Doch das Hamsterrad dreht sich weiter

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Christine Ehlen

Doch das Hamsterrad dreht sich weiter

Doch das Hamsterrad dreht sich weiter

Christine Ehlen

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Christine Ehlen

ISBN 978-3-8442-6227-8

Doch das Hamsterrad dreht sich weiter

Ich saß neben Werner im Auto und ließ mich in den Sitz zurückfallen, holte tief Luft und dachte mir: „Gott sei Dank, dass du jetzt nicht alleine nach Hause fahren musst.“ Die Tagung war wieder einmal furchtbar gewesen. Ich hatte meine ganze Kraft zusammengenommen, um die zwei Tage einigermaßen zu überstehen. Nach außen musste alles so aussehen, als ging es mir super gut, niemand sollte etwas merken. Innerlich war ich total ausgebrannt und fertig und hatte das Gefühl, die Arbeit bald nicht mehr schaffen zu können. Ich winkte noch lächelnd einem Kollegen zu, dann verließen wir beide den Parkplatz vor dem Hotel.

Ein Stückchen noch durch das Industriegebiet, dann zeigte sich die Auffahrt zur Autobahn, die um diese Zeit, am späten Nachmittag, wieder unwahrscheinlich stark befahren war. Zusammengekauert saß ich auf dem Beifahrersitz. Plötzlich schossen mir Tränen in die Augen. „Ich kann nicht mehr! Ich kann einfach nicht mehr!“ Dann überwältigte mein Körper meinen Geist, jede Willenskraft ging verloren, die Gefühle überrannten mein rationelles Denken und es schrie aus mir heraus: „ Ich kann nicht mehr! Ich halte es nicht mehr aus! Warum hilft mir denn keiner!“ Ich weinte und weinte, war nicht in der Lage, den Tränenstrom zu unterdrücken. Meine Arme zitterten, meine Beine zitterten, mein ganzer Körper war unruhig. Werner legte seine Hand auf meinen linken Oberschenkel und meinte: „Lass Dich doch nicht verrückt machen. Du machst doch Deine Arbeit gut. Du nimmst immer alles viel zu ernst.“ Das hatte mir gerade noch gefehlt. Jetzt auch noch Vorwürfe! Verstand er denn nicht! Immer höhere Umsatzvorgaben, ständiger Druck, der auf mir lastete -. Ihr müsst die Konkurrenz im Markt verdrängen .- Eine panische Angst saß mir im Nacken, die Arbeit zu verlieren. Deshalb wollte ich alles gut machen und stand ständig unter kraftaufreibender Anspannung, unfähig, auch mal loszulassen.

Ich war nicht mehr die Jüngste und konnte es mir daher nicht leisten, zu kündigen. Einen neuen Job konnte man in meinem Alter nicht mehr finden, erst recht nicht als Pharmareferentin. Außerdem, sollte jemand merken, wie abgearbeitet ich war, bestand ohnehin keine Chance auf eine Einstellung. Vorbei mit jung, dynamisch und leistungsstark.

Mit 49 Jahren sah ich eher jünger aus, war immer gut angezogen, alles passte zusammen, Rock, Bluse, Schuhe, Tasche. Mein Haar war voll, wellig und leicht zu pflegen, Make up benutzte ich nicht, meine Haut war noch geschmeidig und glatt und enthielt reichlich Melanin, so dass ich schnell Bräune annahm. Selten füllte ich meine Wimpern mit etwas Tusche auf, damit sie dichter wirkten und nahm einen dezenten Lippenstift. So machte ich immer noch einen attraktiven Eindruck.

Aber ständig musste mein Äußeres unter Kontrolle gehalten werden, lachen, strahlen und gute Laune zeigen, nach dem Motto: „Schau her, wie toll ich mich fühle!“ Innerlich fiel es mir immer schwerer, diese Schau abzuziehen. Ich hatte keine Kraft mehr für diese Anstrengung, fühlte mich krank und elend, völlig ausgebrannt und unfähig, auch nur noch kleine Dinge zu leisten. Meine Mutter war mit 77 Jahren fitter als ich.

Der Verkehr auf der Autobahn wurde immer dichter. Werner war ein rasanter Fahrer. Öfter hatte ich ihn schon gebeten, sich zurückzuhalten und vor allen Dingen nicht so dicht aufzufahren, doch in diesem Moment war mir das völlig egal. Ihm sollte natürlich nichts geschehen. Ich selber war dagegen an einem Punkt, an dem ich mir ein Ende meines Lebens fast wünschte, um endlich Ruhe zu haben.

