutsche Wiedervereinigung bescherte den Stätten seiner Geburt und seines Wirkens alsbald den Ehrentitel »Lutherstadt«. Dies Wort gehört seither zum Ortsnamen, es steht mit auf dem Orts- oder Bahnhofsschild. Zwar darf heute jeder auch die unschönen Seiten des Reformators hervorheben: seine persönlichen und theologischen Grobheiten gegenüber Freunden und Feinden, seine Aufforderung zu unbedingtem Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit, zur Niederschlagung des Bauernaufstands, zur Vertreibung der Juden. Doch was macht das schon? Das Unschöne an Luther hat in der öffentlichen Wahrnehmung ein gleichsam katholisches Ansehen gewonnen. Es firmiert unter »läßlichen Sünden«, die zwar nicht zu verteidigen sind, aber die Person »menschlicher« erscheinen lassen: als Kind ihrer Zeit. Sie fungieren als der Schatten, von dem sich Luthers theologische Kernbotschaft um so leuchtender abhebt. Letztere wird inzwischen selbst vom Katholizismus als epochaler Durchbruch bewertet. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die katholische Kirche und lutherischer Weltbund 1999 verabschiedeten, bekennt im Artikel 3.17: »Gemeinsam sind wir der Überzeugung, daß die Botschaft von der Rechtfertigung uns in besonderer Weise auf die Mitte des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Christus verweist: Sie sagt uns, daß wir Sünder unser neues Leben allein der vergebenden und neuschaffenden Barmherzigkeit Gottes verdanken, die wir uns nur schenken lassen und im Glauben empfangen, aber nie – in welcher Form auch immer verdienen können.«

Lutherischer geht es kaum. Die Krönung ist das Lutherjahr. Die runden Geburtstage Luthers und seiner 95 Thesen feierte man zwar auch früher schon. Nun aber steht ein ganzes Jubiläumsjahr auf dem Programm. Wer erinnert sich noch, daß das ein genuin katholischer Brauch ist? Papst Bonifaz VIII. führte ihn im Jahr 1300 ein. In jedem ersten Jahr eines neuen Jahrhunderts sollte jedem Pilger in die heilige Stadt ein großzügiger Ablaß zuteil werden. Ein Pilgerfest neuen Ausmaßes entstand. Der Kurie tat sich eine weitere Einnahmequelle auf. Mehr als sechs Jahrhunderte hielt sich das Jubiläumsjahr. Nun, nachdem es die katholische Kirche im 20. Jahrhundert kleinlaut aufgegeben hat, fängt die lutherische im 21. damit an. Ein ganzes Jahr für Luthers Großtat. Zwar verschafft die Teilnahme an diesem Jubiläumsjahr keinem Lutheraner einen Ablaß, wohl aber dem Reformator selbst. Ein Jahr lang soll er als eine der großen Figuren der westlichen Kultur in allen Medien präsent sein.

 

Im Zeitalter der Mikroelektronik kann niemand wirkungsvoller gefeiert werden als durch eine solche Art von Präsenz. Sie gewinnt den Charakter einer neoprotestantischen Heiligsprechung – selbstverständlich einer informellen, sozusagen durch massenmediale Akklamation. Man braucht dazu nicht, wie das katholische Heiligsprechungsverfahren, eine Glaubensbehörde, die die Biographie des Kandidaten einer genauen Prüfung unterzieht, seine Verfehlungen als läßliche Sünden verbucht, seine Verdienste würdigt und seine wundertätige Wirkung hervorkehrt. Dies alles leistet das Jubiläumsjahr durch seine Eigendynamik als Event. Auch kritische Töne sind dabei willkommen. Sie fügen sich wie kontrapunktische Stimmen in einen großen Lobgesang ein. »Ist es dann nicht ein Affront gegen die ökumenischen Bemühungen, das Reformationsjubiläum und damit die Kirchenspaltung von 1517 so groß zu feiern?« fragte der Spiegel die »Botschafterin« für das Jubiläum, Margot Käßmann. Nein, war die Antwort. »Tschechien, wo Jan Hus 100 Jahre vor Luther gewirkt hat, und die Schweiz, wo Zwingli und Calvin ihre Wurzeln haben, beteiligen sich, ebenso wie die römischen Katholiken eingeladen sind, mitzuwirken.«2 Damit letztere aber nicht am Katzentisch landen, haben sie vorgebeugt und eine Sondergala für sich ausgehandelt. Der Papst wird sich am Reformationstag 2016 mit dem lutherischen Weltbund in dessen Gründungsstadt, dem schwedischen Lund, zum gemeinsamen Gebet treffen. Er umgeht damit ebenso eine gemeinsame Eucharistie wie eine Wallfahrt nach Wittenberg. Die Kirche bleibt im Dorf.

