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05 MIRAMAR PLAZA

Das Miramar Plaza an der Balboa Avenue war eine der ersten Adressen in Panama-City. Von seiner Suite im neunzehnten Stock aus hatte Thakur einen traumhaften Blick auf die Skyline der Stadt und den Yachthafen des Hotels. Das war für ihn aber zweitrangig. Das große Teleskop, das er in der Mitte seines Schlafraums aufgebaut hatte, war auf den Pazifik gerichtet, genauer gesagt auf die King Caetan VII, die weit draußen in der Flachwasserzone auf Reede lag.

Der Großsegler war vor fünf Tagen aus seinem nordchilenischen Heimathafen in Richtung Panama ausgelaufen. Thakur hatte schon Tage vorher das Computersystem der Hafenmeisterei gehackt und sofort von der Abreise erfahren.

Es war genug Zeit geblieben, sich von der Familie zu verabschieden. Die Air India hatte ihn nach Hawaii gebracht, von wo aus er mit der PanAm nach Los Angeles geflogen war. Natürlich war den Beamten bei den Sicherheitskontrollen das große Zeiss-Teleskop mit den Nachführmotoren aufgefallen; aber Thakur hatte sich als Hobbyastronom ausgegeben, der in den Anden ein paar Beobachtungen machen wollte. Das hatte die Leute zufriedengestellt.

Über Mexico war Thakur schließlich nach Panama gekommen und hatte sich am Ufer des Pazifiks im Miramar eingemietet. Dabei war es ihm weniger um den Luxus gegangen, den das Hotel bot, als vielmehr um ein Zimmer, das möglichst hoch lag. Die Suite in dem rechten der Doppeltürme war für seine Absichten perfekt. Hier hatte er das Meer direkt vor sich. Sofort hatte er das Teleskop in seinem Schlafzimmer aufgebaut und stündlich den Horizont nach der unverwechselbaren Silhouette der King Caetan VII abgesucht.

Vorgestern war der Großsegler am Horizont aufgetaucht und vor der Küste vor Anker gegangen. Sofort war ein kleineres Boot zu Wasser gelassen worden, das nacheinander verschiedene Yachten besucht hatte, die in die Kanalzone einliefen. Thakur hatte sich gefragt, was das bedeuten konnte, aber das hatte sich schon am Abend geklärt. Etliche der Motoryachten hatten den Schutz der Kanalmündung verlassen und sich näher an den Großsegler herangeschoben. Beiboote jeder Größe hatten Gruppen von Menschen auf die King Caetan gebracht.

„Natürlich! Eine Party“, hatte Thakur geflüstert und wie zur Bestätigung seiner Worte war auf dem Segler die Beleuchtung eingeschaltet worden. Bis in die Masten hinein war das ganze Schiff plötzlich ein Lichtermeer gewesen, und wer es noch nicht gewusst hatte, der war spätestens jetzt darauf aufmerksam geworden, dass hier etwas Besonderes lief. Sicherlich hatten sich auf diese Art noch ein paar Extragäste anlocken lassen. Spender von Lebenskraft für den unersättlichen Appetit des Königs und seiner Gefolgsleute.

Das Teleskop hatte Thakur in gnadenloser Deutlichkeit die Strategie der Darksider gezeigt. Sie schläferten die Aufmerksamkeit der Partygäste ein und nahmen sie hypnotisch unter ihren Zwang, bis sie alles mit sich machen ließen. Frauen hatten sich mit hochgeschobenen Sonnentops an die Körper von Darksidern gepresst, während sich ihre Männer innig von den Darksider-Frauen hatten umarmen lassen. Die Gäste hatten sich förmlich an die Gastgeber herangedrängt und ihre entrückten Gesichter waren in der Lust erglüht, die sie dabei empfanden.

Thakur hatte nur sehen können was an Deck geschah, aber er hatte sich vorstellen können, dass es auf dem ganzen Schiff so zuging. Plötzlich war eine wilde Wut in ihm aufgeflammt. Warum konnte er nicht einer von denen sein? Warum war er dazu verdammt, zu altern und zu sterben, während die sich immer wieder nach Belieben mit Lebenskraft voll pumpen konnten? Blass vor Zorn und Neid war er von dem Teleskop zurückgewichen und hatte sich auf das Bett gesetzt. Nur langsam hatte er sich wieder beruhigen können. Das Schicksal hatte ihn auf die andere Seite gestellt, da konnte man nichts machen. Man konnte nur Eines tun: Sie töten, wo immer man sie traf!