Dann schrie es wieder aus mir heraus:“ Ich kann nicht mehr! Ich halte es nicht mehr aus! Ich kann das Leben so nicht mehr ertragen!“ Und mit flehender Stimme bat ich, zu Werner hinüber blickend: „Bitte hilf mir doch!“ Dann folgte wieder ein Weinkrampf.

Werner versuchte mich zu trösten. „Wir sind ja bald zu Hause. Dann kannst Du Dich ausruhen. Am besten legst Du Dich gleich hin und versuchst mal, die ganze Tagung zu vergessen. Morgen geht es Dir dann bestimmt besser. Und wenn nicht, musst Du Dich eben für ein paar Tage krankschreiben lassen. So kannst Du ohnehin nicht arbeiten.“

Ausruhen! Vergessen! Ich hatte schon ewige Zeiten nachts nicht mehr richtig geschlafen, war gar nicht mehr in der Lage, Ruhe zu finden. Wie war das Gefühl „Ruhe“?

Da beneidete ich Werner immer. Er konnte sich abends ins Bett legen, abschalten, tief und fest schlafen und am nächsten Morgen ausgeruht an die anstehenden Probleme herangehen. „Die meisten Dinge erledigen sich von selbst“, pflegte er zu sagen. Ich dagegen ging meist todmüde ins Bett und konnte dann doch nicht einschlafen. Kaum unter der Bettdecke, schwirrten die Gedanken in meinem Kopf durcheinander. Du hättest dies noch machen müssen, jenes darfst du nicht vergessen. Neben mir auf dem Nachttisch lag immer ein Zettel, dazu ein Bleistift und alles was mir einfiel, wurde dann gleich aufnotiert. So ging das die ganze Nacht. Ein unruhiges Hin- und Herwühlen, drei bis viermal Aufstehen, nicht fähig abzuschalten und zu schlafen. Kein Wunder, dass sich, wenn es Abend wurde und die Nacht hereinbrach, Ängste in mir ausbreiteten. Abends hatte ich Angst vor dem Schlafengehen und morgens Angst vor dem Aufstehen und vor den vielen Aufgaben, die der Tag brachte.

So war es leicht gesagt, sich zu Hause auszuruhen.

Und wie oft hatte ich schon wie ein Häufchen Elend zusammengekauert bei meinem Hausarzt gesessen. Er sah mich dann nur an und wusste gleich, dass eine Pause mal wieder dringend notwendig war. „OK, Mädchen. Ich hol’ Dich eine Weile da heraus.“ Wenn dann nach ein oder zwei Wochen die Arbeit wieder anstand, war von einer Erholung nicht viel zu spüren. So dauerte es nur ein paar Tage, und ich fühlte mich wieder genauso kraftlos wie vorher.

Wir erreichten die Autobahnausfahrt und bogen in die Landstraße ein. Noch ungefähr drei Kilometer und wir sind daheim. Ich redete innerlich auf mich ein. Nimm dich zusammen, los, du kannst es. Zu Hause warten deine zwei Kinder und die sollen nicht sehen, wie es dir geht. Viel zu oft war ich schon völlig abgeschafft abends von der Arbeit zurückgekommen und konnte nicht verheimlichen, wie kaputt ich war. Das sollte heute nicht wieder geschehen. Meine Kinder kannten mich ja nur noch als trauriges Etwas, welches das Lachen verlernt hatte.

Wie lange hatte ich nicht mehr gelacht! Diesmal musste das anders sein, das hatte ich mir fest vorgenommen.

Noch zweieinhalb Kilometer. Nimm dich zusammen, redete ich mir ein.

Wir bogen in unsere Straße ein, Werner hielt vor dem Haus. Ich wagte gar nicht, auszusteigen. Auf, du musst! Ich verließ das Auto, ging gebeugten Ganges auf die Haustüre zu, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und hörte von innen schon meine Tochter „Hallo!“ Mit zittriger Stimme kam meine Antwort: „Hallo, wir sind wieder da!“ Aus! Vorbei! Kein Lachen, im Gegenteil, die Tränen drangen mir wieder in die Augen und ich verschwand sofort ins Badezimmer. Melanie wusste gleich Bescheid. Jedes Mal, wenn ich nach Hause kam und nicht gesehen werden wollte, ging ich ins Bad. Für Melanie ein Zeichen, dass der Tag wieder schlimm verlaufen war. Auf dem Badewannenrand sitzend zitterte mein ganzer Körper, ein Weinkrampf stellte sich ein. Melanie machte vorsichtig die Badezimmertüre auf, kam auf mich zu, nahm mich in den Arm und meinte: „ Komm, ich fahre Dich zum Arzt. So geht es doch nicht. Der kennt Dich gut und schreibt Dich für ein paar Tage krank, damit Du Dich wieder etwas erholen kannst.“ „Nein, nein! Lass nur. Ich muss mich nur zusammenreißen, dann geht es. Ich schaffe es schon. Morgen früh sieht alles anders aus.“ Melanie ging auf Werner zu, der inzwischen auch ins Bad gekommen war und fragte: „ War die Tagung wieder so schlimm?“ „Es wird halt immer schlimmer, mehr Arbeit, mehr Umsatzdruck und Chris ist fix und fertig. Aber sie hat sich tapfer gehalten. Jetzt bricht alles in ihr zusammen. Sie sieht den Aufgabenberg und hat Angst, es nicht optimal zu schaffen. Du kennst ja Deine Mutter.“

