Management-Coaching X.0

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Zum Aufbau dieses Buches

Der folgende erste Teil enthält einen für das Anliegen des Buches so kurz wie möglich gehaltenen Überblick über das Konstrukt des Narzissmus. Es geht um den historischen Ursprung des Begriffs Narzissmus, um die Phänomenologie, die Diagnostik, die Entwicklungstheorien, die Behandlung sowie um gesellschaftliche Aspekte des Narzissmus. Narzissmus wird auf der individuellen, der interaktionellen und der gesellschaftlichen Ebene thematisiert und diskutiert. Dieser Teil bildet die Grundlage aller weiteren Ausführungen des Buches und ist für Sie als Leser sicherlich der anspruchsvollste Teil.

Im zweiten Teil werden die Erkenntnisse aus dem ersten Teil auf die Sphäre des Managements übertragen. Es werden die Auswirkungen narzisstischer Phänomene auf das Management von Unternehmen untersucht. Dabei wird verständlich werden, wie sehr narzisstische Phänomene das Management von Unternehmen beeinflussen und welchen Impetus diese Phänomene auch auf die Gesellschaft besitzen. Aus diesem zweiten Teil wird deutlich werden, dass eine Bewusstmachung narzisstischer Phänomene notwendig ist, um einen evolutionären Wandel in Unternehmen zu ermöglichen.

Aus diesem zweiten Teil ergibt sich der abschließende dritte Teil, in dem ein Ansatz eines Management-Coachings unter besonderer Berücksichtigung narzisstischer Phänomene Management-Coaching X.0 als Initial einer erfolgreichen Unternehmens®evolution dargestellt wird. Es geht um die theoretischen Hintergründe, die Formen, Arten und Auslöser für ein solches Coaching, um den Prozess dieses Coaching-Ansatzes und seine Phasen, um die Einbettung in den Prozess der Unternehmens®evolution, um Qualität und Qualitätssicherung und schließlich um die Frage der notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen eines Coachs für eine solche Form des Management-Coachings.

Dieses Buch möchte ein – theoretisch begründetes – Buch für die Praxis sein.

Teil I. Narzissmus – ein Überblick

In den letzten Jahren ist vom Begriff ›Narzissmus‹ ein inflationärer und häufig auch unpräziser Gebrauch gemacht worden. Er findet dabei nicht nur in der Psychoanalyse und in den verschiedenen psychotherapeutischen Schulen, sondern auch im Alltag häufig Verwendung. In der psychoanalytischen Debatte über das Thema ›Narzissmus‹ herrscht nur über zwei Punkte Einigkeit: Erstens gehört das Konzept des Narzissmus zu den wichtigsten Erkenntnissen der Psychoanalyse und zweitens ist es sehr verwirrend. Bis heute herrschen Zweifel, ob dieser Begriff überhaupt noch eine theoretisch eindeutige Trennschärfe besitzt.

Dieser Teil hat die Aufgabe, einen Überblick über den Begriff und das Konstrukt des Narzissmus zu geben. Zunächst werden die anthropologischen und historischen Wurzeln des Konstrukts und des Begriffs Narzissmus beleuchtet. Daran anschließend werden einige Aspekte der Phänomenologie narzisstischer Verhaltensweisen aufgezeigt, einige Gesichtspunkte zur Diagnostik dargestellt, der Stand der Diskussion zum Entstehen narzisstischer Verhaltensweisen erörtert, die Behandlung einer narzisstisch gestörten Persönlichkeit diskutiert und abschließend Narzissmus als gesellschaftliches Phänomen thematisiert.

1. Anthropologische und historische Wurzeln des Narzissmus

Bevor man sich mit dem Begriff und dem Konstrukt1 des Narzissmus auseinandersetzt, muss man sich zuerst einmal die Frage stellen, was die evolutionsbiologischen Besonderheiten des Menschen sind, die überhaupt zur Bildung eines solchen Konstrukts geführt haben.