Das alles war am ersten Tag gewesen. Jetzt lag Caetans Schiff schon mehr als achtundvierzig Stunden auf Reede. Es schien so, als wenn es diese ergiebigen Jagdgründe nicht so schnell verlassen würde.

Am späten Nachmittag klopfte es an der Tür. Thakur legte die Tageszeitung beiseite, stand auf und öffnete.

Greta kam herein. „Izzy noch nicht da?“, fragte sie sofort. „Hallo Thakur.“

„Hallo Greta. Du bist schnell! Nein Izzy ist noch nicht hier. Von Tel Aviv kommt man nicht so einfach weg wie von Brüssel. Das alte Lied.“

„Wenn ich die ganze Zeit zurückbekäme, die ich schon auf Izzy gewartet habe, dann könnte ich glatt zwei Monate Urlaub machen“, meinte Greta.

„Wo wohnst du?“

„Im Decápolis, Zimmer 414.“

Thakur nickte zufrieden. So konnte man sie kaum in Verbindung bringen, falls jemand mal auf die Idee kommen sollte, sich die Buchungen der Hotels näher anzusehen.

In Paris hatten sich ihre Wege zunächst getrennt, und jeder von ihnen hatte ein paar Wochen in seinem Heimatland verbracht. Da man nie weiß, wer gerade die Telefon- und Datenleitungen überwacht, hatten sie in dieser Zeit keinerlei Kontakt miteinander gehabt. Vor zwei Tagen hatte Thakur dann unter dem Nickname „greyscale“ in einem bekannten Blog ein Bild des Miramar-Plaza gepostet. Das Bild hatte die Bezeichnung „panama-city-1932.jpg“ gehabt, was ein Hinweis auf Ort und Zimmernummer gewesen war. „Redcrab“ hatte mit einem Link zu dem Song „Leaving on a jetplane“ geantwortet und „swordfish“ blieb mit dem Link zu „give me a ticket for an aeroplane“ voll im Thema. Die Verständigung hatte gut geklappt. Zwei Tage nachdem Thakur die Nachricht gepostet hatte, saß Greta ihm schon gegenüber und wollte mehr über den Fortgang des Auftrags wissen.

„Die King Caetan liegt vor der Küste und er ist an Bord“, erzählte Thakur.

„Woher weißt du das?“

„Komm mit ins Schlafzimmer und ich zeig’s dir.“

Greta stand auf und folgte Thakur. „Wow!“, entfuhr es ihr, als sie das riesige Teleskop auf dem schweren Stativ entdeckte, das in der Nähe des Fensters stand. Sofort steuerte sie auf das Gerät zu.

„Warte noch!“ Thakur setzte sich auf den Stuhl vor das Teleskop, schaute durch das Okular und richtete das Gerät neu aus. Die Elektromotoren summten kurz auf und richteten die Optik wieder genau auf das Schiff. Unmerklich schwenkte das Teleskop um ein paar hundertstel Grad nach rechts. „So, jetzt!“ Thakur gab das Okular frei und stand auf.

Greta setzte sich, beugte sich zu dem Gerät hinab und konnte ein zweites „Wow!“ nicht unterdrücken. „Zum Greifen nah!“, staunte sie. „Man kann die Glieder der Ankerkette erkennen. Gib mir mal die Fernbedienung.“

Thakur händigte ihr das Kästchen mit den Steuerelementen für die X- und Y-Achse sowie die Zoom- und Schärfefunktion aus.

Greta machte sich kurz mit dem Gerät vertraut und ließ dann die Motoren schnurren. Was immer man ihr sonst nachsagen konnte: Berührungsängste mit technischen Anlagen kannte sie nicht. Offenbar suchte sie das ganze Schiff mit maximaler Vergrößerung ab.

„Ah, da ist er ja!“, knurrte sie plötzlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.

„Caetan?“

„Caetan!“, bestätigte Greta. „Ich könnte die Knöpfe an seinem Hemd zählen. Wie kräftig er aussieht. Man möchte schwören, dass er noch keine Fünfzig ist.“ Sie richtete sich auf und reckte sich. „Tolles Gerät!“, meinte sie. „Gibt’s die nicht auch mit Kamerafunktion, sodass das Bild auf einem Monitor erscheint?“

„Gibt es“, bestätigte Thakur, „aber der Verlust an Bildschärfe ist zu groß. Pure Optik ist besser. Übernimmst du mal die Überwachung? Ich hab schon einen total steifen Hals. Es müsste gleich losgehen.“

„Was geht los?“ Greta beugte sich wieder über das Okular und strich sich die halblangen, roten Haare in den Nacken.