Ich kann doch nicht aus meiner Haut heraus. Wenn es eine Aufgabe zu erfüllen gab, sollte sie auch gründlich und ordentlich erledigt werden, das war meine Einstellung. Doch in letzter Zeit war das ohnehin nicht mehr möglich. So lief ich immer mit einem schlechten Gewissen herum.

„Ich habe verschiedene frische Salate gekauft. Daraus mache ich für heute Abend einen schönen bunten Salatteller. So etwas Leichtes wird Dir bestimmt schmecken,“ sagte Melanie. Sie war mit ihren zwanzig Jahren schon eine richtige kleine Hausfrau und sehr verständnisvoll. „Wenn Du möchtest, kannst Du Dir nach dem Abendessen noch einen Film im Fernsehen anschauen. Habe gestern etwas ganz Lustiges auf Video aufgenommen. Das wird Dir sicher gefallen und wird Dich ablenken. Es ist echt toll, Du wirst sehen.“ Dann verließ sie das Bad, um in die Küche zu gehen und das Abendessen vorzubereiten. Werner packte inzwischen das Auto aus. Er trug die Arbeitstaschen und das ganze Lernmaterial herein, das man uns auf der Tagung mitgegeben hatte, brachte alles ins Arbeitszimmer und stapelte es auf unsere Schreibtische. Dann ging er noch in den Keller, in dem sich unsere Lagerräume befanden, holte Ware, Broschüren und Werbegeschenke für den nächsten Tag und lud alles in die beiden Dienstwagen.

Es war gut, dass ich auf diese Weise einen Moment alleine im Badezimmer sitzen konnte.

Sven war wie immer oben in seinem Zimmer und hatte noch nichts mitbekommen. Jetzt hörte ich ihn auf dem Klavier spielen. Es gelang mir, der Musik zu lauschen. Es war für mich immer eine angenehme Ablenkung, wenn Sven seine Lieder spielte.

 

-Lieber kleiner Igel, schau doch mal heraus

streck’ dein kleines Schnäuzchen in die große Welt hinaus.-

Einer der ersten Lieder, die er selbst komponiert und getextet hatte. Während seiner Abiturfeier vor zwei Jahren gab es für ihn die Gelegenheit, es öffentlich zu spielen und er erhielt großen Beifall. Ich war sehr stolz auf ihn.

Auf Chris, denk an den kleinen Igel, verkrieche dich nicht, sondern komm aus deinem Tief heraus! Noch eine Weile der Musik lauschend, zog ich mir meine weiße Bluse und den dunkelblauen Rock aus, hängte beides auf einen Bügel ins Schlafzimmer, wusch mir mein verweintes Gesicht und zog blaue Jeans und ein Shirt an. In der Küche hatte meine Tochter das Meiste schon gerichtet, nur die Salatsauce musste noch angemengt werden. Das machte Melanie ohnehin besser als ich. Gemeinsam deckten wir dann schweigend den Tisch. So war alles bereit für das Abendessen.

Ich tastete mit der Hand nach dem Wecker und brachte den Piepton zum Verstummen. Schon wieder sechs Uhr in der Früh, dabei hatte ich das Gefühl, noch gar nicht geschlafen zu haben. Es war eine der typischen Nächte gewesen. Unruhiges Hin- und Herwühlen, Schweißausbrüche, Abtrocknen, Aufstehen, Umkleiden, Toilettenbesuch, Wassertrinken und endlich etwas Schlaf finden, aber viel zu kurz, schon musste ich wieder raus aus den Federn.

Zunächst aber ein paar Übungen im Bett. Dazu drehte ich mich in Rückenlage, streckte Arme und Beine aus, holte tief Luft, schüttelte meine Beine aus, spannte sie kräftig an, schüttelte sie wieder aus und spielte das Ganze ein paar Mal durch. Angeblich eine gute Übung für den Ischiasnerv. Dann drehte ich mich auf die Seite und unterstützt durch meinen Arm, setzte ich mich auf die Bettkante.

