Personalentwicklung im Bereich Seelsorgepersonal

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3.6 Personalentwicklung als Teil von Organisationsentwicklung – Die Bedeutung von Arbeitsstrukturen

„Personalentwicklung“ muss in engem Bezug zur Organisationsentwicklung bzw. zum organisationalen Lernen des Unternehmens definiert werden. Neben die traditionellen laufbahn-, positions- und qualifikationsbezogenen Maßnahmen treten deshalb in immer stärkerem Maße organisations- und strukturbezogene Aktivitäten. Das Verständnis von Personalentwicklung darf sich nicht beschränken auf die personenbezogenen Schwerpunkte wie Fort- und Weiterbildung. Wer den Vorrang der Person will, muss sich auch mit den Strukturen beschäftigen, die diese Personen umgeben.

Jede Organisation als Gesamtsystem ist eingebettet in ein komplexes Beziehungsgefüge interschiedlicher Wirkfaktoren. Ein im Kontext der Personalentwicklung sinnvolles Konzept zur Planung und Steuerung in Organisationen bezieht soziale, technologische und bauliche Faktoren ein. Von Interesse sind dabei die Gesetzmäßigkeiten und Wechselwirkungen innerhalb einer Organisation. Vier Subsysteme kristallisierten sich, eingebettet in den Kontext und die Vision eines Unternehmens, als besonders wirksame Faktoren mit hohem Einfluss auf das Verhalten von Mitarbeitern heraus:


Abbildung 2: Wirkungsweise von Veränderungen. Organisationsmodell von Porras et al, aus: Schubert, Hans-Joachim, Change Management, Studienbrief PE 0910, Kaiserslautern 2001, 98.

Unter der Überschrift „Organisatorische Regelungen“ sind spezifisch formale Elemente zusammengefasst, mit denen die Koordination gewährleistet werden soll. Sanktions- und Belohnungssysteme beeinflussen das Mitarbeiterverhalten ebenso wie Ablauf- und Aufbaustrukturen.

Mit „Sozialen Faktoren“ sind die eher informellen Merkmale der Zusammenarbeit beschrieben. Auf der Ebene der Gesamtorganisation sind es Normen und Werte, die sich in Interaktionsprozessen und Führungsstilen niederschlagen. Unter den Begriff „Technologie“ fallen Merkmale wie Stand der technischen Ausstattung, Gestaltung von Kommunikations- und Arbeitsabläufen. Die Einrichtung technischer Kommunikationsmittel (z.B. Intranet) verändert die Kommunikation in einer Organisation. Die Handhabbarkeit moderner Kommunikationstechniken erhöht die Geschwindigkeit der organisationsinternen „Wissensströme“. Wissensmanagement trägt Sorge dafür, dass vorhandenes Wissen und Kompetenz flächendeckend genutzt werden und zum Einsatz kommen. Das hat mit Arbeitsstrukturen und Technik zu tun. Transparente Postverteilungssysteme, Systeme zur fristgerechten Beantwortung von eingehender Post erhöhen den Dienstcharakter von Behörden.

Die Kategorie „Bauliche Bedingungen“ meint Aspekte wie Anordnung und Gestaltung von Arbeits- und Aufenthaltsräumen und die architektonische Gesamterscheinung. Die Planung von Pfarrhäusern beeinflusst die Kommunikationsstruktur zwischen Pfarrer, Pfarrbüro und haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern. Dies hat Einfluss auf Arbeitsstil und Arbeitsleistung. In Baumaßnahmen spiegelt sich Wertschätzung oder Missachtung von Berufsgruppen.121 In der konkreten Planung kirchlicher Gebäude wie Pfarrzentren und Kirchenvorplätzen bilden sich auch Kirchenbilder ab. Gebäude- und Informationsästhetik, z.B. von Kirchenbaukörpern und Außenanlagen, haben ihrerseits Einfluss auf die Pastoral. Die Theologie einer Gemeinde, bestimmte Menschen-, Kirchen- und Gottesbilder finden ihre Konkretion und ihren Niederschlag in Bauten und Kommunikationsstrukturen.