Gleichwohl ist ein ökumenisches Crossover in Gang gekommen. Während der Katholizismus sich zur Rechtfertigung allein aus Glauben bekennt, probt der Protestantismus die mikroelektronisch gestützte Heiligsprechung. Schwerlich aus gesteigerter Glaubensinbrunst, eher aus einer spezifischen Mangelerfahrung heraus. Wo gibt es in unserer demokratischen, pluralistischen, relativistischen Ära noch Menschen, die allein mit der Kraft ihrer Überzeugung die Mächtigen der Welt herausfordern und ihnen standhalten? Weltweit regt sich eine tiefe Sehnsucht nach Überzeugungstätern. Das sind Menschen, die so fest an etwas glauben, daß sie das Äußerste dafür wagen, sei es, daß sie, wie Luther, in Erwartung von Reichsacht und Kirchenbann dennoch ihre Lehre vor Kaiser und Reich verteidigen; sei es, daß sie, wie Edward Snowden, lieber lebenslange Verfolgung durch eine Supermacht in Kauf nehmen als deren Überwachungspraktiken geheim zu halten; sei es, daß sie, wie Mohammed Atta, sich einer Ingenieursausbildung in Feindesland unterziehen und eigens einen Pilotenschein machen, um ein Flugzeug ins symbolträchtigste Gebäude einer als korrupt und sinnentleert erachteten Kultur zu steuern. Bei ihren Feinden heißen solche Leute Verbrecher oder Terroristen. Ihre Freunde und Anhänger verehren sie als Glaubenszeugen. Das griechische Fachwort dafür ist Märtyrer.

In gewisser Weise ist das Lutherjahr auch ein modernes Märtyrerfest – ein Gegenprogramm gegen die diabolische Versuchung, die von islamistischen Djihadisten und Selbstmordattentätern auf die westliche Welt ausgeht. Deren Todeskommandos lösen ja im Westen nicht nur Furcht und Schrecken aus. Ungefestigten, desorientierten, suchenden Mitteleuropäern und Nordamerikanern signalisieren sie: Wir haben, was eure Lebensweise euch vorenthält. Unsere rückhaltlose Hingabe an eine höhere Macht gibt unserm Leben Sinn und Halt. Sie befreit uns von jener seichten, prinzipien- und ziellosen Existenz, an der ihr laboriert. Schließt euch uns an! Dagegen läßt sich Luther wunderbar als Bollwerk aufbauen: als knorriger Ahnherr der recht verstandenen westlichen Lebensweise, die keineswegs seicht ist, sondern überhaupt nur durch ein tiefes Glaubens- und Gewissenszeugnis eröffnet werden konnte. Luther firmiert hier als Märtyrer der ganz anderen Art. Er mußte sein Glaubenszeugnis nicht mit dem Leben bezahlen. Sein Martyrium wurde zu einer Erfolgsstory sondergleichen. Seine Schriften fanden reißenden Absatz. Sein Landesfürst stützte ihn. Andere folgten. Eine Allianz von Fürsten und Städten sagte sich von der Oberhoheit Roms los und regelte das Verhältnis von Staat und Kirche nach Luthers Vorgaben. Eine ungemein folgenreiche Neuordnung der politischen Landschaft begann, ohne daß Luther selbst je ein politisches Amt bekleidet hätte. Dies alles schwingt mit in der Formel vom »reformatorischen Durchbruch«. Sie suggeriert, daß der Durchbruch des Mönchs Martin zu seiner persönlichen Glaubensgewißheit zugleich der Durchbruch zu jener neuen Epoche war, die wir im Rückblick »Neuzeit« nennen und deren Lebensweise von Europa aus in allen Kontinenten einen überwältigenden Siegeszug angetreten hat. Wie wenig dieser Sieg zu ungetrübter Freude Anlaß gibt; wie sehr die Originalität von Luthers »Durchbruch« überschätzt wird, wie archaisch seine Modernität ist, wie gnadenlos der Unterbau seiner Gnadenlehre: davon geben die folgenden Seiten eine Skizze.