Adolf Portmann (1952, S. 49) nannte den Homo Sapiens im Vergleich zu den höchstentwickelten Säugetieren eine »extrauterine Frühgeburt« – ein Wesen, das zu selbstständigem Leben unfähig aus dem Uterus in die Welt geboren wird. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Schwangerschaft beim Menschen insgesamt 21 Monate, also ein Jahr länger, dauern müsste, um bereits bei seiner Geburt den Entwicklungsstand der übrigen höheren Säuger zu erreichen. Im ersten Lebensjahr, dem »extrauterinen Frühjahr«, wie Portmann es nennt, muss das Kind seine Entwicklung außerhalb des Mutterschoßes unter dem Einfluss seiner Umwelt› im sozialen Mutterschoß, für die ein solches Wesen noch völlig untauglich ist, vollenden (ebd. S. 68). Der Mensch bedarf daher in den ersten Lebensmonaten und Jahren einer besonderen Zuwendung.

Freud formulierte diese Tatsache schon 1926 wie folgt: »Die Intrauterinexistenz des Menschen erscheint gegen die meisten Tiere relativ verkürzt; er wird unfertiger als diese in die Welt geschickt. Dadurch wird der Einfluss der realen Außenwelt verstärkt, die Differenzierung des Ich vom Es frühzeitig gefördert, die Gefahren der Außenwelt in ihrer Bedeutung erhöht und der Wert des Objekts, das allein gegen diese Gefahren schützen und das verlorene Intrauterinleben ersetzen kann, enorm gesteigert. Dies biologische Moment stellt also die ersten Gefahrensituationen her und schafft das Bedürfnis, geliebt zu werden, das den Menschen nicht mehr verlassen wird.« (Freud 1926, S. 186 f.)

Der Mensch ist somit aufgrund seiner evolutionären Disposition ganz besonders der Gefahr früher Störungen in seiner psychischen Entwicklung ausgesetzt. Narzissmus kann in seiner pathologischen Ausprägung durchaus als eine frühe Störung in der Entwicklung eines Menschen bezeichnet werden. Im nachfolgenden Abschnitt über die Diagnostik narzisstischer Persönlichkeitsstörungen werden in Abbildung 7 die verschiedenen frühen Störungen aufgezeigt und verdeutlicht, warum gerade narzisstische Störungen so großen Einfluss auch auf gesellschaftlicher Ebene ausüben.

Der Mythos des Narziss

Die sprachliche Wurzel des Begriffes Narzissmus liegt in dem griechischen Mythos des Narziss.2 Die Ursprünge des mythischen Narziss reichen weit in die griechische Geschichte zurück. Erst der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.) hat in seinem Sammelwerk »Metamorphosen« die bis dahin überlieferten Mythen von Narziss zu einem Ganzen zusammengefasst. Im Folgenden wird die Ovidsche Version vom Narziss-Mythos in sinngemäßer und gekürzter Form wiedergegeben.3

Ovids Metamorphosen (Buch III, Vers 339-510)

Narziss war der Sohn der Nymphe Liriope und des Flussgottes Cephisus, der einst sie im sich windenden Fluss umschlang, in seinen Wellen einschloss und vergewaltigte. Nachdem Narziss geboren wurde, fragte Liriope den Seher Tiresias, ob Narziss ein hohes Alter erreichen werde. Dieser sagte: »Nur, wenn er sich selbst niemals kennen gelernt haben wird.« Narziss, der schon bei seiner Geburt liebreizend war, wuchs zu einem schönen Jüngling heran, der mit 16 Jahren so schön war, dass viele Jünglinge und Mädchen ihn begehrten. Jedoch war in seiner zarten Gestalt so spröder Stolz, dass niemand ihn berühren konnte.