Die Sonne lugte durch die Ritzen der Rollos und erhellte mein Schlafzimmer. Es war aus Eichenholz, rot gebeizt. Mein Nachtschränkchen hatte eine Schublade und stand auf vier schlanken Beinen. Darauf befand sich eine Lampe mit einem passenden roten Holzfuß und einer weißen Glaskugel. An der Wand stand eine Vitrine mit einem Flügel aus Spiegelglas, groß genug, um sich darin ganz betrachten zu können. Neben zwei kleinen Schränkchen passte noch ein großer Schlafzimmerschrank ins Zimmer. Der Platz darin reichte früher mal für zwei Personen, jetzt hatte ich ihn alleine zur Verfügung und die Kleiderstangen bogen sich bereits durch. Meine Tochter fand das rote Schlafzimmer hässlich und versuchte mich immer zu überreden, das Zimmer neu einzurichten. „Kauf Dir etwas Hübsches, Gemütliches, damit Du Dich am Tag in dein Zimmer zurückziehen kannst,“ meinte sie. Ich konnte mich dazu nicht durchringen. Das Rot und besonders die Spiegelvitrine hatten mir immer gut gefallen. Außerdem war es beste Qualität, die man heute nicht mehr so leicht bekam. Immerhin hatten die Möbel schon einige Umzüge überstehen müssen und waren dennoch tadellos erhalten.

Ich schlüpfte in meine Birkenstock und begab mich ins Badezimmer. Mein Spiegelbild sah mich müde und unausgeschlafen an. Wie sagte doch Frau Dr. Eberlein im Radio so schön: „Positiv sollten Sie den Tag beginnen“. Also auf, Chris, positiv! Es war eine Angewohnheit, erst die Zähne zu putzen und anschließend auf dem Wohnzimmerteppich die Gymnastikübungen durchzuführen, die meine Rücken- und Bauchmuskulatur stärken sollten. Jeden Morgen strampelte ich mich etwa zwanzig Minuten ab, das gehörte in meinem Tagesplan. Obwohl ich es schon über Jahre hin durchführte, hatte ich dennoch jeden Tag Rückenschmerzen, die meistens ohne Schmerztabletten nicht auszuhalten waren. Wenn ich mich ab und zu fragte, was das alles soll, tröstete ich mich damit, dass es noch schlimmer sein könnte. Also führte ich meine Übungen durch, ging anschließend unter die warme Dusche, brauste meine Beine zum Schluss kalt ab, um den Kreislauf in Schwung zu bringen und zog mich für die Arbeit an. Ich gönnte mir zwei bis drei Tassen Tee und ein Stück Marmeladenbrot, ehe ich losfuhr.

Kurz vor sieben verließ ich das Haus, um halb acht wollte ich beim ersten Arzt sein. Endlich auf der Autobahn, gab ich Gas, aber es dauerte leider nicht lange, schon sah ich rote Blinklichter vor mir aufleuchten. Ich trat auf die Bremse und stellte meine Warnblinkleuchte an. Ein Stau hatte mir gerade noch gefehlt! Mein Auto kam zum Stillstand, nach ein paar Minuten ging es ein Stück weiter, dann wieder Stop. In den Verkehrsnachrichten hatte ich gar nichts davon gehört, also wird es hoffentlich nicht zu lange gehen. Aber es dauerte. Was mag da los sein? Langsam wurde ich immer nervöser und fing an, mit den Händen auf dem Lenkrad herum zu klopfen. Dann setzte meine innere Unruhe wieder ein. Eine Hitzewelle breitete sich über meinen ganzen Körper aus und stieg bis in den Kopf hinauf, der Schweiß brach mir aus. Ich griff nach dem kleinen Handtuch, das ich immer auf dem Beifahrersitz liegen hatte und begann mich abzutrocknen.

Der Schweiß feuchtete meine Haut ein zweites Mal an, dicke Tropfen liefen mir an Stirn und Nacken herunter, gefolgt von einem Angstgefühl. Eine unrealistische Angst, ich wusste nicht recht wovor, aber sie war da und ließ sich nicht unterdrücken. Das Ganze war mir nicht neu, ich redete immer selber auf mich ein: „Hör auf, hör auf, ich will es nicht wieder.“ Erfolglos!

Aus dem Autoradio hörte ich: „Du hast Dein Ende selbst gewählt, hast Dich mit Leben so gequält.“ Nein, nein, diese Gedanken durften jetzt nicht wieder kommen. Sie geisterten in letzter Zeit ohnehin viel zu oft durch meinen Kopf.