Die »Wegbereiter«

Mittelalter, Renaissance, Neuzeit: diese Begriffe sind erst im 19. Jahrhundert zu historischen Orientierungsmarken geworden. Luther und seinen Zeitgenossen waren sie unbekannt. Sie hätten nichts damit anfangen können. Sie fühlten sich einer großen christlichen Gesellschaft zugehörig, die sie als ebenso alternativlos erlebten wie im Zerfall begriffen. Von klein auf waren sie in christliche Riten und Vorstellungen eingeübt worden, die als Grundmuster ihrer gesamten Weltwahrnehmung fungierten. Um so bedrückender, daß ihre soziale Umgebung so schlecht in diese Muster paßte. Ständig gab es irgendwo Streit zwischen christlichen Fürsten, zwischen weltlicher und geistlicher Macht, zwischen verschiedenen Auffassungen der christlichen Lehre. Schließlich spaltete sich im Jahr 1378 sogar die oberste christliche Instanz. Päpste und Gegenpäpste bekämpften einander mit Worten und Waffen. Und doch blieb der Streit innerhalb des christlichen Paradigmas. Man wußte nichts Besseres als christliche Konzilien, um ihn zu schlichten. Einige davon endeten erfolglos. Erst dem Konzil, das 1414 nach Konstanz einberufen wurde, gelang es, drei amtierende Päpste durch einen neuen zu ersetzen. Die Wiedervereinigung der Kirche unter seiner Oberhoheit wurde feierlich besiegelt durch die bestialische Verbrennung des Führers einer kirchlichen Oppositionsbewegung, der ersten, die nationale Züge trug – böhmische.

Die Rede ist von Jan Hus. Er mißtraute dem neuen Papst nicht minder als seinen Vorgängern und wollte sich lediglich vom »Gesetz Christi« leiten lassen, das er allein in der Bibel niedergelegt wähnte. Dort stand nichts davon, daß die Hirten der christlichen Gemeinde in Saus und Braus leben, hohe Abgaben einziehen, Kreuzzüge anzetteln und prunkvolle Kirchen und Paläste errichten sollten, und auch nichts davon, den Gläubigen beim Abendmahl den Wein vorzuenthalten. Das Grundübel der Christenheit sah Hus in einer skandalösen Selbstüberhebung des Klerus, besonders der Kurie. 1412, als eine hanebüchene päpstliche Bulle, die zur Vernichtung des Königs von Neapel aufrief und ein paar junge Leute, die dagegen protestierten, auf dem Scheiterhaufen enden ließ, hatte er seiner Gemeinde auf tschechisch zugerufen: »Christus befahl Petrus, daß er einen sündhaften Menschen wie einen Heiden und Zöllner meide […], aber er befahl ihm nicht, ihn zu foltern und zu morden. Unsere Päpste und Nachfolger Petri aber haben sich zu Henkern und Scharfrichtern ausgebildet und aufgeschwungen; einen treuen Christen heißen sie einen Ketzer und verbrennen ihn auf dem Scheiterhaufen. O Herr Jesu Christ, bleibe bei uns für Zeit und Ewigkeit!«3