Die Nymphe Echo erblickte Narziss, als dieser bei der Hirschjagd war. Echo, die wegen ihrer Geschwätzigkeit von der Göttin Juno mit wenig Macht über ihre Zunge bestraft worden war, konnte nicht verständlich sprechen: Von gehörten Worten konnte sie nur die letzten Worte wiedergeben. Echo sah jedoch nicht nur Narziss, der durchs abwegige Gelände streifte, auch entbrannte ihr Herz in Liebe zu ihm. Echo folgte heimlich Narziss’ Spuren. Je länger sie Narziss folgte, desto mehr wuchs ihre Liebe an. Oft wollte sie mit lieben Worten und Bitten auf ihn zukommen, doch ihre Zunge ließ dies nicht zu; sie konnte ja nur Worte wiederholen. Als Narziss sich verirrte, rief dieser: »Ist jemand hier?«, worauf Echo antwortete: »Hier«. Staunend rief Narziss mit lauter Stimme »Komm!« Sich nicht täuschend von dem Widerhall sagte er, weil niemand kam: »Was fliehst du vor mir?« Vom Widerhall getäuscht, sprach er: »Lass uns hier zusammenkommen.« Echo, der nichts lieber war, antwortete: »Zusammenkommen«, und trat aus dem Wald heraus, um ihre Arme um den Hals von Narziss zu legen. Dieser jedoch floh vor ihr und sagte: »Hände weg, lass die Umarmungen! Eher will ich sterben, als dir gehören.« Echo antwortete: »Dir gehören«. Die verschmähte Echo versteckte sich daraufhin in den Wäldern, verbarg schamhaft ihr Gesicht im Laub und lebte in einsamen Höhlen. Durch den Liebesschmerz und Kummer verzehrte sich ihr Leib. Ihre Knochen verwandelten sich in Stein, und nur ihre Stimme blieb übrig. Verborgen in Wäldern wurde sie an keinem Berg mehr gesehen, aber alle konnten sie hören.

Ein ebenfalls von Narziss verschmähter Mann, der die Hände zum Himmel streckte, bat: »So soll es auch ihm in der Liebe ergehen, so soll auch er, was er liebt, nicht bekommen.« Die Göttin Rhamnusia, die für Rache und Groll bei Ungerechtigkeit stand, erhörte dessen Bitte und stimmte ihr zu.

Eines Tages ließ sich Narziss, von der Anstrengung der Jagd und durch die Hitze erschöpft, am Ufer einer Quelle nieder. Die Quelle war klar wie Silber und von der Natur bislang unberührt geblieben. Und als er seine Begierde nach Wasser zu stillen versuchte, wuchs ein Begehren in ihm gegenüber dem, was er in einer Welle sah: Nichts ahnend begehrt er sich selbst, empfindet und erregt Wohlgefallen, wirbt und wird umworben, entzündet Liebesglut und wird zugleich von ihr verzehrt. Schließlich stellte Narziss fest, dass er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hatte: »Ich bin es selbst! Ich habe es begriffen, und mein Bild täuscht mich nicht mehr. Liebe zu mir selbst verbrennt mich, ich selbst entzünde die Liebesflammen, die ich erleide.« Mit Schmerz geplagt und der Erkenntnis über die Ausweglosigkeit seiner Situation gab Narziss sich mit schwindenden Kräften seinen Tränen hin, die sein Spiegelbild im Wasser trübten. Sobald er dieses im wieder beruhigten Wasser erblickte, konnte er es nicht länger ertragen: »Wie gelbes Wachs an einem schwachen Feuer und wie der morgendliche Raureif an der warmen Sonne schmilzt, so schwindet er dahin, von Liebe ausgezehrt, und langsam nagt an ihm ein verborgenes Feuer.« Echo, die den sterbenden Narziss erblickte, wurde trotz ihres Grolls auf den Jüngling vom Schmerz erfasst und echote dessen letzte Worte: »Lebe wohl!« An jener Stelle, an dem der Körper von Narziss verging, wuchs eine Blume, die safrangelb in der Mitte und von weißen Blütenblättern umsäumt war – die Narzisse.

 

Manch ein Autor sieht in diesem Mythos die Themen Spiegelung und (Ich-) Identität, Täuschung und Trugbild, (Selbst-) Erkenntnis und Tod, Begehren und Ablehnung, maßlose Fremd- und heillose Selbstliebe sowie das Motiv der Blume (vgl. Renger 2002, S. 1).

Ein anderer Autor setzt den Mythos in Verbindung mit Alter und Tod: »Narziss’ Leben endet jung. Die Erkenntnis des eigenen Spiegelbildes und die Erfahrung, die Liebe eines anderen nicht erlangen zu können, auf ihn aber existenziell angewiesen zu sein, bedeutet, dass Narziss sich als getrenntes, einzelnes, sehr einsames und isoliertes Wesen erkennt, eine für den Narzissten tödliche Erkenntnis. Die Tragik des Narziss besteht also darin, als Mensch, und das heißt mit dem Wissen um das eigene Altern und Sterben, nicht leben zu können.« (Teising 2006, S. 641)