Vorgaben des Personaleinsatzes und Arbeitsstrukturen, Beschaffenheit von Arbeitsplätzen und innerbetrieblichen Kommunikations- und Prozessabläufen müssen daraufhin überprüft werden, ob sie der Personalentwicklung und damit der Qualität der Arbeit dienen. Das Ausblenden der „harten“ Rahmenbedingungen wäre eine Vereinfachung komplexer Systeme. Die in der Kirche übliche Form der spirituell durchdrungenen Appelle an das Umkehrbewusstsein und die Veränderungsbereitschaft der Gemeinden und des Personals kann die sachliche Analyse der Arbeitsstrukturen und Arbeitsbedingungen nicht ersetzen. In der Gestaltung von Transformationsprozessen wäre es naiv zu glauben, „Kirche lasse sich einfach, leicht von oben nach unten oder von unten nach oben verändern. Ein Hirtenbrief verändert vielleicht die Herzen, eine Predigt kann erbaulich sein. Aber Organisationen haben kein Herz, sondern Strukturen. Appelle verändern sie nicht. Ein wirkungsvolles Handeln in und durch Organisationen ist keine triviale Selbstverständlichkeit, sondern eine anspruchsvolle soziale Praxis des Aushandelns von Kommunikation, Spielregeln und Entscheidungen.“122

Kirche ist immer auch sichtbarer Leib Christi und gewachsene Organisation und muss in dieser „inkarnatorischen“ Existenz in allen Organisationsabläufen prüfen, ob sie dem Heil der in ihr Arbeitenden und dem Heil der Mitglieder dient. Veränderungspostulate können nicht nur der Reformbereitschaft des Einzelnen anheim gestellt und „ans Herz gelegt“ werden. Metanoia ist nicht nur eine individuelle Verhaltenseinstellung, sondern muss sich in kirchlichen Strukturen und Systemen niederschlagen.

Mitarbeiter als „interne Kunden“ trennen in ihrem subjektiven Erleben von Berufs(un)zu-friedenheit nicht zwischen Personalentwicklung, Personalverwaltung oder Personaleinsatz. Aber an der Ausstattung eines Wartezimmers im Ordinariat oder durch das Bereitstellen von Besucherparkplätzen für Personalgespräche erkennen Mitarbeiter, welchen Stellenwert Personalarbeit hat. Unbeantwortete Post, nicht bestätigte Mails, falsch besprochene Anrufbeantworter oder nicht eingehaltene Sprechzeiten in diözesanen Behörden sind Indizien für mangelndes internes Dienstleistungsbewusstsein. Organisationsabläufe und Technologie, das Bauwesen wie der Service einer EDV-Abteilung müssen sich wie Personalentwicklung und Personalverwaltung daran messen lassen, ob sie im Dienst des Evangeliums stehen, den Mitarbeitern dienen und damit die Arbeitsqualität der Gesamtorganisation erhöhen.

3.7 Fazit: Personalentwicklung – mehr als ein Schönwetter-Phänomen

Weil jede Form von Seelsorge immer innerhalb von konkreten kirchlich oder säkular geprägten Organisationsbedingungen stattfindet, gilt es diese Strukturen nicht nur wahrzunehmen, sondern sie normativ-kritisch daraufhin zu analysieren, ob in ihnen und durch sie das Anbrechen des Reiches Gottes, d. h. Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit befördert oder eher blockiert werden. Investition in die Personalentwicklung ist Beitrag zum Erhalt der Würde und der Freiheit des Menschen in bestehenden Abläufen und Strukturen und dient damit der Menschwerdung Gottes.