Das Piepsen meines Handys lenkte mich ab. Ich stellte die Verbindung her. „Hallo Mäuschen, wie geht es Dir, hast Du gut geschlafen?“ drang es über die Freisprechanlage. Werner! Er war inzwischen auch unterwegs. Zu Hause sahen wir uns fast nie. Er schlief immer bis zur letzten Minute und frühstückte nicht. „Mir geht es leider nicht gut, ich stehe in einem verdammten Stau,“ rief ich. „Reg’ Dich nicht auf. Ob Du einen Besuch mehr oder weniger schaffst ist völlig egal. Das ist höhere Gewalt, da kann man nichts machen. Dafür klappt es an anderen Tagen umso besser.“ Leider war das im Moment für mich kein Trost. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Ich sagte: „Ja, ja, mach`s gut“ und brach die Verbindung ab. Wenn es jetzt nicht bald weitergeht!

Endlich tat sich was. Die Autos vor mir setzten sich wieder in Bewegung und langsam fuhren wir an dem Stauverursacher vorbei. Ich traute meinen Augen nicht, ein Rasenmäher machte den Randstreifen sauber, morgens um kurz nach sieben, einer Zeit, in der alle Welt auf dem Weg zur Arbeit war. Für mich unverständlich, warum so etwas zur Rushhour passieren musste.

Kurz nach acht fand ich endlich einen Parkplatz, ergriff meine Arzttasche und machte mich auf in die erste Praxis.

Um kurz nach elf hatte ich zwei Ärzte und zwei gut vorbereitete Apotheken besucht. Jetzt musste erst einmal der Parkautomat nachgefüttert werden. Mit Tasche und Verkaufsaufsteller beladen marschierte ich dann in die nächste Apotheke. Strahlend einen guten Tag wünschend ging ich auf die Einkäuferin zu. „Der Chef hätte Sie heute gerne selber gesprochen,“ meinte sie und führte mich nach hinten ins Büro. Dort wartete Herr Bogner auf mich. „Ich habe Sie vor ein paar Minuten schon vorbeilaufen sehen. Bitte nehmen Sie Platz.“ Er wies mir einen Sessel zu. „Es gibt da ein Problem.“ „Ich bemühe mich gerne, Ihr Problem zu lösen, wenn ich kann,“ antwortete ich. „Bei Ihrem letzten Besuch habe ich Ihnen einiges an Retouren mitgegeben, Medikamente, die schon seit längerer Zeit verfallen waren. Leider wurden diese von Ihrer Firma nicht nach meinen Vorstellungen vergütet. Hier habe ich alles genau notiert, Wert der Ware war siebenhundertsechsundachtzig Mark, erstattet bekommen habe ich Ware für nur dreihundertfünfundneunzig Mark. So geht das natürlich nicht. Da müssen Sie sich etwas einfallen lassen, sonst können wir nicht mehr ins Geschäft kommen. Ihr Vorgänger hatte mir für nicht verkaufte Halstabletten einen hundertprozentigen Ausgleich versprochen. Nur so habe ich mich auf den Kauf der sehr großen Menge eingelassen.“ Ich warf einen Blick auf die Retourenaufstellung. Zum größten Teil der Waren hatte er damals fünfzig Prozent dazu geschenkt bekommen und nun sollten wir ihm diesen Rabatt noch zu hundert Prozent vergüten. Wenn jeder so vorgeht, müsste die Firma theoretisch bald Pleite sein. Auf der anderen Seite wusste ich, dass mein Vorgänger große Mengen in die Apotheken rein verkauft hatte, um entsprechende Prämien von unserer Firma zu kassieren. Es war ihm ja bekannt, dass er das Gebiet nicht behalten würde. Jetzt war ich zuständig und musste Umsatz machen. Unter diesem Druck, obwohl innerlich wütend über die Methoden, versprach ich ihm, mich mit der Firma in Verbindung zu setzen. Um meine Bereitschaft zu zeigen, ließ ich ihn wissen, dass ich noch Verkaufsware im Kofferraum hatte.

Damit konnte wenigstens ein Teil der Differenz ausgeglichen werden. Er zeigte sich zufrieden und verwies mich an seine Einkäuferin.

Dieser Besuch hatte mich mal wieder geschafft. Ich entschied mich, als nächstes einen Arzt aufzusuchen, der mir vom letzten Mal als sehr nett in Erinnerung war. Eine Motivation war notwendig.

Um ein Uhr hatte ich einen Termin in einer Apotheke. Dort wollte ich einen Vortrag über unsere Produkte halten. Meist gelang es mir, die PTA’s in eine Diskussion zu verwickeln. Das war mir lieber, als ein Monolog. Sie sollten mit unseren Produkten so gut wie möglich vertraut sein, damit sie diese entsprechend an die Kunden weitergeben konnten. So hatte ich es auch heute vor.