Bärbel Wardetzki, eine bekannte Autorin und Psychotherapeutin speziell für den Bereich des weiblichen Narzissmus, interpretiert den Mythos des Narziss aus der Beziehungsperspektive zu Vater und Mutter. Für sie hat Narziss einen unerreichbaren Vater, der als Flussgott dem wässrigen, immer im Fließen begriffenen Element entstammt. Er ist dadurch ungreifbar, bezieht nicht Stellung und ist gewalttätig. Seine Mutter, die junge leichtfüßige Nymphe, bietet ihrer Ansicht nach nur wenig umsorgende Mütterlichkeit und idealisiert den Sohn entweder oder macht ihn zum Partnerersatz. Er ist ihrer Launenhaftigkeit und Unbeständigkeit ausgeliefert. Ihrer Interpretation folgend ist eine mangelhafte Bindung die Grundlage der Beziehungsstörung und des Identitätsverlustes des Narziss. Seine Beziehungen bestehen für Wardetzki hauptsächlich auf Bewunderung und Äußerlichkeiten. Ihnen fehlt ihrer Ansicht nach die Tiefe, die Narziss durch die Ablehnung jeglicher Liebe und Nähe selbst verhindert. Er zieht sich stattdessen – in narzisstischer Manier – auf sich selbst zurück (vgl. Wardetzki 2010, S. 36).

Historisch betrachtet bezog sich der englische Psychologe und Sexualforscher Havelock Ellis 1898 in seinen »Studies in the Psychology of Sex« als erster auf den Mythos des Narziss, um in einer Fallgeschichte den psychischen Zustand eines exzessiv masturbierenden Mannes zu beschreiben, der zum Objekt seines eigenen sexuellen Verlangens wurde.

Freud erwähnte den Begriff ›Narzissmus‹ erstmals am 10. November 1909 auf einem Vortragsabend der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Er postulierte, dass der Narzissmus ein notwendiges Entwicklungsstadium des Übergangs vom Autoerotismus zur Objektliebe sei; von da gehe man zu ähnlichen Objekten über.4 In seinen Werken taucht der Begriff erstmals in einer 1910 hinzugefügten Fußnote zu den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« auf und beschreibt die Selbstliebe bei Homosexualität. Vier Jahre später differenzierte er in seiner wichtigen Arbeit zur »Einführung des Narzissmus« die Konzepte des primären und des sekundären Narzissmus, beschrieb die Natur der narzisstischen Objektwahlen sowie die narzisstische Begründung des Ich-Ideals als psychische Struktur. In dieser Arbeit bezog sich Freud auf Menschen, die durch ihre narzisstische Beharrlichkeit unser Interesse wecken, mit der sie alles von ihrem Ich fernhalten, was dieses bedrohen könnte (Freud 1914).

Erst 1931 beschrieb Freud den narzisstischen Charaktertypus, »bei dem das Hauptinteresse auf die Selbsterhaltung gerichtet ist, der unabhängig und wenig eingeschüchtert ist. Dem Ich ist ein großes Maß an Aggression verfügbar, das sich in Bereitschaft zur Aktivität kundgibt; im Liebesleben wird das Lieben vor dem Geliebt Werden bevorzugt. Menschen dieses Typus imponieren den anderen als ›Persönlichkeiten‹, sind besonders geeignet, anderen als Anhalt zu dienen, die Rolle von Führern zu übernehmen, der Kulturentwicklung neue Anregungen zu geben oder das Bestehende zu schädigen« (Freud 1931, S. 511).

Diese Beschreibung wird allgemein als die erste grundlegende Definition der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung angesehen. Allerdings enthielten bereits zwei frühere Arbeiten, verfasst von Jones (1913) und Wälder (1925), bedeutende Informationen zur Phänomenologie dieser Störung.

Wilhelm Reich beschrieb einige Jahre später den phallisch-narzisstischen Charakter, den er als einen Schutz gegen ein tief sitzendes Gefühl der Unterlegenheit verstand. Er porträtierte solche Personen als arrogant, energisch, häufig promiskuitiv; auf jeden Angriff auf ihre Überlegenheit reagierten Sie mit kalter Verachtung, ausgeprägtem schwarzen Humor und offener Aggression. Reich sah diese Charakterpathologie häufiger bei Männern und sah verschiedene Ausprägungen. Einige würden Ruhm und soziale Macht erlangen, andere würden hingegen zu Tagträumen, zu Suchtentwicklungen und Kriminalität neigen (Reich 1933, zitiert in Akthar 2006, S. 233).