Kirchliche Einzel-Organisationen wie Bildungseinrichtungen oder Beratungsstellen sind es gewohnt, im Wettbewerb mit anderen Anbietern zu stehen und unterziehen sich intensiven Professionalisierungsprozessen. In der Gesamtkirche römischer Ausprägung und in den ortskirchlichen Diözesen setzt sich die Perspektive der Personal- und Organisationsentwicklung erst langsam durch. Mehr noch: In Zeiten finanzieller und damit auch personeller Reduzierung besteht die Gefahr, dass Personalentwicklung als „Schönwetter-Phänomen“, als „Konzept der fetten Jahre“ des Ausbaus und unternehmerischen Wachstums relativiert und zurückgefahren wird. Die in öffentlichen Verlautbarungen so oft betonte Bedeutung der Humanressourcen und damit der Personalentwicklung für das Gesamt einer Organisation wird im Rahmen des praktischen unternehmerischen Handelns oft vernachlässigt. Diese Problemanzeige berührt das Selbstverständnis von Kirche, die sich als Heilszeichen in der Welt versteht. Deswegen gilt es im Folgenden, das Proprium kirchlicher Personalentwicklung herauszuarbeiten.

88 Münch Joachim, Personalentwicklung als Mittel und Aufgabe moderner Unternehmensführung, 17.

89 Vgl. ebd., 22.

90 Kruip Gerhard, Das Humankapital pflegen, in: HerKorr 53(1999), 245-249, hier 246.

91 Ebd.

92 Wunderer Rolf / KuhnThomas, Innovatives Personalmanagement. Theorie und Praxis unternehmerischer Personalarbeit, Neuwied 1995, 16.

93 Arnold Rolf, Personalentwicklung – neu gedacht, Kaiserslautern 2006 (= Pädagogische Materialien der Technischen Universität Kaiserslautern Heft 28), 118.

94 Münch Joachim, Personalentwicklung als Mittel und Aufgabe moderner Unternehmensführung, 20.

95 Ebd., 19.

96 Ebd., 21.

97 Vgl. Arnold Rolf, Grundlagen, Strukturen und Qualitätssicherung, Studienbrief PE 0810 des Fernstudiums „Personalentwicklung im lernenden Unternehmen“, Kaiserslautern 2000, 79.

98 Ebd., 77.

99 Vgl. ebd., 81.

100 Ebd., 21.

101 Ebd., 13.

102 Münch Joachim, Personal und Organisation als unternehmerische Erfolgsfaktoren, 7.

103 Berkel Karl, Warum Priester auch Manager sein müssen, in: zur debatte 37(2007/1), 1-3, hier 2.

104 Vgl. Jacobs Christoph, Salutogenese. Das Leben gesunder Menschen bereichern. Pastoralpsychologische Perspektiven zur Förderung der Gesundheit von Priestern und Ordensleuten, in: Grün Anselm / Müller Wunibald (Hg.), Was macht Menschen krank, was macht sie gesund? Münsterschwarzach 1997, 71-108.

105 Jacobs Christoph, Mit Leidenschaft für Gott und sein Volk: Berufen zur Seelsorge in Zeiten pastoralen Wandels, in: ThPQ 153(2005), 264-276, hier 267.

 

106 Krämer-Stürzel Antje, Organisationsberatung – Modelle, Methoden, Instrumente, Studienbrief PE 1020, Kaiserslautern 2001, 37.

107 Skizziert wird diese Unterscheidung nach McGregor, Leadership and Motivation, Cambridge (Mass.), London 1966, in: Zink Klaus J., Neuere Managementkonzepte, Studienbrief PE 0220, Kaiserslautern 1998, 8.

108 Domsch Michael / Harms Martina / Sticksel Peter, Methoden der Personalentwicklung, Studienbrief PE 0410, Kaiserslautern 2000, 6.

109 Ebd., 9.

110 Ebd., 27.

111 Im Bereich des kirchlichen Verwaltungspersonals zeichnet sich in „katholikenarmen Bistümern“ bereits jetzt ab, dass für hochqualifizierte IT-Fachleute, Finanzmanager oder Architekten Kirche als Arbeitsplatz unattraktiv wird (Gehalt, Grundordnung kirchlicher Dienst, unklare Entscheidungsstrukturen, Wegfall der Arbeitsplatzsicherheit).

112 Lebenslange Kränkungen aufgrund subjektiv erlebter mangelnder Wertschätzung können Folge sein, wenn Vergabekriterien für Mitbewerber nicht klar waren, wenn der Verdacht der Stellenvergabe nach „Gutsherrenart“ aufkommt. Auch wenn im Unterschied zu offenen Bewerbungen auf dem freien Arbeitsmarkt die innerdiözesanen Bewerber seit Jahren bekannt sind, müssen christliches Ethos der Menschenwürde und der Achtung der Person auch in Stellenvergabeverfahren spürbar werden. Im Umgang mit „Außenbewerbungen“, speziell von ausländischen Priestern oder Laien aus anderen Diözesen, sind die Eignungskriterien besonders zu prüfen und ein der Pastoral angemessenes Kriterienraster anzulegen (z.B. kulturelle Flexibilität, Sprachkompetenz, Lernfähigkeit, Ambiguitätstoleranz und Sozialkompetenz).

113 Arnold Rolf, Weiterbildung – Grundlagen, Strukturen und Qualitätssicherung, 18.

114 Kühl Stefan, Die geringe Hebelwirkung von Personalentwicklung, in: OE 26(1/2007), 42-45, hier 43.

115 Luhmann Niklas, Organisation und Entscheidung, Wiesbaden 2006, 280.

116 Ebd.

117 Kühl Stefan, Die geringe Hebelwirkung von Personalentwicklung, 44.

118 Luhmann Niklas, Organisation und Entscheidung, 284.

119 Ebd., 283.

120 Kühl Stefan, Die geringe Hebelwirkung von Personalentwicklung, 44.

121 So ist es Ausdruck einer hierarchisch denkenden Unternehmenskultur, wenn Pfarrhäuser mit hohem Aufwand renoviert werden, ohne dabei adäquate Arbeitsplätze für Laien (Büro) einzurichten. Die Kultur der Personalführung spiegelt sich auch darin, wie lange ein Mitarbeiter um eine Heizung in seinem Büro kämpfen muss oder ob eine Pfarrsekretärin freien Zugang zu Medien hat.

122 Heller Andreas / Krobath Thomas, OrganisationsEthik - worum geht es?, in: Dies. (Hg.), OrganisationsEthik. Organisationsentwicklung in Kirchen, Caritas und Diakonie, Freiburg, 2003, 9-13, hier 12.

4. Das Proprium kirchlicher Personalentwicklung

Kirche ist ihrem Wesen nach mehr als eine Organisation, deshalb verbietet es sich von selbst, innerkirchliche Strukturreformen ausschließlich nach Organisationslogik zu planen und durchzuführen. Kirche ist geistliches Geschehen, Institution und Organisation zugleich; dieses „Drilemma“ muss als spirituelle Ressource genutzt werden, die Erscheinungsweisen können nicht gegeneinander ausgespielt werden. Kirche ist keine Profitorganisation, aber „sie hat etwas geschenkt bekommen, was sie besonders befähigt und verpflichtet.“123 Aber: „Kirche ist nicht so ‚von einem anderen Stern‘, dass sie Beobachtungen bei Großorganisationen und Unternehmen vernachlässigen könnte. Kirche ist zwar nicht von dieser Welt, was ihre Gründung, ihre Stiftung, ihre bleibende Bestimmung und ihre Vision – das Reich Gottes – angeht. Aber schon die Ziele, die aus dieser Vision folgen bzw. ihrer Verwirklichung dienen, und erst recht die dazu nötigen Strategien, Strukturen, Kommunikations- und Interaktionsformen ergeben sich aus dem Charakter der Kirche als corpus mixtum.“124

Es geht im Folgenden darum, Personalentwicklung als Baustein zur Gestaltung einer lernenden Organisation ekklesiologisch einzuordnen. Im Mittelpunkt steht die kreative Konfrontation von Managementtheorien und theologischen Handlungstheorien, um Transformationsprozesse in der Kirche professionell und zugleich spirituell gestalten zu können. Personalentwicklung dient sich dabei nicht selbst als Legitimationspunkt und setzt sich nicht eigene Paradigmen, sondern fragt nach dem Grundauftrag von Kirche.

4.1 Ekklesiologische Grundlegungen für eine strategische Personalentwicklung im lernenden Unternehmen Kirche

Kirchliche Organisationen sind nicht ethik- und theologiefrei, sondern hochgradig wertorientiert. Die Inhalte des Glaubens, aber auch die Formen, in denen sie ermittelt und vermittelt werden, sind nicht beliebig. Was für kirchliche Dienstleistungseinrichtungen (Krankenhäuser, Altenheime) gilt, lässt sich auch auf die Gemeindeseelsorge übertragen: „Ihr Weiterleben und ihr Erfolg werden immer mehr davon abhängen, wieweit sie ihre Werte auch innerhalb ihrer eigenen Organisation abbilden, konkretisieren, in die Praxis umsetzen.“125 Die Form, wie in der Kirche geleitet wird, wie Personal geführt, gefordert und gefördert wird, ist auch Prüfstein für den ekklesiologischen Selbstanspruch der römisch-katholischen Kirche. Das von Gott gnadenhaft geschenkte Heil muss durch das Wirken der Kirche, durch das Tun ihrer Mitarbeiter bei den Menschen aufscheinen und Sehnsucht wecken.

Im Unterschied zu säkularen Unternehmen verbietet es sich für die Kirche, das „Absichern der Institution“ als Unternehmensziel zu deklarieren. Es geht um das „Absichern“ der Verkündigung der Frohen Botschaft in sich wandelnden Kontexten. Im Kontext der Vision einer neuen, bereits angebrochenen Wirklichkeit des Reiches Gottes, gilt es, den „Stifterwillen je neu auszugestalten. Dafür sollen ekklesiologische Grundlegungen in ihrem Bezug auf Personalarbeit entfaltet werden.

4.1.1 Organisations- und Personalentwicklung: Wachstumsprozesse im corpus permixtum nach Lumen gentium

Zunächst ist Kirche geistliches Geschehen, das ist das Eigentliche an Kirche. Darüber hinaus hat sich Kirche in der Geschichte zur Institution entwickelt, welche bestimmte Sozialformen der Nachfolge Christi herausgebildet hat und ihre Traditionen in festen Abläufen an kommende Generationen weiterzugeben sucht. Kirche realisiert sich über diese Doppelstruktur. Dazu kommt in der Moderne die dritte Erscheinungsweise von Kirche als Weltkonzern und globaler Arbeitgeber, die Organisation, hinzu. Kirche stellt sich in der Definition nach Georg Plank als eine Institution dar, insofern sie eine öffentliche, Sinn bildende Ordnungsgestalt darstellt. Darüber hinaus bildet diese Institution zur Bewältigung unterschiedlicher Aufgabe verschiedene Organisationsformen aus (z.B. Ordinariate, Pfarreien, Personalwesen ...).126 Sie handelt somit auch selbst als „Organisation von Organisationen“.

Jede Ekklesiologie muss die organisationale Komplexität und organisationsgeprägte Kommunikation des Evangeliums einholen. LG 8,1 betont, dass der geheimnisvolle Leib Christi im Verhältnis zur irdischen Verfasstheit der Kirche nicht als eine platonische Idee zu verstehen ist, die allen Realisierungen vorausliegt. Es geht um die reale Verwirklichung von Kirche, um eine komplexe Wirklichkeit. Sowohl pastoralpraktische als auch systematische Entwürfe müssen sich immer mit Kirche als komplexem System auseinandersetzen, um nicht ekklesiologisch unfruchtbar und wirkungslos zu bleiben.127

Die Kirche ist nach LG 8,1 einerseits verfasste hierarchische Gesellschaft, die von Christus selbst getragen und mit Wahrheit und Gnade ausgestattet wird, und andererseits die stets der Reinigung bedürfende Kirche, die als Pilgerin auf dem Weg ist (LG 8,4). Anspruch und Wirklichkeit – auch in Bezug auf Personalarbeit – sind hier umschrieben. „Beide Begriffe bringen wichtige ekklesiologische Aspekte zum Ausdruck, die einander in polarer Weise ergänzen: die immer zugleich unvollkommene, sündige und heilige Kirche (oder „ecclesia crucis“ und „ecclesia gloriae“). Beide Begriffe sind leicht für Ideologisierung und Funktionalisierung für die Forderung nach Reform zu missbrauchen. Eine authentische Kirchenreform kann nicht auf ein kirchenfreies oder nachkirchliches Christentum zielen, weil Christentum institutionell kirchlich ist.“128 Spätestens seit der Säkularisierung hat sich die Kirche zur modernen Organisationskirche gewandelt. Die Mitgliedschaft wird juristisch festgelegt, Austritt ist formal möglich. Mitgliedschaft ist – trotz noch verbreiteter Kindertaufen – längst nicht mehr selbstverständlich. Die Kirche muss Organisation sein, wegen ihrer Größe und um der Sicherstellung der Tradierung des Evangeliums willen. Die Frage ist, wie die Kirche organisiert ist. Bei der Behandlung dieser Frage, sind Theoriedefizite festzustellen.

Lumen gentium versteht Kirche als lebendig wachsende Größe, die ihren Ursprung nicht sich selbst verdankt und deren Ziel außerhalb ihrer selbst liegt. Ausgehend von der nachösterlichen Beauftragung der Jünger durch den Auferstandenen „empfängt die Kirche, die mit den Gaben ihres Gründers ausgestattet ist und seine Gebote der Liebe, der Demut und der Selbstverleugnung getreu hält, die Sendung, das Reich Christi und Gottes anzukündigen und in allen Völkern zu begründen, und sie stellt Keim und Anfang dieses Reiches auf Erden dar. Während sie allmählich wächst, lechzt sie inzwischen nach dem vollendeten Reich und hofft und erwünscht sich mit allen Kräften, sich mit ihrem König in Herrlichkeit zu verbinden.“ (LG 5,2) Kirche wird als Wachstumsprozess verstanden, dessen Ausgangspunkt und dessen Kraft eine große „sprudelnde“ Vision ist. (LG 4,1) Wachstum entfaltet sich durch innere Differenzierung und das Ausbalancieren von unterschiedlichen Subsystemen. Die Kirchenkonstitution betont, dass die Kirche durch das Wirken des Heiligen Geistes immerfort Zugang zum Vater hat. (LG 4,1) Das Vertrauen auf den heiligen Geist macht Kirche zu einem lernenden Unternehmen, das sich in Treue zum eigenen Auftrag weiterentwickelt.

Kirche als lebendige Organisation steht im Dienst der von Christus kommenden „entwicklungsfördernden“ Kraft, welche nicht zuletzt auch den Mitarbeitern als lebendigen Gliedern dieses Leibes zum Wachstum und zur Entwicklung gereichen muss. Das Mysterium der Kirche liegt in ihrer Begründung als Pflanzung, als Acker Gottes (1 Kor 3,9) oder als auserlesenem Weingarten (Mt 21,33-43 par., vgl. Is 5, 1ff.). (LG 6,1) Wie auch dem Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26f.) oder dem Bild vom Senfkorn (Mk 4,30ff.) liegt diesen Metaphern ein behutsames, kontinuierliches, nicht durch gewaltsame Akte beschleunigbares Geschehen zugrunde. Die Kirche als geistliche Größe und als Organisation hat aus diesem Verständnis heraus ein historisch gewachsenes institutionelles Wissen um weltweites Wachstum durch erfolgreiche Anpassung. Dieses Wissen ermutigt zu immer neuen Lernprozessen. Diese Vision gilt es weiterzuentwickeln und in den heutigen Fragestellungen konsequent umzusetzen.

Das in LG 5,1 erweiterte Bild von Kirche als Bauwerk, welches seine Festigkeit durch solide Grundsteinlegung und kontinuierlichen, dem Gründer in Treue verbundene Aufbau- und Umbauarbeiten erlangt (vgl. 1 Kor 3,11; 1 Tim 3,15), konkretisiert die Vision einer lernenden Organisation: Es geht auch um ein langsames, nachhaltiges Vorgehen. Leitmotiv ist die Kontinuität der kleinen Schritte. Dieses Vorgehen ist Grundgesetz einer mitarbeiterorientierten Personalentwicklung. Kirche ist ihrem Wesen nach ein lernendes, sich in der Geschichte entfaltendes Unternehmen. Durch die Verbindung mit dem auferstandenen Christus bildet sie eine Lern- und Lehrgemeinschaft von Menschen. Ebenso wie sich bereits Israel als Lehr- und Lerngemeinschaft unter der Tora verstand, ist im Neuen Testament der Geist Gottes der Lehrer, der Lernen in Gang setzt und die Kirche durch dauernde Lernprozesse erhält. Diese Lehr- und Lerngemeinschaft ist auch im Bild vom „Volk Gottes“ impliziert. Nach dem Vorbild des Volkes Israel geht es um die Gestaltung des Unterwegsseins und um das Lernen aus Umwegen.

 

LG 1 beschreibt die Kirche als Sakrament, d. h. als das sichtbare Zeichen und Werkzeug der Offenbarung Gottes für das Heil der Menschen. Im Unterschied zu anderen Organisationen ist sie nicht ein Zusammenschluss von Menschen zur Erreichung eines Zweckes, sondern versteht sich als Gemeinschaft, die Gott selbst durch die Sendung seines Sohnes begründet hat und die im heiligen Geist fortbesteht. Heil in der Kirche als Gemeinschaft zu erfahren ist eine Grundoption von Lumen gentium, welche natürlich nicht nur, aber nicht zuletzt auch für kirchliche Mitarbeiter gilt. „Der Ort, an dem Kirche Sakrament sein, also Heil vermitteln will, ist die Welt, in der allein sie aufgrund ihrer eigenen Weltlichkeit ihren Lebens- und Wirkungsbereich findet.“129 Ein Teil der zu gestaltenden Welt ist die Arbeits-Welt des kirchlichen Seelsorgepersonals.

Lumen Gentium ermutigt die Gläubigen jeden Standes ihre vom Heiligen Geist geschenkten Gaben einzubringen: Durch diese befähigt er sie für die Erneuerung und den Aufbau der Kirche verschiedene Aufgaben und Werke zu übernehmen. (LG 12,2) Personalentwicklung mit den Leitaspekten Ermöglichungs- und Potenzialorientierung ist mit dem in Lumen gentium formulierten Hirtenauftrag intendiert: „Die Hirten wissen nämlich, dass sie von Christus nicht eingesetzt sind, um die ganze heilmachende Sendung der Kirche gegenüber der Welt allein auf sich zu nehmen, sondern dass es ihre vornehmliche Aufgabe ist, die Gläubigen so zu weiden und ihre Dienstleistungen und Gnadengaben so zu prüfen, dass alle auf ihre Weise zum gemeinsamen Werk einmütig zusammenwirken“. (LG 30,1) Personalentwicklung steht im Dienste der Teilhabe aller Getauften am Priester-, Propheten- und Hirtenamt Christi, es geht um Förderung der Kompetenzen zum Aufbau des Leibes Christi. Weil LG 8 die römisch-katholische Kirche als Verwirklichung von Kirche schlechthin sieht und diese Verwirklichung mit der Leitung durch den Nachfolger Petri und die Bischöfe in Gemeinschaft mit diesem verknüpft, steht sie selbst unter dem Anspruch, dass der sakramentale Heilscharakter auch für die „Geleiteten“ zur Verwirklichung kommt. Die Gläubigen „zu weiden“ (LG 30,1) bedeutet in der Sprache der Personalentwicklung, personales und spirituelles Wachstum zu fördern und zu ermöglichen.