Um das Ganze angenehm zu gestalten, es war immerhin die Mittagspause des Apothekenpersonals, ließ ich Pizza kommen und schleppte selbst eine Kiste gefüllt mit verschiedenen Fruchtsäften in den Aufenthaltsraum. Wir platzierten uns um einen Tisch und ließen es uns erst einmal schmecken. Dabei versuchte ich auch gleich, eine lockere Atmosphäre herzustellen. So ergab sich dann nach anfänglichen Startschwierigkeiten, eine lebhafte Diskussion, bei der wir fast versäumten, die Apotheke für den Nachmittag wieder zu öffnen. Jede Assistentin bekam von mir noch ein Werbegeschenk, heute hatte ich kleine Kopftücher zur Verfügung, wir vereinbarten ein Telefongespräch in etwa zwei Wochen, falls sich noch Fragen ergeben sollten, dann verließ ich kurz nach drei Uhr die Apotheke.

Beim nächsten Kunden hatte ich wenig Erfolg. „Mein Mann macht die Einkäufe. Da er außer Haus tätig ist, er arbeitet in einem Chemielabor, können Sie ihn vor achtzehn Uhr hier nicht erreichen. Wenn Sie dann bitte noch einmal wiederkommen würden.“ Die Apothekerin machte einen netten, zurückhaltenden Eindruck. Mir war klar, warum hier der Mann die Einkäufe tätigte. Er war sicher besser in der Lage, soviel Rabatte wie möglich herauszuholen.

Kurz vor vier Uhr nachmittags hatte ich einen Arzttermin. Also machte ich mich auf den Weg in die Praxis. Es war noch ein reichliches Stück zu fahren, außerdem bekam man dort immer sehr schwer einen Parkplatz. Es gelang mir, pünktlich zu sein. „Herr Dr. Übermut ist heute leider nicht im Haus, aber Herr Dr. Schneider wird mit Ihnen sprechen. Da noch sehr viele Patienten warten, möchte ich Sie bitten, Ihre Produkte hier auf der Theke aufzubauen. Er kommt dann heraus.“ Den Termin hatte ich jetzt drei Monate. Es war mein erster Besuch in dieser Praxis. Am liebsten wäre ich wieder gegangen. Aber wenigstens kennen lernen wollte ich den Mann, um zu wissen, ob ich überhaupt noch einmal einen Termin vereinbaren sollte. Es dauerte. Mein Rücken plagte mich immer mehr. Ich konnte kaum noch stehen. Endlich ging die Sprechzimmertüre auf und Herr Dr. Schneider trat mit einem älteren Ehepaar heraus. Nun hatte ich die Erklärung für die lange Wartezeit. Immer das gleiche Problem, wenn zwei Leute gemeinsam in die Sprechstunde kamen, was der Eine vergaß, fiel dem Anderen ein, so wurde der Arzt meist sehr lange aufgehalten. Dieser gab noch ein paar Anweisungen an eine Helferin und kam dann auf mich zu. Er entschuldigte sich dafür, dass ich warten musste und dass er außerdem noch wenig Zeit hatte. „Sie sind das erste Mal bei uns, nicht wahr. Nicht das Sie glauben, es ginge immer so zu. Normalerweise nehmen wir uns Zeit für ein Gespräch. Aber wie ich sehe, sind mir Ihre Medikamente ja bekannt. Nur hier haben Sie offensichtlich eine neue galenische Form.“ Ich wies auf die Vorteile hin und er zeigte sich interessiert. „Ein Muster zur Probe ist aber etwas wenig. Sie bekommen gerne eine Unterschrift in Vertretung für meinen Kollegen, wenn Sie mir noch etwas Ware dalassen.“ Ich ließ insgesamt vier Packungen zurück, zwei pro Arzt und Jahr waren erlaubt. Die Unterschriften für den Musterempfang ließ ich mir beide geben, um eine davon zu Hause in die Karteikarte zu stecken. Bei meinem nächsten Besuch wusste der Kollege mit Sicherheit nichts von den Mustern und ich hatte die Gelegenheit, noch zwei Packungen zu platzieren.

 

Im Auto sitzend machte sich mein Handy bemerkbar. - Wir haben Sie nicht früher erreichen können. Bitte rufen Sie Ihre Mailbox an.- Nach entsprechendem Knopfdruck hörte ich: - Sie haben eine neue Nachricht. Erste Nachricht: „Hallo, hier ist Werner. Ich wollte Dir nur sagen, dass es heute mal wieder ein ziemlich langer Arbeitstag werden wird. Wenn es geht, rufe mich bitte zurück.“ Ich wählte Werners Nummer und hatte ihn auch gleich am Telefon. „Sitzt Du gut?“ meinte er. Was war denn jetzt schon wieder los. „Der Computer in der Zentrale funktioniert mal wieder nicht. Wir müssen heute Abend alle Apothekenaufträge der Woche herausholen, von Hand schreiben und an die Firma bzw. an die Großhändler per Post verschicken.“ Nein, das durfte nicht wahr sein. Die Nachricht traf mich wie ein Schlag. Seit wir mit dem Computer arbeiteten, gab es immer wieder Probleme. Anfänglich sollte alles doppelt ausgeführt werden, aus Sicherheitsgründen, später zeigte sich ein Fehler nach dem anderen im System, den wir zu Hause durch Mehrarbeit wieder ausgleichen mussten. Nichts funktionierte. Die angebliche Arbeitserleichterung durch den Computer war längst zur Doppelbelastung geworden. Offensichtlich saßen nur unfähige, wahrscheinlich preiswerte, Leute in der Zentrale.

Mein Körper fing wieder an, auf die Aufregung zu reagieren. Schweißperlen traten mir auf die Stirn und liefen mir den Nacken herunter. Eine innere Unruhe breitete sich aus, Tränen schossen mir in die Augen. Ich unterbrach die Telefonverbindung. Plötzlich schüttelte sich mein ganzer Körper und ich weinte los, ohne Chance, mich in die Gewalt zu bekommen. Ich weinte und weinte, am liebsten hätte ich noch laut geschrieen. Das konnte ich aber, Gott sei Dank, verhindern. Nach einer Weile sah ich auf die Uhr. So konnte ich unmöglich weiterarbeiten. Ein Blick in den Spiegel zeigte ein verheultes, verquollenes Gesicht. Ich rief die Adler-Apotheke an und teilte mit, dass mir die Zeit heute nicht mehr reichen würde. „In der nächsten Woche bin ich erneut in der Stadt, dann komme ich vorbei.“ Die Apothekerin reagierte sogar erleichtert. „Mein Mann wird ohnehin heute später nach Hause kommen und muss abends noch Mal fort. So hat er Zeit, sich den Bedarf vorher zusammenzustellen.“ Mir war es recht.

Voller Angst vor dem langen Abend fuhr ich Richtung Heimat. Meine Sehnsucht nach Ruhe war so groß, dass mir immer der Gedanke durch den Kopf ging, diesem, für mich unerträglichen Leben ein Ende zu setzen. Eigentlich müsste ich nur mit aller Wucht auf den vor mir fahrenden LKW rasen. „Bist du verrückt! Du hast zwei Kinder in der Ausbildung die dich noch brauchen.“ So immer wieder auf mich einredend, fuhr ich schließlich in meine Garage ein.

Vorsichtig versuchte ich meine Augen zu öffnen. Die Lider waren schwer wie Blei, so dass ich lediglich erkennen konnte, dass es um mich herum hell war. Nach einer Weile versuchte ich es noch Mal. Da erkannte ich meine Mutter, die neben mir stand und mich ansah. Gleich fielen mir die Augen wieder zu. „Sie scheint aufzuwachen;“ hörte ich eine Stimme wie aus weiter Ferne. Wo war ich? Was ist eigentlich passiert? Hatte ich geträumt, dass ich mich in einem schwarzen Tunnel befand? Wie in einem Wasserstrudel wurde ich mit den Beinen zuerst herunter gezogen, dagegen versuchte jemand mich an den Armen festzuhalten. Wieder bemühte ich mich, die Augen zu öffnen und erkannte, dass ich mich in meinem Schlafzimmer befand. Mein Kopf war schwer, meine Gedanken durcheinander. Dann hörte ich meine Mutter: „Warum hast Du das bloß getan, hast Du gar nicht an uns und Deine Kinder gedacht? Was wäre nur geschehen, wenn Papa und ich nicht zufällig einen Spaziergang hierher gemacht hätten! Wir haben gleich den Arzt gerufen.“