Karen Horney unterschied 1939 das Gefühl des gesunden Selbstwertempfindens von pathologischem Narzissmus und schlug vor, den Begriff Narzissmus auf unrealistische Selbsterhöhung zu beschränken (Horney 1939).

Zwölf Jahre später beschrieb Fenichel Individuen, die getrieben sind und von einer Leistung zur anderen eilen. Ein Erfolg gebe ihnen dabei aber keine innere Befriedigung. Es fehle ihnen an Zärtlichkeit und sie seien unsensibel gegenüber ihren Partnern. In einem anderen Kontext stellte Fenichel narzisstische Charaktere als Menschen dar, die omnipotentes Verhalten, absolute Unabhängigkeit sowie Führungsqualitäten zeigten und häufig auf andere faszinierend wirkten (Fenichel 1945, zitiert in Akthar 2006, S. 234).

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wurde somit die Existenz einer narzisstischen Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung festgestellt und beschrieben – wenn auch manchmal unter einer anderen Begrifflichkeit. Ferner wurden erste phänomenologische Aspekte, wie z. B. Grandiosität, fortdauernde Suche nach Ruhm, Getriebenheit, Dreistigkeit, Artikuliertheit, beeinträchtigte Liebesfähigkeit sowie kognitive Auffälligkeiten genannt und diese mit Frustrationen in frühen Entwicklungsphasen in Verbindung gebracht (ebd. S. 235).

2. Zur Phänomenologie – Was macht einen Narzissten aus?

Auf die Frage, ob sie je einem Narzissten begegnet sind, wird den meisten Menschen ein Freund, Vorgesetzter oder Liebespartner in den Sinn kommen. Sie werden eine Persönlichkeit voller Widersprüche beschreiben, selbstverliebt, aber gleichzeitig empfindlich gegenüber Kommentaren von außen; emotional labil, anfällig für wahre Begeisterungsstürme, aber auch voll tiefster Verzweiflung. Dem Charme und der Leichtigkeit, mit denen sie sich auf sozialem Parkett bewegen, steht ihre Gefühllosigkeit angesichts der Empfindungen, Wünsche und Bedürfnisse anderer gegenüber. Einem anfänglichen Sich-hingezogen-Fühlen zu diesen Menschen folgt nicht selten ein Überdruss angesichts der permanenten Forderung nach Bewunderung und Aufmerksamkeit (vgl. Morf, Rhodewalt 2006, S. 309).

Dieses Interesse am eigenen Selbst kann jedoch unterschiedliche Ausmaße annehmen, das von normalem, angemessenen Narzissmus bis hin zu schweren narzisstischen Störungen reichen kann. Im Folgenden soll daher den Ausführungen von Mertens gefolgt werden, der die Mannigfaltigkeit narzisstischer Erscheinungsformen und das weite Spektrum narzisstischer Erlebnisweisen und Persönlichkeitszüge betont. Mertens bezeichnet die narzisstische Persönlichkeitsstörung synonym mit Selbstwertbeeinträchtigung und -störung und stuft auch liebenswürdig erscheinende und schüchtern wirkende Menschen, die unablässig bestrebt sind, ihre Existenzberechtigung durch ein zuvorkommendes und hilfsbereites Wesen zu beweisen, als selbstwertgestörte Personen ein. Ferner weist er auf die Problematik vorschneller diagnostischer Urteile hin, die nicht zuletzt durch die in einem späteren Abschnitt dargestellten Diagnosesysteme entstand und betont, dass eine genaue Kenntnis eines Patienten erforderlich ist, um einigermaßen einschätzen zu können, ob seine auf den ersten Blick als narzisstisch imponierenden Verhaltensweisen und Einstellungen eher situativ sind, vielleicht sogar etwas mit dem jeweiligen Gegenüber zu tun haben, oder eher persistierend und somit habituell sind (Mertens 1981, S. 129).

Um der Fülle der narzisstischen Phänomene und Erscheinungsformen gerecht zu werden, unterscheidet Mertens unter anderem in die Dimensionen Verhalten, Gefühle, Beziehungen, Charakterhaltungen und Phantasien (ebd. S. 130 ff.).