„Die Party. Schätze, Caetan bekommt gleich jede Menge Besuch.“

„War das gestern auch so?“ Greta sah Thakur kurz an.

„Ja! Lauter Touristen, die er von seinen Leuten einladen lässt.“

„Ich lade dich zum Essen ein, und du wirst das Essen sein“, meinte Greta und wandte sich wieder dem Teleskop zu.

„So sieht das aus!“ Thakur verließ den Schlafraum und machte es sich im Wohnzimmer gemütlich. Seine Nackenwirbel knirschten bei jeder Bewegung des Kopfes wie eingerostete Türangeln. - Vielleicht wäre eine Observierung über Okularkamera und Monitor doch besser gewesen.

Es dauerte nicht lange und aus dem Nebenraum kam die erste Meldung: „Da legen Motorboote an und noch so einige sind aus der Kanalzone unterwegs.“

„Genau wie gestern.“ Thakur versuchte immer noch, seinen verspannten Nacken wieder geschmeidig zu bekommen. „Schau genau hin. So nah ist man selten dran.“

Wenig später schien die Party schon voll im Gange zu sein. „Völlig hemmungslos!“, ließ Greta sich hören. „Die wissen gar nicht mehr, was sie tun. – Widerlich! - Die armen Leute!“

„Hm“, machte Thakur. Er spürte schon wieder den Neid in sich aufsteigen. „Das geht jetzt noch eine Zeit so weiter. Das wollte ich nur wissen - dass die jeden Abend Party machen, meine ich.“

„Ich will da hin!“ Greta kam durch die Tür und zeigte hinaus auf das Meer, wo das große Segelschiff gemächlich in der Dünung auf und ab schwang. Mit bloßem Auge betrachtet war es so klein, dass man es mit dem Daumen der ausgestreckten Hand hätte abdecken können. „Ich habe einen Plan und ich will auf das Schiff!“

„Lass uns das bereden, wenn Izzy da ist“, schlug Thakur vor. So hatten sie es immer gemacht und daran würde sich auch nichts ändern. „Für heute ist Feierabend. Was meinst du, wollen wir uns ein nettes Restaurant in der Stadt suchen? Ich lade dich ein.“

„Ich bin dabei.“ Greta hatte sofort begriffen, dass es sinnlos war, mit ihrem Plan vorpreschen zu wollen, solange sie noch nicht vollzählig waren. Vielleicht hatte Izzy ja einen noch viel besseren Vorschlag. „Außer Bordverpflegung habe ich heute noch nichts gehabt. Mit was willst du mich denn füttern?“

 

„Schauen wir mal.“ Thakur setzte sich vor sein Notebook. Greta kam heran und sah ihm über die Schulter. Innerhalb weniger Minuten hatten sie ein Lokal gefunden, das ihren Ansprüchen genügte. Es wurde sogar ein kleines Unterhaltungsprogramm geboten, und Thakur reservierte sofort online einen Tisch für neun Uhr.

„Ein bisschen Zeit haben wir noch. Vorher einen kleinen Stadtbummel? Wir nehmen uns ein Taxi, lassen uns schon mal in die Nähe des Restaurants bringen und laufen ein bisschen rum.“

„Gern!“ Greta griff nach ihrer Handtasche, steuerte auf das Bad zu und schloss die Tür hinter sich. Nach zwei Minuten tauchte sie wieder auf. „Kann losgehen!“, verkündete sie. „Meinst du, dass noch ein paar Läden auf haben?“

„Aber sicher!“ Gut gelaunt ließ Thakur seiner Kollegin an der Zimmertür den Vortritt. Er war zufrieden. Der Job lief gut an und das Restaurant, das sie ausgesucht hatten, war fast schon eine Garantie für einen unterhaltsamen Abend. Greta machte einen hochmotivierten Eindruck und jetzt musste nur noch Izzy auftauchen. Aller Erfahrung nach würde das morgen der Fall sein, und dann konnten sie darangehen, einen Plan auszuarbeiten. So langsam wurde das Jagdfieber in Thakur wach. Caetan war so gut wie tot. Die ganze gestohlene Lebenskraft würde ihm nichts nützen. Thakur konnte es kaum erwarten, ihn sterben zu sehen.