Langsam wurde mir klarer im Kopf. Ich hatte mich draußen auf die Liege gelegt. Es war ein sonniger warmer Sonntag. Volker, mein Mann, war mit unseren beiden Kindern ins Schwimmbad gefahren. Dort wollte er seine neue Freundin treffen, ein junges Mädchen von siebzehn Jahren, Schülerin. Mir kreiste das alles durch den Kopf. Ich war mit meinen dreißig Jahren abgeschoben, verbraucht, wertlos, uninteressant für ihn geworden. Durch Lesen wollte ich mich ablenken, aber es gelang mir nicht, mein Kopf wurde von den Gedanken nicht frei. Daraufhin ging ich an den Medikamentenschrank und holte meine Beruhigungstabletten heraus, ein Diazepam. Schon öfter habe ich mich damit abends in den Schlaf gebracht, anfänglich mit einer Tablette, später mit drei bis vier. Jetzt schüttete ich den Rest aus der Dose auf meine Hand, steckte alles in den Mund und trank ein Glas Wasser nach. Ich wollte endlich meine Ruhe. Dann legte ich mich wieder auf die Terrasse. Die Tabletten und die warme Sonne brachten mich sehr schnell zum Einschlafen.

Langsam öffnete ich wieder meine Augen. „Ich rufe erst einmal den Arzt an und teile ihm mit, dass Du wieder wach bist,“ sagte meine Mutter und verließ den Raum. Draußen hörte ich die Kinder. Sven trat zu mir ins Schlafzimmer und legte sich neben mich ins Bett. Bald darauf kam auch Melanie. Ich nahm beide in die Arme und drückte sie fest an mich. Wie konnte ich nur! Meine Kinder brauchten mich doch noch. Natürlich hat sich Volker immer um die Kinder gekümmert, aber mit einer neuen Freundin, wie würde die wohl mit den Kindern umgehen? Volker kam herein: „Auf ihr beiden, das Abendessen ist fertig, es wird Zeit für Euch, dass ihr ins Bett kommt.“ War es schon so spät? Offensichtlich hatte ich den ganzen Nachmittag verschlafen. Meine Mutter kam zurück ins Zimmer. „Geht es Dir besser?“ Ich nickte. „Papa wartet schon die ganze Zeit, deshalb werden wir beide jetzt nach Hause gehen. Du sollst morgen früh um zehn Uhr zu Dr. Breier kommen. Er will Dich sehen und mir Dir reden. Sven ist dann im Kindergarten, Melanie kannst Du so lange zu uns bringen.“ Wieder nickte ich, unfähig zu reden. Vorsichtig versuchte ich mich aufzurichten. Mühsam schleppte ich mich bis ins Badezimmer, ein Blick in den Spiegel versetzte mir einen Schreck. Gerötete Augen sahen ein kreidebleiches Gesicht und zerzauste Haare. Ich wollte mich etwas zurechtmachen, hatte aber keine Kraft. Auf allen Vieren kroch ich ins Schlafzimmer zurück und legte mich ins Bett. Sehr bald war ich wieder eingeschlafen.

Als ich aufwachte, zeigte der Wecker fünf Uhr morgens. Jetzt hatte ich die Energie aufzustehen, mich zu waschen und in die Küche zu gehen. Dort kochte ich mir einen Kaffee, essen konnte ich noch nichts. Es sah überall reichlich durcheinander aus, schmutziges Geschirr stand in der Spüle, im Wohnzimmer lagen die Spielsachen der Kinder herum. Langsam begann ich, alles aufzuräumen. Als die Kinder gegen sechs Uhr aufwachten, hatte ich schon einiges geordnet.

Kurz nach zehn Uhr saß ich im Sprechzimmer und wartete auf Herrn Dr. Breier, der dann auch bald zu mir kam. „Na Mädchen, was hast Du denn da angestellt!“ Er war schon etwas älter und hatte mich von Anfang an geduzt. Ich habe es einfach zugelassen. „Erzähl mal, was Dich dazu bewogen hat.“ Er hörte sich meine Geschichte an. „Klingt nicht gerade gut für Dich, aber dennoch kann man damit fertig werden. Du musst nur erst einmal Dein Selbstwertgefühl wiederfinden. Wenn ich Dich wäre, würde ich öfter in den Spiegel schauen, das wird Dich aufbauen, Du siehst nämlich gut aus.“ Bei diesen Worten ging ein leichtes Lächeln über mein Gesicht. „Ich gebe Dir eine Telefonnummer von einem Psychotherapeuten. Der ist wirklich sehr gut und bringt Dich sicher in ein paar Stunden wieder auf die Beine. Warte nicht, bis Du total unten bist. Die Krankenkasse wird die Kosten wahrscheinlich nicht übernehmen, Du kannst ja mal nachfragen. Sonst nimm Dein Erspartes.“ Er lachte, denn er wusste genau, dass da nicht viel vorhanden war. Wir hatten gerade erst gebaut und noch eine Menge Schulden. Aber irgendwie würde ich das Geld schon auftreiben. Ein kleiner Notgroschen lag immer auf dem Sparbuch und meine Mutter war ja auch noch da.