Lumen gentium sieht spirituelles Kirchenwachstum und Organisations- und Personalentwicklung nicht als getrennte Größen: „Der einzige Mittler Christus hat seine heilige Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst und trägt sie als solches unablässig; durch sie gießt Er Wahrheit und Gnade auf alle aus. Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft aber und der mystische Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei Dinge zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst.“ (LG 8,1) Und wie die Analogie von Mysterium und fleischgewordenem Wort, „so dient auf eine nicht unähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4,16).“ (LG 8,1) Wenn LG 9,1 im Rückgriff auf die Erwählung Israels den Volk Gottes Begriff für die Kirche einführt, impliziert dieser Begriff, dass Kirche eine lernende Organisation ist. Während das Bild vom „Leib Christi“ die Zusammengehörigkeit von Christus und Kirche betont, hebt das Bild vom „Volk Gottes“ das Gegenüber hervor. Das Volk kann die Treue brechen, wie es das alttestamentliche Gottesvolk zum Leidwesen der Propheten getan hat. Die Kirche als Volk Gottes bewegt sich zwischen Versuch und Irrtum, hat sich in „Prüfung und Trübsal“ zu bewähren, damit sie trotz organisatorischer Schwächen (LG 8,3) nicht aufhört, sich selbst zu erneuern. Umkehrbereitschaft, die Reflexion eigener „Schatten“ (LG 8,4) und der daraus ableitbare Anspruch zu „positivem Fehlermanagement“ (in der Sprache der Organisationsentwicklung) gehören zum Wesen der Kirche.

„Bestimmt zur Verbreitung über alle Länder, tritt sie in die menschliche Geschichte ein und übersteigt doch zugleich Zeiten und Grenzen der Völker. Auf ihrem Weg durch Prüfungen und Trübsal wird die Kirche durch die Kraft der ihr vom Herrn verheißenen Gnade Gottes gestärkt, damit sie in der Schwachheit des Fleisches nicht abfalle von der vollkommenen Treue, sondern die würdige Braut ihres Herrn verbleibe und unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht aufhöre, sich selbst zu erneuern, bis sie durch das Kreuz zum Lichte gelangt, das keinen Untergang kennt.“ (LG 9)

Umkehr und Transformation, Wandlung und Entwicklung, die kontinuierliche Herstellung von Umweltreferenz bei gleichzeitiger prinzipieller Offenheit der Zukunft sind Wesenszüge und Kernaufgaben von Kirche. Die Rede von der Kirche („gleichsam“) als Sakrament in LG 1 bereitet keinen Boden für ekklesialen Triumphalismus und institutionelle Unangreifbarkeit, sondern verweist darauf, dass die Kirche sich als Gemeinschaft in Christus selbst gegründet weiß. Aus dieser Gewissheit heraus ist sie aufgerufen, sich ihres Auftrags als „Zeichen und Werkzeug“ für den Dienst am Menschen immer neu zu vergewissern. Dies bedeutet auch, als lernende Organisation, die „Aussagekraft“ und „Verstehbarkeit“ der eigenen Zeichen zu prüfen und die „Wirksamkeit“ der Werkzeuge kontinuierlich zu reflektieren und diese zu „schärfen“.