Gegen Mittag des nächsten Tages stand Izzy vor der Tür des Zimmers im neunzehnten Stock. Nach kurzer Begrüßung führte Greta ihn ins Schlafzimmer, wo Thakur gerade Schichtdienst am Teleskop machte. Im Moment war auf der King Caetan nicht viel los. Wie ein Totenschiff dümpelte der Viermaster in der Mittagshitze. Nur eine dünne, bläuliche Abgasfahne am Heck verriet, dass der Generator lief, der die Bordelektrik mit Strom versorgte. Noch nicht einmal Wachen waren zu sehen. Thakur vermutete, dass die Überwachung der Umgebung über Kameras in der Takelage lief.

Izzy zeigte sich bei weitem nicht so beeindruckt von dem Teleskop wie Greta. Während seiner Militärzeit hatte er auf Zerstörern ebenso leistungsfähige Optiken kennengelernt, die von der Schiffsartillerie zur Zielortung und Entfernungsbestimmung benutzt wurden. „Hi, Thakur“, grüßte er nur. „Na, lohnt sich die Quälerei? Warum lässt du das nicht über einen Monitor laufen?“

„Ist besser so!“, brachte Thakur säuerlich hervor. Es war ganz offensichtlich, dass er einen Fehler gemacht hatte, aber dass seine Leute ihm das so deutlich sagten, konnte er nur schwer ertragen. „Lass uns rübergehen. Ich gebe es auf. Da drüben ist ja doch nichts los. – Hast du einen Schlachtplan mitgebracht?“

„Sicher doch!“ Izzy verließ den Raum schon wieder, während Thakur sich noch mühsam aufrichtete und reckte. „Lass uns über den Job reden.“

„Schlachtplan“ traf es genau, denn Izzy war für eine recht brachiale Lösung. Er schlug vor, Caetan im Wasser aufzulauern. Schließlich war es das Fest des Wassers, da verlangte der Ritus es, dass der König ins Meer stieg und den Göttern dankte. Izzy bot sich an, die Sache bei dieser Gelegenheit mit Pressluftharpune und Explosivpfeilen klarzumachen, wie er sich ausdrückte. Für ihn als ausgebildeten Kampfschwimmer wäre das sicher ein gangbarer Weg gewesen, aber es blieben Unsicherheiten: Allein würde der König bestimmt nicht sein, und wenn seine Leute Izzy vorzeitig entdeckten, sah es schlecht aus für ihn – und für den Plan. Wenn der König bemerkte, dass man es auf ihn abgesehen hatte, würde er mit Sicherheit sofort in den Weiten des Pazifiks verschwinden und so schnell nicht wieder auftauchen.

Nein, so eine Vorgehensweise widersprach Thakurs Naturell zutiefst. Er blieb lieber auf Distanz und erledigte die Jobs, die der Heilige Pakt ihm gab, mittels Scharfschützengewehr oder ferngezündetem Sprengsatz. Da kam es dann aber sehr darauf an, wo Caetan sich gerade befand. Würde er den Ritus auf dem Stück Strand vor seiner Villa in Chile abhalten, oder im offenen Wasser von seinem Schiff aus? Man wusste es nicht. Völlig undenkbar auf hoher See von einem schwankenden Boot aus einen sauberen Schuss zu platzieren. Genauso unmöglich, gleich die ganze King Caetan VII in die Luft zu sprengen. Schließlich bestand die Besatzung nicht nur aus Darksidern, und da keine Menschen zu Schaden kommen durften ... Bedauerlich!

Als bester Vorschlag stellte sich der von Greta heraus. Beim Fest des Wassers würden sich die Darksider kaum die Gelegenheit entgehen lassen, nach dem Ritus ein großes Fest zu feiern. Egal, ob an Land oder auf dem Schiff: Es würden auch Menschen dort sein, an deren Lebenskraft man sich ein wenig bedienen konnte. Darauf basierte Gretas Plan. Sie wollte sich in Thakurs Begleitung an Caetan heranmachen, und wenn er sie berührte, würde sie auf seinem Körper eine tödliche Überraschung hinterlassen. Sollte das nicht klappen, war immer noch Thakur da, der dem König kurzerhand das Genick brechen konnte. Möglich war das allemal, wenn es dem Inder auch überhaupt nicht behagte, dass er sich so nah an sein Opfer heranwagen sollte. Was nutzte ihm der tote König, wenn dreißig Darksider auf ihn losgingen, und er die Sache selbst nicht überlebte? Schließlich hatte Caetan ein ganzes Rudel Bodyguards. – Aber auch dafür hatte Greta so etwas wie eine Lösung parat, denn Izzy sollte mit einem sehr schnellen Boot in der Nähe sein, und sie notfalls freischießen.

Thakur hatte seine Zweifel. Eigentlich war die Sache ihm zu gefährlich, aber da es keinen besseren Plan gab, stimmte er zu.

An den nächsten beiden Tagen wechselten sich Greta, Thakur und Izzy bei der Observierung der King Caetan ab. Thakur hatte in der Stadt eine hochauflösende Kamera und einen Adapter für das Teleskop besorgt. Als das Zeug angeschlossen war, konnte die Überwachung per Notebook-Display erfolgen, und die verkrampfte Haltung über dem Okular gehörte der Vergangenheit an.

Sie stellten fest, dass die Bordpartys immer nach dem gleichen Muster abliefen. Tagsüber verteilte Caetans Team Einladungen an die Besatzungen der Yachten und am Abend wurde frische Lebenskraft getankt. Der rege Verkehr in der Mündung des Panamakanals sorgte für steten Nachschub.

Einmal hatte es einen Zwischenfall gegeben: Ein Mann, der seine widerstrebende Frau hinter sich her zerrte, hatte das Schiff mit allen Anzeichen der Empörung verlassen und war mit seinem Motorboot davongerauscht. Niemand hatte ihn aufgehalten, aber für Thakur und sein Team war es interessant, dass es offenbar Menschen gab, die sich dem Einfluss der Darksider entziehen konnten.

Greta konzentrierte sich besonders darauf, welchen Frauentyp Caetan bevorzugte. Es stellte sich heraus, dass er eher die Dunkelhaarigen und Brünetten liebte, die auch gern eine etwas größere Oberweite haben durften.

„Das kriege ich hin“, meinte Greta, während sie prüfend an sich hinuntersah. „Mach mir mal einen Termin im Friseursalon.“

Thakur griff zum Telefon und eine Stunde später kam Greta mit hellblonden Haaren zurück. „So, das ist erst mal Tarnung genug“, stellte sie fest. „Sobald die Party anfängt, können wir rausfahren, und uns die Sache aus der Nähe ansehen.“

Thakur hatte immer noch Bedenken. „Du begibst dich in Gefahr, das weißt du.“

„Sicher.“

„Du bist jetzt zwar blond, aber immer noch jung und attraktiv, ein wahrer Leckerbissen für jeden Darksider.“

„Keiner von ihnen wird mich berühren.“ Greta griff in ihre Handtasche und brachte ein kleines Fläschchen hervor. „Mein Abwehrzauber“, gab sie bekannt und hielt den Flacon hoch. „Wirkt besser als Knoblauch gegen Vampire. Willst du gleich auch was, wenn es losgeht?“

„Ich nehme ein wenig Schiffsdiesel. Das hemmt den Appetit genauso gut. Du wirst dich stark parfümieren müssen.“

„Genau das werde ich auch machen.“

„Dann kommt mir bloß nicht zu nahe.“ Izzy sah seine Kollegen streng an. „Menschliche Stinkbomben sind mir zuwider. Da kann ich unsere Darksider-Freunde gut verstehen.“

„Sich zu parfümieren ist Ausdruck höchster Kultur“, wies Greta ihn zurecht.

„Wölfe wälzen sich im Kot von Pflanzenfressern, um den Raubtiergeruch zu überdecken. Ausdruck höchster Kultur, ja?“

Greta lächelte. „Beim Anschleichen an die Beute haben sie ihre Erfolge damit. Intelligenz besiegt Instinkt. Noch Fragen?“

Thakur telefonierte derweil mit der Rezeption und sorgte dafür, dass gleich im Yachthafen des Hotels ein großes Motorboot für sie bereitlag.

„It’s partytime“, knurrte Izzy, und Greta sprühte sich schon mal ein wenig Parfüm auf die Handgelenke und das Brustbein.

Keiner von ihnen hatte auch nur den geringsten Zweifel daran, dass man Greta und Thakur auf das Schiff des Königs lassen würde. – Direkt in die Höhle des Löwen.

06 HERCULE

Im neuen Jahrtausend war es weltweit schwieriger geworden, sich eine andere, glaubhafte Identität zuzulegen. Das bedeutete aber nur, dass man über die neueste Technologie verfügen musste, um die Behördencomputer zu überlisten. Wie immer und überall ebnete auch hier Geld den Weg, und so war die Familie Montenaux, die in San Francisco ankam, eine andere als die, die aus Marseille abgereist war.

Ein ewiges Problem bei den Darksidern war, dass sie sich jung erhalten konnten, und die meisten von ihnen das auch taten. Diego wusste nicht, wie alt seine Eltern wirklich waren. Sie sprachen von der spanischen Inquisition, als seien sie selbst dabei gewesen, aber sie wirkten wie ein Ehepaar Mitte dreißig. Um vor den normalen Menschen zu verbergen, dass sie nicht alterten, war es immer wieder nötig gewesen, das Land oder sogar den Kontinent zu wechseln, und jetzt war es wieder mal so weit.

Diego war herangewachsen, und langsam wurde es unwahrscheinlich, dass so junge Eltern einen Sohn um die Zwanzig hatten. – Zeit, die Dinge mal wieder ein wenig gerade zu rücken, wie Diegos Vater es ausdrückte; also hatten sie auf hoher See alle alten Ausweispapiere vernichtet. Synchron dazu waren Dutzende von Amtscomputern manipuliert worden, um die Daten der Familie an die neuen Identitäten anzupassen. Aus den neuen Pässen konnte man jetzt herauslesen, dass René Felipe Montenaux aus Bretonville, Kanada, fünfzehn Jahre älter war, als sein Bruder Diego. In Zukunft würde Diego sich also als der Bruder seines Vaters ausgeben müssen, seine Mutter war offiziell zu seiner Schwägerin geworden, und er selbst war nun ein in Montreal geborener Franco-Kanadier. Nun, ja, er würde sich daran gewöhnen.

Als die Manhattan unter Führung eines Lotsen in die San-Fancisco-Bay einlief, war es später Abend. Die Golden-Gate-Bridge war erleuchtet und die Kuppel aus Streulicht über der Stadt schimmerte im Wasser, genau wie die Lichter der Stadt selbst. Langsam steuerte die große Yacht auf den Tiefwasserhafen zu und machte an einem abgelegenen Kai bei dem Montenaux-Containerterminal fest. Der Lotse ging von Bord und wurde von einer Barkasse abgeholt.

Diego entschloss sich, die letzte Nacht an Bord im Salzwasserpool zu verbringen. Die nächsten Tage würden anstrengend werden. Die Prüfungen würden Einiges an Kraft kosten, und es war ungewiss, wann er wieder Zeit finden würde, im Meer zu schwimmen.

Irgendwann mitten in der Nacht drang ein Poltern an Diegos Ohr und er öffnete kurz die Augen. Die Nachtschicht der Hafenarbeiter holte wohl gerade sein Fahrzeug aus dem Frachtdeck. Er schloss die Augen wieder, ließ sich weiter in dem angenehm temperierten Wasser treiben, während sich sein Körper durch die Haut mit den wichtigen Salzen und Nährstoffen aus dem Meer auflud. Er kümmerte sich nicht weiter um das leise Gerumpel, das hin und wieder durch den Schiffskörper bis in den Pool drang. In einem dämmrigen Halbschlaf drifteten seine Gedanken weit in die Vergangenheit zurück:

Die Manhattan war mehr als ein Jahrzehnt lang fast so etwas wie Diegos Gefängnis gewesen, nachdem er als Fünfjähriger das Mädchen aus Versehen getötet hatte. Seine Eltern waren mit ihm auf dieser Yacht um die ganze Erde gereist. Sie hatten versucht, auf diese Weise der Vergangenheit zu entkommen und neues Unheil zu verhindern.

Diego kannte hier jeden Winkel und für lange Zeit waren Erwachsene die einzigen Personen gewesen, mit denen er hatte reden können. Es hatte da einen strengen Privatlehrer namens Ferris gegeben und ab und zu war auch ein Geistlicher aus Diegos Volk an Bord gekommen und hatte mit ihm über die Alte Schuld gesprochen, die der Junge seiner Ansicht nach viel zu früh auf sich geladen hatte.

 

Das alles war aber verblasst durch Diegos eigene Erinnerung an den unseligen Nachmittag, an dem das Mädchen in seinen Armen gestorben war. Immer wieder war die Kleine in seinen Träumen aufgetaucht. Diego hatte sich als Verlorenen gesehen, der es nie wieder wagen konnte, einen Menschen innig zu berühren. Dieses Gefühl hatte bis jetzt immer im Vordergrund gestanden. Mehr als einmal hatte er mit dem Schicksal gespielt und sein Leben mutwillig aufs Spiel gesetzt, bis er eines Tages in einem Strandlokal Lana gesehen hatte.

Von diesem Tag an war alles anders geworden. Er hatte es gewagt, Lana anzusprechen, und sie war der Inbegriff von allem, was Diego sich wünschte. Alles hätte gut werden können, aber dann hatte Dolores, seine Cousine, sich nicht beherrschen können und Lanas Freundin so viel Lebenskraft genommen, dass sie über Nacht zu einer verwirrten, alten Frau geworden war.

Lana hatte die Sache aufklären wollen, und er hatte ihr gestehen müssen, dass er in gewisser Weise darin verwickelt war. Sie hatten sich gestritten und er hatte dafür gesorgt, dass Dolores für dreißig Jahre nach Sweetwater, in das Gefängnis der Darksider, geschickt worden war.

Lana hatte das alles verstanden. Sie wusste, dass er einer anderen Rasse angehörte, dass sein Volk nach eigenen Regeln lebte, und sie hatte das akzeptiert. – Und nun waren sie wieder getrennt. Sie lebte in Paris, tief im Binnenland, mitten in Europa, und er würde sich für die nächsten Jahre an der Westküste Nordamerikas aufhalten müssen.

Diego wollte daran glauben, dass sie auf ihn warten würde. Er wünschte es sich so sehr, aber wenn er die Sache richtig überdachte, war es nahezu hoffnungslos.

Um die Mittagszeit saß Diego allein auf dem Oberdeck, las ein wenig in einem amerikanischen Magazin und genoss die Sonne. Er sah kurz auf, als sein Porsche mit dem typisch heiseren Motorgeräusch aus der Stadt zurückkam. Einer der Angestellten des Containerterminals war mit dem Wagen bei der Umweltschutzprüfung und auf der Zulassungsstelle gewesen. Alles war problemlos gelaufen und die brandneuen, kalifornischen Nummernschilder funkelten in der Mittagssonne.

„Schönes Auto!“, sagte der Mann, nachdem er an Bord gekommen war und Diego die Schlüssel überreicht hatte. Offensichtlich hatte der Job ihm Spaß gemacht.

Diego bedankte sich und machte sich bereit, die Manhattan zu verlassen. Zwei Reisetaschen und sein Laptop, das war alles, was er brauchte. Die Fachbücher würde ihm ein Kurierdienst direkt nach Berkeley bringen. Diego hatte einfach keine Lust, die etwa fünfzig Kilo schwere Kiste in seinen Porsche zu wuchten. Sie hätte auch gar nicht in den Kofferraum gepasst. Das ging per Lieferwagen nun wirklich besser.

Er verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung von seinen Eltern, oder besser: von Bruder und Schwägerin, und verließ die Manhattan, die schon am Abend wieder in Richtung New York auslaufen würde.

„D43M0N“ leuchtete es Diego dunkelblau vom weißen Nummernschild entgegen. Da hatte der Angestellte ihm offenbar ohne besonderen Auftrag ein Namensnummernschild besorgt. Die Buchstabenkombination sollte wohl für Diego Montenaux stehen, erinnerte ihn aber viel eher an das Wort „DAEMON“. – Irgendwie erwischt einen das Schicksal doch immer, und wenn es bloß mit solchen Nebensächlichkeiten ist.

Der neue Pass tat seinen Dienst und weder die Einwanderungsbehörde noch der Zoll machten Schwierigkeiten. Die Hackerzentrale der Darksider hatte mal wieder ganze Arbeit geleistet und Diegos neue Identität hielt natürlich jeder Überprüfung stand. Keine zehn Minuten nachdem er den Porsche vor dem Bürogebäude gestoppt hatte, konnte er schon weiterfahren.

San Francisco hatte auf Diego schon immer den Eindruck eines versteinerten Meeres mit mächtigen Wogen gemacht. Er verzichtete darauf, auf den nächsten Freeway einzubiegen und fuhr nur so zum Spaß ein wenig durch die Stadt. Tief schnitten sich die Straßen ihren Weg durch die Häuserschluchten. Schnurgerade zogen sie sich steile Hügel hinauf. Sie schienen direkt in den Himmel zu führen, um dann unvermittelt so plötzlich in das nächste Tal abzukippen, dass Diego unwillkürlich das Lenkrad fester umfasste. Das waren die Kreuzungen, wo leichtsinnige Fahrer, die nicht auf die Schilder achteten, mit ihren Stretchlimousinen und Reisebussen schon mal auf dem Asphalt aufsetzten. Hier mussten fast täglich Fahrzeuge freigeschleppt werden, weil die Räder den Bodenkontakt verloren hatten.

Die Gegend wurde flacher. Trotz der Nacht im Pool fühlte Diego sich ein wenig abgespannt. An einer günstigen Stelle stoppte er vor einem Starbucks und gönnte sich einen Kaffee und eine kleine Flasche Wasser. Das würde reichen, ihn bis zum Abend fit zu halten.

Zeit, in Richtung Wohnheim aufzubrechen. In dieser Gegend war Diego noch nie gewesen. Er hatte sich eindeutig verfahren, aber die Atmosphäre der Stadt gefiel ihm, und er hielt es nicht für nötig, das Navi zu aktivieren. Irgendwann erreichte er wieder bekanntes Gelände. Hier in der 14th Street gab es irgendwo eine Frachtagentur, mit der sein Vater zusammenarbeitete.

Er bog in die Mission-Street ein und suchte ein Hinweisschild, das in Richtung Bolinas wies, wo das Wohnheim lag. Nun wurde es doch Zeit, sich vom Navigationsgerät helfen zu lassen. Diego benutzte die Spracheingabe und nannte die Adresse des Wohnheims. Danach rief er bei der Hausverwaltung an, damit jemand mit dem Zimmerschlüssel dorthin kam, um ihn einzuweisen. Vierzig Minuten später war er da.

Das altehrwürdige Wohnheim lag in der Nähe des Stinson Beach innerhalb eines großen Areals. Schon vor Generationen hatten die Darksider hier etliche Hektar Land direkt an der Küste gekauft und nach und nach bebaut. Das Gelände wirkte wie eine gut gepflegte Ansammlung von Vorstadtvillen und Luxusapartmenthäusern. Auch die Fahrzeuge der Bewohner ließen erahnen, dass es nicht gerade die ärmsten Leute waren, die hier wohnten. Die zentrale Poststelle und die Entsorgungseinrichtungen an der Zufahrt des Geländes deuteten darauf hin, dass selbst Briefträger und Müllmänner keinen Zugang zu den Wohnhäusern hatten.

Auf einen Zaun um das Gelände herum hatte man verzichtet. Nur ein großes Schild an der Zufahrtsstraße wies unübersehbar in mehreren Sprachen darauf hin, dass alle Besucher sich zuerst in der Poststelle zu melden hatten.

Diego fühlte sich nicht als Besucher, und die Schranke war oben, also fuhr er unbehelligt auf das Gelände und parkte den Porsche direkt am Wohnheim neben einem Maserati-Cabrio. Er verzichtete darauf das Verdeck des Wagens zu schließen, nahm sein Gepäck und ging auf den Haupteingang zu. Nach knapp zwanzig Schritten stoppte der Van eines privaten Wachdienstes neben ihm. „Leichte Jagd, Sir“, sprach der Beifahrer ihn mit dem Gruß der Darksider an.

Diego blieb stehen. „Langes Leben! Ich wohne hier“, sagte er. „Erstsemester, äh - Freshman.“

„Willkommen in Berkeley, Sir.“ Der Beifahrer stieg aus. „Dürfte ich Ihre Papiere sehen?“

„Sicher.“ Diego stellte die Taschen ab und reichte dem Mann seinen Pass und die Bestätigung der Hausverwaltung für Zimmer 512 zum heutigen Tag.

„Danke, Sir.“ Der Mann kletterte wieder auf den Beifahrersitz und glich die Daten auf einem Notebook ab, das auf dem Armaturenbrett angebracht war. Er brauchte dafür nur wenige Sekunden, da er bloß die Barcodes auf den Dokumenten auslesen musste.

„Alles in Ordnung Sir.“ Der Mann reichte Diego seine Papiere zurück. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“

„Danke.“ Diego nahm die Taschen wieder auf und ging ins Haus.

Die Verwaltung hatte zur Schlüsselübergabe eine dunkelhaarige junge Frau geschickt, die in der Eingangshalle auf ihn wartete. Ohne jeden Zweifel eine Darksiderin. Sie trug eine Kennkarte an ihrer Kostümjacke und verzichtete darauf, seine Papiere zu prüfen, als er sich mit kurzen Worten vorstellte. Wahrscheinlich hatte sie durch die Glastüren hindurch gesehen, dass der Mann von der Security das schon erledigt hatte. „Leichte Jagd!“, grüßte sie.