Mit solchen Predigtworten brachte sich Hus in eine Lebensgefahr, die bis zu seinem eigenen Tod auf dem Scheiterhaufen nicht mehr aufhören sollte. Seine Worte waren kühn, aber seine Gedanken nicht neu. Seit im 11. Jahrhundert der große Kirchenbau begonnen hatte und der Klerus in der Erfindung von Abgaben und Ablässen, die ihn finanzieren sollten, höchst kreativ geworden war, hatte es immer wieder kleine Gruppen gegeben, die lieber so arm sein wollten, wie das Neue Testament Jesus und seine Jünger schilderte, als den Trend der Kirche zu Prunk und weltlicher Macht mitzumachen. Sobald sie allerdings »apostolische Armut« als die einzig angemessene christliche Lebensweise predigten (und nicht nur, wie Franziskaner und Dominikaner, als eine mönchische Option), wurden sie gnadenlos verfolgt. Schon Mitte des 12. Jahrhunderts wurden die Armutsbewegungen von Köln und Périgueux so gründlich aufgerieben, daß sich nicht einmal die Erinnerung an einen Namen aus ihren Reihen erhalten hat. Die Waldenser gehörten schon zur zweiten Generation der Verfolgten. Wer sich zu ihnen und später zu den Spiritualen (einer Abspaltung von den Franziskanern) hielt, die sich demonstrativ die Armut Jesu zum Vorbild nahmen, der wußte: Er riskierte sein Leben. Und als das Papsttum mit seiner Übersiedlung von Rom nach Avignon in seine korrupteste Phase trat und die Schmach, aus der heiligen Stadt in die französische Provinz versetzt worden zu sein, durch Prunk und ein erpresserisches Ämterversteigerungssystem kompensierte, nahm am nordwestlichen Ende des Abendlands, in Britannien, die Empörung darüber politische Formen an. Das »Gute Parlament« erklärte 1376 die päpstlichen Maßnahmen für widerchristlich. England war der Kurie nicht nur geographisch fern. Es war auch der Hauptfeind Frankreichs, der Schutzmacht des Avignon-Papsttums. In England atmete der Klerus einen weit schärferen Gegenwind weltlicher Mächte als auf dem Kontinent. Und pünktlich im Jahr 1378, als das »Schisma«, die Spaltung der Kirche unter mehrere Päpste, begann, gewann auch die Lehre des Engländers John Wyclif ihre signifikante Schärfe: die Konturen einer ersten protestantischen Theologie.

»Als Fundament des Glaubens nahm ich, daß Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, und diesem Fundament fügte ich zweitens alle seine Taten und Worte, wie sie im Evangelium und anderswo aufgezeichnet sind, bei. Und drittens nahm ich hinzu, daß alle jene Berichte oder Taten der Unterweisung der irdischen Kirche dienen sollen.« Kaum in Jerusalem angekommen, ging Christus »sogleich zum Tempel und reinigte ihn zu allererst von den üppig wuchernden Mißständen, die infolge der Habsucht der Priester entstanden waren. Da also ›alle Taten Christi unsere Unterweisung sind‹, müssen wir desgleichen tun. In diesem Falle legte ich die Armut Christi zugrunde, wonach der Herr der Welt« »zum Vorbild für seine Kirche und insbesondere für die Oberen des Klerus eindeutig im höchsten Maße arm gewesen ist.«4 »Und hieraus schließe ich, daß jeder Gläubige dem Papst oder einem Heiligen nur insoweit nachfolgen darf, als dieser seinerseits dem Herrn Jesus Christus Nachfolge geleistet hat.«5 »So soll sich also sein Stellvertreter nicht schämen, in der Kirche zu dienen, da er der Diener Christi ist oder sein soll. Denn die Abweichung von der Redeweise der Heiligen Schrift und der Hochmut weltlicher Herrschaft samt seinem aufreizenden weltlichen Stil scheint mir die Blasphemie und die Überheblichkeit des Antichrists anzubahnen«.6 »Die Jünger Christi haben keine Vollmacht, durch Kirchenstrafen auf dem Wege staatlicher Zwangsvollstreckung Steuern einzutreiben.« (271) Und wenn sie es dennoch tun? Dann muß die weltliche Macht einschreiten. Deshalb wendete sich Wyclif ans englische Parlament: »Wenn Gott ist, so können die weltlichen Herren mit Recht und Verdienst der Kirche, wenn sie sich vergangen hat, die irdischen Güter wegnehmen.« (267)

Darauf brach ein Sturm der Entrüstung im englischen Klerus los. Solche Töne hatte noch niemand gewagt. Nur weil Wyclif den Schutz eines mächtigen Herzogs genoß, konnte er sein Schreiben an das englische Parlament überleben und seine Lehre sogar noch zuspitzen. Da »das Wort ›Papst‹ ein Begriff ist, der sich innerhalb des Zeugnisses der Schrift nicht findet«, so wäre es »für die Kirche heilsam, wenn es keinen Papst oder Kardinäle gäbe, denn der Bischof der Seelen, der Herr Jesus Christus, samt seinen treuen Knechten, würde ohne einen solchen Papst und die übrigen Prälaten die Kirche auf Erden viel besser regieren.«7 Priester sollten »weder ihre Gebete verkaufen noch weltliche Händler werden noch sich mit Wucher oder anderen verbotenen Geschäften abgeben. Mein Wunsch wäre es indessen, daß sie sich der Predigt oder einer Handarbeit wie dem Schreiben oder einer anderen körperlichen Arbeit widmen« (282), wie es Paulus tat, der sich als »Zeltmacher« (283) verdingte. Er war »einst ein Pharisäer, verließ diese Sekte in weiser Voraussicht aus freien Stücken um der Gefolgschaft Christi willen. Warum müssen die Priester nicht heute ebenso handeln? Daher müssen die Mönche, gleichgültig welcher Sekte oder Regel oder welchem Eid sie verbunden sind«, »aus freiem Entschluß diese Bindungen verlassen und aus freiem Entschluß in die Gefolgschaft Christi eintreten.« (285 f.)

 

Wie viel reformatorische Substanz steckt doch in diesen wenigen Worten! Da ist die Feststellung, daß das Papsttum nicht nur antichristlich mißbraucht wird, sondern als Institution überhaupt nicht biblisch fundiert ist; da ist die Kritik am Ablaßwesen; die Erklärung des Mönchtums als Fehlweg; die Rückbesinnung aufs Evangelium als einzige verbindliche christliche Richtschnur; der Notruf an die weltliche Macht (interessanterweise ans Parlament, nicht an den König) als die einzige Instanz, die noch übrig ist, um die geistliche Macht in die Schranken zu weisen und zum apostolischen Dienst zurückzuführen. Hinzu kommt, daß Wyclif die erste Übersetzung der lateinischen Bibel in eine europäische Volkssprache auf den Weg brachte. Das Neue Testament begann er allein ins Englische zu übertragen, das Alte nahm er sich gemeinsam mit einem Mitarbeiter vor. Die Übersetzung blieb unvollendet und gelangte nicht in Umlauf. Doch die Idee, daß das Volk unabhängig vom Klerus in seiner Sprache direkten Zugang zum Evangelium haben sollte, wurde populär – wie Wyclifs Lehre insgesamt. Besonderen Zuspruch fand sie beim niederen Klerus, den »Lollarden«, die ihrerseits den englischen Bauernaufstand von 1381 förderten. Der hohe Klerus machte Wyclif für diesen Aufstand verantwortlich, verhörte ihn und verbot ihm seine Lehrtätigkeit in Oxford. Aber er wagte ihn nicht zu exkommunizieren.

Das tat erst das Konzil zu Konstanz, gut dreißig Jahre nach Wyclifs Tod. Der Papst, der Hus verbrennen ließ, ließ auch Wyclifs Gebeine exhumieren, verbrennen und verstreuen. Aber zu Lebzeiten kam Wyclif unerhört glimpflich davon. Seine Gedanken gärten freilich auch nach seinem Tod weiter. Unerwarteten Auftrieb bekamen sie durch eine Königshochzeit. Karl IV., der Prag 1344 zur Kaiserresidenz und 1348 zur Universitätsstadt gemacht hatte und Böhmen als Zentrum seines Reichs, sozusagen als kontinentales Widerlager zur Kurie in Avignon auszubauen trachtete, verheiratete seine Tochter Anna mit dem englischen König Richard II. Diese Heirat sollte das antipäpstliche und antifranzösische Bündnis zweier Achsenmächte stärken. Sie setzte aber auch einen bemerkenswert regen Studentenaustausch zwischen Prag und Oxford in Gang. Es blieb nicht aus, daß einige Prager Scholaren bei ihrer Rückkehr aus Oxford Wyclifs Lehre mitbrachten. Sie fand in Prag einen überaus fruchtbaren Boden. Böhmen gewährte länger schon versprengten Waldensern und Spiritualen Zuflucht, wie es auch Volkspredigern Raum gab, die zu Buße und Armut aufriefen. Einer von ihnen, Konrad Waldhauser, war sogar Beichtvater Karls IV. geworden. In dieser Umgebung war man für Wyclifs Gedanken ungemein empfänglich. Hus flog geradezu auf sie. »Mich ziehen seine Schriften an, durch die er alle Menschen zum Gesetz Christi zurückzuführen sucht, besonders die Geistlichen, daß sie die Pracht und Herrschaft der Welt fahren lassen und mit den Aposteln leben«. »Es zieht mich an die Liebe, die er zum Gesetz Christi hat, indem er dessen Wahrheit behauptet, daß es auch nicht in dem geringsten Punkt falsch sein könne.« Nur den Laienkelch8 hatte Wyclif noch nicht ausdrücklich verlangt. In diesem Punkt ging Hus weiter als er. Alles andere, worauf Hus bis zum Feuertod beharrte, kommt bei Wyclif bereits vor.