▶ Im Verhalten narzisstisch gestörter Menschen findet man seiner Ansicht nach häufig ein egozentrisches, manipulierendes und selbstgefälliges Auftreten sowie eine Ungeduld, wenn es um die Belange anderer Menschen geht oder ein ärgerliches Desinteresse, wenn nicht die eigene Person im Mittelpunkt steht. Das suchtartige Verlangen nach Bewunderung muss aber nicht in jeder Lebenssituation und ständig geäußert werden. Gerade wenn diese Menschen etwas erreichen wollen, können sie mit gespielter Einfühlung und mit Charme ihr Gegenüber täuschen. Obwohl man sich im Zusammenleben mit ihnen oft zu kurz gekommen fühlt, sind sie häufig die Ankläger, die auch als rechthaberisch und voller Selbstmitleid charakterisiert werden können. Der Glaube an die eigene moralische Vollkommenheit und Überlegenheit und der gleichzeitige Mangel an wirklichen Selbstwertgefühlen lassen es nicht zu, sich einzugestehen, dass man Fehler gemacht hat. Es sind immer die anderen, die fehlerhaft oder unmoralisch waren.

Narzisstisch gestörte Menschen können seiner Beobachtung nach aber durchaus sozial gut angepasst und erfolgreich sein und nehmen nicht selten sogar eine Spitzenposition in unserer Gesellschaft ein. Orientiert am äußeren Schein und am Marktwert, angezogen von Erfolg und Ruhm, sind ihnen zwischenmenschliche Kontakte zumeist nur Mittel zum Zweck. Wirklich große Leistungen bleiben der narzisstischen Persönlichkeit zumeist verwehrt, weil diese nur aus einer hingebungsvollen Leidenschaft und einer sachbezogenen Motivation entstehen können, über die der narzisstisch gestörte Mensch jedoch nur selten verfügt.

Die ausschließliche Beschäftigung mit sich selbst kreist immer wieder um die Fragen, ob man sich selbst so akzeptieren kann, wie man ist, ob andere einen akzeptieren können, welchen Eindruck man auf andere Menschen macht. Es bleibt kaum Raum und Kraft, um sich auch einmal in einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Eine weitere Frage narzisstisch gestörter Menschen kann sein, welchen Menschen man sich anschließen muss, um an deren Größe teilnehmen zu können. Er idealisiert dann über Gebühr andere Menschen, z. B. ihr Aussehen, ihre Intelligenz, ihren Beruf oder ihre Stellung. Ihn beflügelt die Hoffnung, dass die identifikatorische Teilhabe am Ruhm und der Größe anderer Menschen auch auf ihn übergehen wird.

▶ Auch im Arbeitsverhalten zeigt sich ein überzogenes Anspruchsdenken: Die Leistung, ohne dafür viel Einsatz zu bringen, soll andere beeindrucken und sie vor Neid erblassen lassen. Manche narzisstisch gestörte Personen leiden hingegen unter ihren überzogenen Perfektionsansprüchen. Narzisstisch gestörte Mitarbeiter reagieren oft sehr empfindlich auf Bevorzugung anderer. Teamarbeit ist für sie sehr schwierig und Hierarchien stellen für sie eine Möglichkeit dar, sich ihren Mitmenschen überlegen zu fühlen.

▶ Die Gefühle narzisstisch gestörter Menschen sind häufig eingegrenzt auf rauschartige Erfahrungen eigener Größe und Erfolg. Gefühle, die durch menschliches Miteinander entstehen, bleiben ihnen fremd. Langeweile und Angst vor dem Alleinsein sind gefürchtete Zustände, die es durch andauerndes Beschäftigt-Sein zu kompensieren gilt. Das weitgehende Fehlen von Gefühlen wie Traurigkeit, Dankbarkeit, Freude, Ergriffenheit, Verbundenheit und Sehnsucht lassen diese Menschen gefühlsmäßig als flach erscheinen. Es mangelt ihnen zudem an wirklicher Lebensfreude, wodurch sie einen starken Neid auf andere empfinden. Neid ist der Affekt, der diese Menschen ohnehin am intensivsten beschäftigt, z. B. in der Form, sich ständig mit anderen zu vergleichen und andere Menschen dabei zu entwerten. Hinter einer Fassade oberflächlicher Grandiosität liegt davon abgespalten die innere narzisstische Welt mit intensiven, chronischen Neidgefühlen, starker Wut und Gefühlen der Leere und Langeweile, aber auch Minderwertigkeits- und Schamgefühlen (vgl. Mertens 1981, S. 139 u. 165).

 

▶ Die Gestaltung von Beziehungen orientiert sich bei narzisstisch gestörten Menschen hauptsächlich am eigenen Vorteil – weitgehend unfähig zu einem tiefer gehenden Interesse am anderen Menschen. Vom Mangel an wirklicher Anteilnahme angefangen bis hin zur offensichtlichen Ausbeutung anderer Menschen gibt es viele Abstufungen. In der Regel halten sich narzisstisch gestörte Menschen an die moralischen Wertvorstellungen, zumindest an solche, deren Wirkungen nach außen hin erkennbar werden. Ihr Anspruch, über andere erhaben zu sein und über besondere Eigenschaften zu verfügen, lässt sie ein soziales Wertebewusstsein eher wie eine Schwäche wahrnehmen. Sie können es häufig kaum glauben, dass andere Menschen andere Prinzipien als die des finanziellen Erfolges vertreten.

Männer sind in Beziehungen zu Frauen oftmals gar nicht an deren Persönlichkeit interessiert, sondern nur an den Attraktionen, um derentwegen sie andere Menschen beneiden könnten, und prahlen oft untereinander mit ihren Eroberungen. Das Manipulierende narzisstisch gestörter Menschen tritt vielleicht nirgendwo so deutlich zutage wie in Mann-Frau-Beziehungen. Während für Männer die Erscheinung, die erotische Ausstrahlung und die sexuelle Bereitschaft von Frauen von zentraler Bedeutung sind, stellen für narzisstisch gestörte Frauen die berufliche Position und das Einkommen die wichtigsten Kriterien für den Wert eines Mannes dar. Wenn er ihnen nur Beachtung und ein finanziell sorgenfreies Leben zu versprechen scheint, nehmen diese Frauen auch physische oder psychische Einschränkungen des Mannes in Kauf. Es fehlt das Erkennen der Eigenarten eines anderen Menschen. Gegenseitige Verunsicherungen und Entwertungen sind deshalb in Beziehungen narzisstisch gestörter Partner häufig und verdeutlichen, dass es in der Kindheit der betreffenden Menschen nicht nur um »den fehlenden Glanz im Auge eines Elternteils«5 ging, sondern auch um starke Gefühle von Neid, Ärger und Enttäuschung.6

In den weniger gestörten narzisstischen Beziehungen kommt es zu dem von Willi beschriebenen unbewussten Zusammenspiel zwischen den Partnern, wobei einer mehr den progressiven, der andere mehr den regressiven Part einnimmt. Willi bezeichnet dieses Zusammenspiel als »narzisstische Kollusion«, die beiden Pole oder Positionen sind Narzisst und Komplementärnarzisst.

Willi hat den Begriff Kollusion für alle Fälle geprägt, in denen die neurotischen Dispositionen der beiden Partner wie Schloss und Schlüssel zusammenpassen. Beide Partner haben bestimmte zentrale Konflikte aus früheren seelischen Entwicklungsphasen nicht verarbeitet und leben nun entgegengesetzte, sich zunächst aber ergänzende Lösungsvarianten dieser inneren Konflikte. Die Partner spielen unbewusst komplementäre Ergänzungsrollen zur Stabilisierung der Beziehung, aber auch im Sinne einer interpersonalen Abwehr. Willi unterscheidet neben der narzisstischen Kollusion noch die orale, die anale und die phallische Kollusion (vgl. Willi 1975, S. 61 ff.).

In der narzisstischen Kollusion zeichnet sich der Typus des progressiven Narzissten dabei durch eine übersteigerte, oberflächliche Selbstsicherheit aus, um damit sein latentes Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Der Komplementärnarzisst leidet unter einem manifesten Minderwertigkeitsgefühl, hinter dem sich latente Größenfantasien verbergen. Mertens spricht an dieser Stelle vom schüchternen oder zaghaften Narzissten, der sich unbeholfen vorkommt und sich nichts zutraut. Häufig sind diese Menschen unfähig, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, und sie unterdrücken ihre lebendigen Gefühle und Fantasien von Größe und die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten (vgl. Mertens 1981, S. 167). Das Zusammenspiel dieser beiden narzisstischen Typen verdeutlicht Abbildung 1.