Hus war ein bewundernswert standhafter, aber kein besonders origineller Geist. Und Luther? Offenbar längst nicht so originell, wie die Reformationslegende suggeriert. Gut ein Jahrhundert vor seinem »Durchbruch« finden sich die meisten seiner Einwände gegen die Papstkirche bei Wyclif und Hus bereits in gleicher Grundsätzlichkeit und ähnlicher Schärfe. Was kommt bei Luther noch hinzu? Das Priestertum aller Gläubigen? Nun, der Sache nach steckt das bereits im Laienkelch. Daß alle Gläubigen am ganzen Abendmahlssakrament teilhaben sollen, besagt doch nichts anderes, als daß vor Gott jeglicher Statusunterschied zwischen Laien und Priestern entfällt. Und war dieser Gedanke nicht auch schon bei Wyclif präsent, als er Päpste, Kardinäle und den gesamten Mönchsstand für überflüssig und ohne Basis in der Bibel erklärte? Luthers Position ragt wenig darüber hinaus. Zudem ist sie weit weniger radikal als das, was zwei Jahrhunderte zuvor bereits ein großer Mystiker formuliert hat: Meister Eckehart. Theologische Mystik hat stets eine antiklerikale Spitze. Sie unterstellt, daß wahrhaft Gläubige auf direktem Wege mit Gott eins werden können und dazu nicht der Vermittlung von Priestern bedürfen. Und Eckehart, der exponierteste Dominikanerprediger seiner Zeit, der nach Stationen in Erfurt und Straßburg schließlich die Leitung des Studium generale seines Ordens in Köln übernommen hatte, hatte den Gedanken der Einswerdung so wörtlich genommen wie niemand zuvor: Wenn Menschen ein Bild anfertigen, hat es mit dem Abgebildeten günstigstenfalls große Ähnlichkeit. Als Gott den Menschen »sich zum Bilde« schuf, machte er ihn sich in einem übermenschlichen Maße gleich. Er hauchte ihm seinen Odem, seinen Geist ein. »So gleich ihm selber hat er des Menschen Seele gemacht, daß im Himmelreich noch auf Erden unter allen herrlichen Kreaturen, die Gott so wundervoll geschaffen hat, keine ist, die ihm so gleicht wie des Menschen Seele. Hierum will Gott diesen Tempel leer haben, auf daß denn auch nichts weiter darin sei als er allein.« Deshalb habe Jesus die Händler und Geldwechsler aus dem Jerusalemer Tempel vertrieben: um ein Gleichnis für die Reinigung des Seelentempels zu geben. Jeglicher Händlergeist soll daraus verschwinden. »Seht, alle die sind Kaufleute, die sich hüten vor groben Sünden und wären gern gute Leute und tun ihre guten Werke Gott zu Ehren, wie Fasten, Wachen, Beten und was es dergleichen gibt, allerhand gute Werke, und tun sie doch darum, daß ihnen unser Herr etwas dafür gebe oder daß ihnen Gott etwas dafür tue, was ihnen lieb wäre«. Sie »wollen auf solche Weise markten mit unserm Herrn. Bei solchem Handel sind sie betrogen.« »Willst du der Kaufmannschaft gänzlich ledig sein, so daß dich Gott in diesem Tempel belasse, so sollst du alles, was du in allen deinen Werken vermagst, rein nur Gott zum Lobe tun«. »Du sollst gar nichts dafür begehren. Wenn du so wirkst, dann sind deine Werke geistig und göttlich«.9

Ist das nicht nahezu wörtlich Luthers Grundgedanke zu den guten Werken? Er findet sich bereits zwei Jahrhunderte zuvor bei Eckehart. Allerdings mit einem Überschuß: Die Seele, in der nur noch Gott wohnt, ist nicht nur über jeden Unterschied von Priester und Laie hinaus, sondern: »Gottes Sein ist mein Leben. Ist denn mein Leben Gottes Sein, so muß Gottes Sein mein sein und Gottes Wesenheit meine Wesenheit, nicht weniger und nicht mehr.«10 War das nicht eine Ungeheuerlichkeit, nämlich menschliche Selbstvergottung – zudem ausgebreitet in deutschen Predigten vor den Ohren des Volks? Eckehart verstand darunter gerade das Gegenteil: maximale menschliche Selbstentäußerung als Antwort darauf, daß Gott sich bei seiner Menschwerdung bis zur Neige seiner selbst entäußert habe. Doch der Erzbischof von Köln war empört und eröffnete ein Inquisitionsverfahren gegen Eckehart. Der wehrte sich und trug das Verfahren selbst zur höchsten Instanz: zur Kurie nach Avignon. Er reiste eigens dorthin, um vor einer päpstlichen Kommission seine Version der mystischen Vereinigung von Gott und Mensch zu verteidigen. Doch alsbald verwarf eine Bulle Johannes’ XXII. Eckeharts Auffassung und vermerkte zudem, er habe alle beanstandeten Sätze seiner Lehre widerrufen. Bald darauf ist er unter ungeklärten Umständen gestorben, weshalb der Verdacht, daß die Methoden der Inquisition seinem Widerruf und seinem mysteriösen Ende nachgeholfen haben, nie erloschen ist.

Luther hat Eckehart nicht gelesen, nur dessen Schüler Johannes Tauler. Auch der hat deutsche Predigten verfaßt, aber seine Mystik ist längst nicht so radikal wie die seines Lehrers. Einswerden mit Gott heißt für ihn vor allem Willenseinheit. »Du sollst deinen wandelbaren Willen einsenken in den göttlichen Willen, der unbeweglich ist, damit deiner Schwachheit aufgeholfen werde.«11 Darin, »daß nämlich der Mensch seinen eigenen Willen haben will auch an allen göttlichen Dingen«, besteht seine »Gefangenschaft«, der er nur entkommt, wenn er sagt: »Nein, Herr, nicht nach meiner Gnade oder Gabe oder Willen gehe es, sondern, Herr, wie du willst, Herr, so nehm ich es, oder so will ich es«. »Unendlich viel nützlicher als alles, was der Mensch nach seinem eigenen Willen haben kann, es sei Gott oder Kreatur, ist es ihm, es willig und demütig zu entbehren« »und dem eigenen Willen in Gelassenheit zu entsagen«. Erst solches Loslassen des Eigenwillens öffnet das Seeleninnere für den heiligen Geist, »und alle Gnade und alle Seligkeit wird davon eingegossen, und der Mensch wird ein göttlicher Mensch«. »Göttlich« wird hier ein Mensch allerdings nicht mehr, wie bei Eckehart, dank der Wesensgleichheit seiner Seele mit Gott, sondern nur noch durch Auflösung seines Eigenwillens in den Willen Gottes, aus dem er in sündhafter Abspaltung hervorgegangen ist. Einswerdung mit Gott ist nur noch als einseitiges Aufgehen in Gott, als Unterwerfungsakt gedacht, nicht mehr als wechselseitiges Aufgehen von Gott und Mensch ineinander. Nur für solch einseitige Mystik konnte Luther sich erwärmen – und nie bis zum Siedepunkt. Eins werden mit Gott: wie sollte das gehen, selbst bei vollkommener Hingabe? Man blieb doch als Sünder tief unter ihm. Die enorme Aufwertung des menschlichen Individuums, die die deutsche Mystik dadurch vollzog, daß sie die Gottebenbildlichkeit des Menschen12 in bestimmter Hinsicht als Gottgleichheit interpretierte, war Luther entschieden zu kühn.