Abb. 1: Die narzisstische Kollusion (nach Willi 1975, S. 83)

Diese beiden Ausprägungsformen narzisstischer Störungen, einerseits die Unbekümmerten, Großspurigen und Unsensiblen, auf der anderen Seite die Scheuen und Zurückhaltenden, findet man nicht nur in Paarbeziehungen, sondern auch in Gruppen und der gesamten Öffentlichkeit. Dieses Phänomen begegnet einem in der Politik (Führer und Gefolgsgruppe) genauso wie in Organisationen (Manager und Mitarbeiter), wie im zweiten Teil noch ausführlicher dargelegt werden wird.7

Ein weiteres Merkmal narzisstisch gestörter Menschen in Beziehungen ist der permanente Versuch, den anderen nach seinen Vorstellungen zu formen und zu manipulieren. Es fällt ihm oder ihr schwer, den anderen so zu akzeptieren und wertzuschätzen, wie er ist. Der Partner soll einem fantasierten Idealbild entsprechen, das eine Mischung aus eigenen idealen Selbstbildern und als ideal fantasierten Objektbildern ist.8

Frank Petermann erweitert in einem Aufsatz in der Zeitschrift Gestalttherapie die bestehenden psychoanalytischen Konzepte über narzisstische Störungen, indem er deren Phänomenologie als Interaktionsstruktur in Beziehungen darstellt und ergänzt damit das Konzept der »narzisstischen Kollusion«, wie es von Willi beschrieben wurde (vgl. Petermann 1988, S. 31 ff.).

Petermann geht vom Begriff des »expanded self« aus und baut darauf ein Erkennungsraster zur Selbst- und Fremddiagnose narzisstisch geprägter Beziehungsformen auf. Das »expanded self« stellt für ihn einen wesentlichen Aspekt der narzisstischen Persönlichkeit dar. »Jemand, der ein ›expanded self‹ herstellt, hat eine grundsätzlich vereinnahmende innere Haltung seiner Umwelt gegenüber. Dies bedeutet, dass der andere nicht jemand sein darf, der von diesem Selbst getrennte Impulse, Bedürfnisse sowie Weltsichten hat. (…) Die Handlungen der anderen werden wie magisch vom narzisstischen ›expanded self‹ so erlebt, als seien sie eigentlich die Folge der Intentionen des betreffenden Narzissten. (…) das ›expanded self‹ stellt eine spezielle, gespaltene Form von Verbundenheit her: Es ist die Erweiterung des Selbst auf die Art und Weise, dass die Welt – insbesondere andere Menschen – einerseits bewusst außerhalb vom Selbst erlebt werden, jedoch andererseits unbewusst als Teil des Selbst gesehen werden.« (ebd. S. 31) Nach Petermann kann man sich das »expanded self« wie das Schachbrett des Narzissten vorstellen, auf dem die Menschen aus seiner Umwelt Figuren darstellen, über die er verfügt.

Das »expanded self« hat die Funktion, eine narzisstische Charakterstruktur zu stabilisieren: Es schützt das Selbstwertgefühl des Betreffenden vor dem Erleben schwerer Einbrüche. »Das ›expanded self‹ funktioniert also so: Wenn es mir gelingt, andere darin zu halten, gewinne ich Macht und werde in deren subjektivem Erleben größer. Durch polarisierende Kontrastwirkung gelingt dies umso mehr, je kleiner der andere wird. Der andere wiederum wird im gleichen Maße kleiner, da seine Impulse ständig durch fremde Definitionen überlagert werden und er so sein Gefühl für sich selbst verliert. (…) Meistens weist die Dynamik dieser Beziehung also eine einseitige Richtung, ein Gefälle auf: Der eine befindet sich im ›expanded self‹ des anderen und ist gewissermaßen Empfänger gegenüber dem Sender.« (ebd. S. 32) Petermann nennt eine Reihe von Kriterien, die ein »expanded self« erkennen lassen. Es sind Aspekte, die seiner Ansicht nach je für sich genommen weder gesund noch neurotisch sind und die erst in ihrer Häufung die Atmosphäre einer narzisstischen Beziehungsstruktur vermitteln. Er unterteilt diese Aspekte nach drei Perspektiven: