Das Liebesleben der Stachelschweine

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4 Der lärmempfindliche Maulwurf war Dietrichs Lieblingstier

In Onkel Haralds Wohnzimmer hing – soweit Dietrichs Erinnerung zurückreicht – immer diese billige Reproduktion eines Ölgemäldes aus den Dreißigerjahren. Es zeigte einen vierschrötigen, auf ungehobelte Art gesunden, anmaßend grinsenden Männerschädel mit schräg aufgesetztem, schmalkrempigem Bauernhut vor einer winterlichen Berglandschaft im Sonnenlicht. Ein Geschenk aus sehr lieber Hand, hatte der Onkel gesagt und tiefgründig gelächelt.

Dietrich fand das Gemälde abstoßend. Als er nach Haralds Tod dessen Wohnung geerbt hatte, entfernte er den vorwitzigen Bauernplutzer nicht nur, er zerstörte ihn mit einer für ihn selbst unerklärbaren Wut, indem er das Bild in kleine Stücke schnitt und diese anzündete. Dietrich hielt das Fanal fest und gab seiner Fotografie den Titel Verbrennung eines rotzfrechen Knechts.

Über dem Sofa, wo der entfernte Naturbursche eine helle Fläche hinterlassen hatte, brachte Dietrich die hübsch gerahmte Großaufnahme eines Maulwurfs an. In augenloser Zufriedenheit lag das Pelztierchen auf einem frisch aufgeworfenen Humushügel, umgeben von einer frühsommerlichen Blumenwiese. Die großen Grabekrallen standen seitlich ab und das rosige Schnäuzchen, aus dem einige dünne Härchen herauswuchsen, überragte wie ein kleiner Sendemast das breite, schweigsame, gutmütig dumme Maul.

Der lärmempfindliche Maulwurf war Dietrichs Lieblingstier. Er lebt und wirkt im Verborgenen, wirft aber, des Beifalls vielleicht doch bedürftig, Zeichen seiner Tätigkeit auf. Darüber ärgern sich die Menschen und verfolgen die unschuldige Kreatur. Dietrich war als Achtjähriger Zeuge einer abscheulichen Maulwurfsjagd geworden. Als im Garten des Wutscherhäusls der achte Hügel aufgeworfen worden war, lauerten Vati und Onkel Heinz dem unerwünschten Gartengast auf. Keine zehn Minuten hatten sie in konzentrierter Jagdhaltung zugebracht, da bewegte sich das Erdreich. So verriet das ahnungslos ackernde Tier seinen Standort. Jetzt!, rief Vati. Onkel Heinz rammte blitzartig den Spaten in die Erde und beförderte den zitternden, zappelnden Maulwurf an die Oberfläche. Bevor das Tier seinen Schock überwinden und flüchten konnte, drosch Vati die breite Fläche einer langstieligen Gartenschaufel wuchtig darauf. Onkel Heinz, angetan mit grobem Schuhwerk, Wadenstutzen und Knickerbocker, sprang, ein entschlossenes Hopp! rufend, darauf und trampelte auf der Schaufelfläche herum. Erledigt!, sagte Vati. Heinz Albert stieg von der Schaufel. Als Vati sie weghob, zeigte sich den wohlig erregten Jagdgästen ein formloser Matsch aus Blut, Fell und Innereien. Weidmannsheil!, sagte Vati. Weidmannsdank!, sagte Heinz. Mittagessen!, rief Tante Berta und klatschte in die Hände. Dietrich kotzte.

Wenn einem Lebewesen grobes Unrecht widerfährt, davon war Dietrich überzeugt, dann ist es der Maulwurf. Man unterstellt ihm, er fräße die Wurzeln der Gartenpflanzen an. Das stimmt aber nicht, er ernährt sich von Schnecken, Engerlingen, allerlei Gewürm. Großzügig betrachtet erweist er sich als Nutztier, aber man dankt es ihm nicht. Einiger unerheblicher Erdhaufen wegen schimpft man den Maulwurf eine Landplage und ignoriert seinen wohltätigen Fleiß, seine Verdienste um ein lockeres Erdreich, sein in unauffälliger Bescheidenheit vorgeführtes Können unter Tage.

Hätte man mir, dachte Dietrich, vor drei Jahren, als der Hofrat Birkel endlich in den Ruhestand trat, die Abteilungsleitung anvertraut, was könnte ich heute alles bewirken! Was könnte ich einbringen an Ideen für Projektentwicklung und Strukturreform! Aber nein, man befördert mich nicht! Im Gegenteil, man demütigt mich, indem man mir diesen Kerzenschlucker vor die Schnauze setzt, diesen Parteigünstling, diesen Quadratschädel! Meine Bewerbung haben die Herrschaften nicht einmal in Erwägung gezogen. Die Einladung zu einem Gespräch wäre wohl das Mindeste gewesen, und wenn sie nur aus Taktgefühl erfolgt wäre. Aber bitte, dann eben nicht! Dann eben Dienst nach Vorschrift! Mehr hat man von mir nicht mehr zu erwarten.

Dietrich holte eine zweite Flasche Bier aus dem Kühlschrank und zog sich gekränkt in die hinteren Bezirke seiner Gedankenwelt zurück. Hatte er alles falsch gemacht? Hätte er doch Jura studieren sollen, wie es ihm Vati und Joachim so eindringlich nahegelegt hatten? Joachim war, als Dietrich die Matura bestanden hatte, mit gutem Erfolg bestanden hatte, schon Konzipient in Heinz Alberts Kanzlei und wollte den jüngeren Bruder von einer gemeinsamen erfolgreichen Zukunft überzeugen: „Onkel Heinz hat sich aus dem Geschäftlichen zurückgezogen. Sein Partner Dr. Ferstl ist auch schon sechzig. Dietrich, in einigen Jahren wird das unsere Kanzlei sein! Pernauer & Pernauer. Anwälte.“

Hätte ihm nicht Onkel Harald damals den Rücken gestärkt, wer weiß, vielleicht hätte er sich überreden lassen. Dietrich hatte sich aber behauptet gegen väterliche Autorität und brüderliches Werben, und darauf war er damals, als Achtzehnjähriger, stolz gewesen. Nicht Jura, nein, Mathematik und Geografie, vor allem Mathematik. Die reine, körperlose Welt der Zahlen hatte ihn immer schon angezogen, es gab keine schönere. Das Glücksgefühl, eine knifflige Aufgabe allein durch logisches Denken lösen zu können, war schon dem Volksschüler vertraut. Als Sechzehnjähriger wurde er bei der Mathematik-Olympiade Dritter. Die Urkunde hing gerahmt im Vorraum.

Mit Sicherheit könnte ich heute eine glanzvolle wissenschaftliche Laufbahn vorweisen, wäre mir nicht die Politik dazwischengekommen, dachte Dietrich und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Verbindungskrug. Zwei lange Studienjahre hatte er mehr Zeit mit Hochschulpolitik und Kneipkonvent verbracht als mit Mathematik. Das war der Fehler! Ehrgeizige Kommilitonen zogen an ihm vorbei und besetzten die wenigen Planstellen für wissenschaftliche Assistenzen. Der Name Dietrich Pernauer war zwar bekannt am Institut, aber nicht als fachliche Koryphäe und Zukunftshoffnung. Er war dieser Burschenschaftler in der Studentenvertretung, ansonsten unauffälliger Durchschnitt.

Als er eines Tages ermüdet war von rhetorischer Kraftmeierei, parteipolitischer Konspiration und Machtspielchen im Vorhof der Politik, war es zu spät. Dietrich verließ die Universität als Magister und musste artig danke sagen zu einem Alten Herrn aus seiner Verbindung, der ihm zu einer glanzlosen Beamtenstelle im Landesdienst verhalf.

Der Sonntag wurde lang und länger, der Himmel trüber. Regenwetter. Ein drittes Bier vielleicht? – Pfui, Dietrich, nicht um halb fünf! Disziplin und Rückgrat! Lass dich nicht so treiben! Ich sollte wieder einmal eine Mensur schlagen, dachte er. Seine letzte lag fast zehn Jahre zurück, seine erste mehr als zwanzig. Er war ziemlich eingerostet. Wollte er wieder einmal bestehen Mann gegen Mann, vielleicht ein letztes Mal in seinem Verbindungsleben, müsste er vorher viele Stunden auf dem Paukboden einplanen, damit ihm der Kontrahent nicht schon im ersten Fechtgang die Birne demolierte.

Die Erinnerung an seine erste Mensur war bestens erhalten: die wochenlange Vorbereitung, die mühsame Gewöhnung an Körperschutz und Kampftechnik, die Einübung in das Regelsystem. Und dann der große Tag. Die Wahl der Klinge, beraten von Rüdiger, dem Fechtwart, die aufmunternden Worte der Bundesbrüder. Dann kam der Paukgegner, ein Vandale, an seinen Namen erinnerte er sich nicht mehr, aber etwas größer war er, etwas kräftiger, älter, erfahrener mit Sicherheit und ganz auf Offensive trainiert.

Dietrich hingegen war ein Meister der raffinierten Abwehr. Selbstkontrolle, das war seine Stärke. Vierzehn Gänge hatte er tapfer durchgehalten, war nicht zurückgewichen. Standhalten! Koste es, was es wolle! Im fünfzehnten Gang sauste der Korbschläger des Vandalen rasiermesserscharf über Dietrichs Stirn. Contenance! Bloß kein Aufschrei! Die Wunde war nicht sehr tief, schmerzte nicht übermäßig, blutete aber beeindruckend. Wie das herunterfloss über Stirne und Wangen, das Unterhemd rötete. Zurück aus der Schlacht. Bluten für die Galerie.

Die Bundesbrüder sparten nicht mit Anerkennung. Der Paukarzt versorgte Dietrichs Kopf mit sechs Nähten, natürlich ohne Betäubung. Ha, ein kräftiger Schluck vom Korn genügt. Der ritterliche Handschlag mit dem Paukgegner. Die Bierkrüge. Das Trinkopfer! Alles ehrenhaft. Um Sieg und Niederlage geht es nicht. Schon gar nicht um Feindseligkeit. Eine Mensur ist kein Duell. Keinem ist hier die Ehre abgeschnitten worden. Beide haben Ehre, weil sie dem ehrlichen Kampf nicht ausweichen. Ein Kerl, der die Mensur schlägt, beweist Charakter, Willenskraft. Auf so einen kann die Gemeinschaft zählen. Das ist der tiefe Sinn des Rituals. Dietrich trug seinen Schmiss mit Stolz. Warum, das verstehen nur wenige.

Hannelore hatte es auch nicht verstanden. Es ist schon interessant, dachte Dietrich, wie konsequent in der Familie über sie geschwiegen wird. Hannelore, das verlorene Schaf, das keiner zu vermissen scheint. Wie lange war sie schon weg? Wie alt ist sie jetzt? Achtundvierzig. Abgehauen ist sie mit sechsundzwanzig. Das war vielleicht ein Drama! Hannelores Abschiedsbrief … dieser Hass! Der Fluch unserer Nazifamilie hatte sie geschrieben, … eine Familiengeschichte aus Gewalt, Niedertracht, Selbstgefälligkeit und Lüge … Flucht als einzige Überlebenschancedie einzig mögliche Rettung meiner Seele sogar und ähnlich pathetisches Zeug.

Mutti brach zusammen, lag eine Woche in der Psychiatrie. Vati trug es mit Haltung, obwohl ihm die designierte Nachfolgerin abhandengekommen war. Hannelore hatte soeben ihr Medizinstudium abgeschlossen, hätte irgendwann die Ordination übernehmen sollen. Das ist nur der Zeitgeist, sagte Vati, Autoritätskrise und Feminismus. Das geht vorüber. In einem halben Jahr ist die verlorene Tochter wieder bei uns. Ihr Kern ist gut. – Mutti gab den Familienaufstellungen schuld, die Hannelore besucht hatte. Das müsste man verbieten, sagte sie, da wird doch nur Schmutzwäsche gewaschen. Nach diesen Wochenenden war Hannelore immer so aufgewühlt. Krank ist das, wahrscheinlich haben es die Juden erfunden.

 

Einmal im Jahr schickte Hannelore an Hildegard ein kleines, schwaches Lebenszeichen. Als es zum ersten Mal angekommen war, hatte Mutti den Brief noch vorgelesen: Du bist und bleibst genauso verstrickt in diese verfluchte Familie wie alle anderen. Dennoch bleibst du meine Mutter und hast ein moralisches Recht zu erfahren, wie es deiner Tochter geht. Was dann folgte, war kaum zu glauben. Hannelore war am Amazonas, kümmerte sich um Ureinwohner mit Steinzeitgesichtern, trug auf diese Weise Familienschuld ab, wie sie schrieb. Wir sollten ihr dankbar sein.

Dietrich verschwieg, dass Hannelore ihn vor ihrer Abreise ins Vertrauen gezogen hatte, nur ihn. Reinhard und Reingard sind zu jung, hatte sie gesagt, Joachim ist ein zynisches Arschloch, aber du, Dietrich, du bist der Empfindsamste von uns allen. Du bist der einzige, der mich verstehen könnte, wenn du nur wolltest! – Der Empfindsamste? Was für ein Unsinn! Das wollte er nicht sein, das war er nicht. Ein Neugermane hat das Herz auf dem rechten Fleck, aber er ist nicht empfindsam.

Hannelores Ermutigung, er solle auch Tabula rasa machen, alle Brücken abbrechen, woanders ganz neu beginnen, hatte ihn verstört. Brüsk hatte er zwar ihren heißen Appell zurückgewiesen (Ein Pernauer desertiert nicht!), aber im dunklen Hintergrund hatte er sich dauerhaft festgesetzt und trat gelegentlich ans Tageslicht. Hätte ich vielleicht wirklich …? Habe ich da wieder einmal etwas falsch gemacht? Wäre ich heute glücklicher und freier, wenn …?

5 Das ist der Schoß, aus dem die Schlaganfälle kriechen

Ungeduldig wartete Dietrich auf den Marschbefehl des großen Bruders. Gemeinsam würden sie Mutti davon überzeugen, dass der Verkauf an die Russen die beste Lösung wäre. Das wirtschaftliche Argument ist nicht immer das vorrangige, schließlich gibt es auch Freundschaft, Ehre, Heimat und dergleichen, aber in diesem Fall bleibt das Ökonomische konkurrenzlos. Joachim hatte recht: Um den Rang eines Familienjuwels einnehmen zu können, fehlte dem Wutscherhäusl die Eindeutigkeit.

Tag für Tag war verstrichen, ohne dass Joachim ihn kontaktiert hatte. Dietrich wurde unruhig, wollte nicht mehr warten, griff selbst zum Telefon: Ob Joachim noch an seinem Vorhaben festhalte. Wann und wo das Gespräch mit Mutti stattfinden solle. Und ob es Neuigkeiten von den Russen gäbe, zum Beispiel einen Zeitplan.

Ja, klar, das Projekt sei am Laufen, sagte Joachim. Grundsätzlich, also ganz grundsätzlich gäbe es nichts Neues … Das eine oder andere Detail vielleicht, da müsse er noch nachverhandeln. Und das Gespräch mit Mutti … „Ach, Dietrich, du weißt, ich bin derzeit nicht gut angeschrieben bei ihr, und du bist sowieso der bessere Diplomat. Würdest du da einmal ohne mich vorfühlen? Sei so lieb. Bis bald!“

Sei so lieb! Einerseits Enttäuschung, andererseits Aufwertung. Die von Dietrich herbeigesehnte Koalitionsoperation sagte Joachim ab, schob sie zumindest auf; andererseits traute er ihm, dem kleinen Bruder, die hohe Kunst der Überzeugungsrede zu. Dietrich fühlte sich respektiert, das stärkte ihn, aber wenn er mit seiner Mission scheiterte, was dann? Er wollte nicht der Versager sein, der alles vermasselt hatte.

Keine übertriebenen Selbstzweifel, Dietrich, du willst es und du schaffst es! Er zog Ratgeberliteratur heran – In dreißig Minuten zum Redner werden –, legte sich nicht nur Worte und Sätze zurecht, sondern auch die drei Tonlagen verständnisvoll, sachlich-bestimmt, heiter-optimistisch sowie den aufmerksamkeitsbindenden Blickkontakt.

„Meinst du denn, Joachim und mich schmerzt es nicht, dieses kleine Paradies der Familie aufzugeben? Aber Gefühle sind eine Sache, die Fakten sind eine andere. Das würde Vati ganz sicher auch so sehen. Du, ich hab noch seine Stimme im Ohr: Was getan werden muss, das muss getan werden! Keine Müdigkeit vorschützen, keine Wehleidigkeit zulassen!“

„Ja“, sagte Hildegard gerührt, „so hat er das immer gesagt. Ach, der Otto, der fehlt mir so.“

„Uns allen fehlt er.“

„Viel zu früh ist er von uns gegangen.“

Als Dietrich die Elternvilla verließ, war er seiner Sache sicher. „Wahrscheinlich hast du recht“, hatte Mutti zum Abschied gesagt, „trotzdem ist es traurig.“

Sofort informierte er Joachim: „Es ist gut gelaufen. Zu achtzig Prozent haben wir sie im Boot.“

„Achtzig ist viel“, sagte Joachim, „danke, Dietrich, danke fürs Erste! Du hörst von mir.“

Danke fürs Erste, du hörst von mir! War das alles? Etwas mehr Interesse, Begeisterung und Lob hatte sich Dietrich schon erwartet. Aber er wollte sich die gute Laune nicht nehmen lassen. Aumaiers Gastgarten kam ihm da gerade recht. Ein saftiges Schweinskotelett, ein kühles Weizenbier – so heimatlich sollte dieser wolkenlose Juliabend enden. Am Nachbartisch saßen zwei hübsche junge Männer. Das Glück ist ein Geschenk des Augenblicks.

Zur selben Stunde, in der Dietrich in Aumaiers Gastgarten tabulos über die Liebe nachdachte, wandte sich Hildegard Pernauer in ihrer einsamen Not an Reinhard: „Ich fühle mich von Dietrich so richtig bedrängt …“

„Lass dir, bitte, von Dietrich nichts aufschwatzen“, sagte Reinhard am Telefon, „und beruhige dich. Lass dich zu nichts drängen! Lass dir Zeit! Das ist weder die Entscheidung von Dietrich noch die von Joachim. Es ist auch nicht meine Entscheidung, sondern einzig und allein deine! Hol dir den Rat von Unbeteiligten und … warte mal …Was sagst du, Rebekka? … Ja, genau, Rebekka sagt gerade: Vertrau deinem Bauchgefühl! Ich soll dich küssen von ihr! Mutti, du bist die Fürstin des Wutscherhäusls! Sei auch die Königin deiner Gefühle! Ihr seid frei, Majestät!“

Ach, der Reinhard, der fand immer so schöne Worte, aber Hildegard wollte nicht frei sein, Hildegard wollte Beistand … Reingard! Die verstand sie am besten, wenn es um das Wutscherhäusl ging. Mit der musste sie unbedingt noch reden. „Ich weiß, dass es spät ist, Reingard, aber ich muss noch mit dir reden. Dietrich war heute bei mir. Er und Joachim tun ja gerade so, als wär das Wutscherhäusl schon verkauft.“

Reingard war außer sich. Joachim und Dietrich, das Kapitalistenkomplott, die Mafia der eiskalten Profiteure! Ihr energischer Anruf erlegte Dietrich noch in Aumaiers Gastgarten. Soeben war das dritte Weißbier eingetroffen.

Ob er die Mutter ins Grab bringen wolle mit seinen Drohungen und Erpressungen! Sein hinterfotziges Intrigantenmaul solle er gefälligst halten!

„Solange Waldemar noch über den Kauf nachdenkt, liegt die Sache auf Eis! – Allerdings denkt der nach! Und wie der nachdenkt! Und wenn Waldemar nachdenkt, dann denkt wirklich etwas! Der hat nämlich nicht so ein Spatzenhirn wie du, Dietrich! Oder haben sie dir das bei der letzten Mensur auch noch weggesäbelt!“

„Du bist so vulgär wie das dümmste Bassenaweib!“, brachte Dietrich mit vor Wut zitternder Stimme gerade noch heraus, dann drückte er Reingard weg. Inwendig tobend wie ein Gewalttäter, aber äußerlich versteinert saß er noch eine geschlagene Stunde vor seinem Weißbier. In der Nacht fand er keine zwei Stunden Schlaf. Das Morgenwetter war unnötig schön. Er musste mit Joachim sprechen. Sofort.

„Gut, dass du dich meldest, Dietrich“, sagte der Bruder, der mit Birgit und den Buben noch beim Samstagsbrunch saß. „Warte kurz, ich gehe ins Arbeitszimmer.“ Birgit verdrehte die Augen und seufzte.

„So, jetzt können wir … ja, natürlich … Dietrich, du brauchst mir nicht alles haarklein zu erzählen. Reinhard und Reingard haben mich heute schon angerufen, ich hab auch schon mit Mutti gesprochen. Und ich konnte sie wieder einigermaßen beruhigen … Hör zu, Dietrich, ich nehme einen Teil der Schuld auf mich. Ich hätte dir dieses heikle Gespräch nicht so leichtfertig übertragen dürfen. Ich hab dich da offensichtlich überschätzt … Dietrich, du brauchst dich mir gegenüber nicht zu verteidigen. Ich glaube dir gerne, dass du mit den besten Absichten … aber du weißt, die Absicht ist das eine, die Wirkung das andere … Dietrich, wir sollten die Sache jetzt nicht in alle Richtungen auswälzen … Ich kann und will das nicht beurteilen, ich war ja nicht dabei … Wie du was in welchem Tonfall gesagt hast, was du angeblich gar nicht gesagt hast und was du sonst noch gesagt hast, wissen nur zwei Menschen, du und Mutti. Ich nehme nur die Scherben wahr, die dein unüberlegter Vorstoß hinterlassen hat. Daher bitte ich dich herzlich: Entschuldige dich bei Mutti in der bestmöglichen Form und nimm dich eine Weile aus dem Spiel, damit wieder Ruhe einkehrt in der Familie.“

„Ruhe?! Sag das nicht mir, sondern Reingard!“

„Der sag ich es sicher auch. Aber du weißt, Reingard ist sehr gefühlsbetont, eine Getriebene in gewisser Weise. Man muss nicht alles auf die Goldwaage legen, was sie in ihrer Wut ausspuckt. Sie ist eine Frau.“

„Weißt du überhaupt, was sie mir alles an den Kopf geworfen hat?“

„Ich kann es mir vorstellen. Aber gib ihr ein bisschen Zeit. Wenn Waldemar, wie sie mir heute versichert hat, das Wutscherhäusl kauft, dann löst sich der Geschwisterzwist im Hause Pernauer wie von selbst auf. Alles ist wie gehabt und das nächste Sonnwendfest so gut wie programmiert.“

„Und die Russen? Was ist mit den Russen? Die legen doch viel mehr auf den Tisch, sagst du.“

Joachim seufzte. „Dietrich, du weißt, ich schätze dich, aber gestatte mir eine kleine, vorsichtige Kritik unter Brüdern. Geld ist eine Sache, familiärer Zusammenhalt eine andere. Da kann man schon auch mal den einen oder anderen Abstrich machen. Ich weiß, dass dir das nicht so leicht fällt, aber spring da, bitte, über deinen Schatten. Denk zumindest darüber nach. Und eines wollen wir auch nicht vergessen: In letzter Instanz entscheidet Mutti, sie ist die Besitzerin.“

Als Joachim zum Brunch zurückkam, war der Tisch abgeräumt. „Was soll das?“

Birgit schleuderte den Brotkorb durch den Raum, dass die Brösel flogen. „Um halb neun ruft Mutti an, um neun Reinhard, um neun Uhr vierzig Reingard, um zehn Uhr zehn Dietrich. Frühstücke doch mit deiner gestörten Familie in eurem verfluchten Wutscherhäusl!“

Dietrich sank nach seinem Telefonat mit Joachim fassungslos in den Ohrensessel. Dem treulosen Bruder wünschte er alle Rachegöttinnen dieser Welt an den Hals. Schmerzvoll eingeklemmt zwischen seinem hilflosen Zorn über das Unrecht, das ihm die Familie antat, und der Verdrossenheit über das eigene Versagen, sehnte er sich nach einem gütigen Ohr, das hörte wie sein eigenes. Hannelore käme in Frage – oder Onkel Harald. Aber Hannelore war verschollen und Onkel Harald tot. Freunde hatte er nicht, er hatte Bundesbrüder. Sollte er „Hagen“ Hausmann anrufen oder „Odin“ Borkmayer? Wozu? Dass ein Krug mit frisch gezapftem Hellem hilfreich ist, wenn es darum geht, Haltung zu wahren, wusste er selbst.

Dietrich fühlte sich müde, erschöpft, nervös, angespannt, fiebrig, vernichtet. Im Nachtkästchen fand er zwei Schlaftabletten. Er schloss Fenster und Jalousien, sperrte Sommerlicht und Hitze aus, fiel aufs Bett und lag dort sieben Stunden in schweren Träumen.

Donnergrollen und Regenprasseln weckten ihn auf. Dietrich öffnete die Terrassentür, stellte sich einige Minuten lang nackt in den Gewitterregen, spürte sich. Nach einer warmen Dusche war er wie neugeboren und konnte wieder klare Gedanken fassen. Mit Reingard würde er kein Wort mehr reden. Mit Joachim auch nicht, zumindest vorläufig nicht. Wie konnte ihn sein Bruder so grundlegend missverstehen? Warum hatte er ihn überhaupt in diese ärgerliche Sache hineingezogen? Was war mit dem Angebot der Russen? War es nun solide oder nicht? Und warum hörte ihm Joachim nicht zu, ließ ihn nicht ausreden? Es war doch sein gutes Recht, das Gespräch mit Mutti aus seiner Sicht darzustellen. Und Mutti?

Nun gut, Mutter bleibt Mutter. Morgen würde er sie anrufen. Wenn sie sich wirklich bedrängt fühlte, wie Joachim behauptete, dann könnte er sich ja eine Entschuldigung herausquetschen.

Dietrich hatte Hunger, legte Speckscheiben in die heiße Pfanne, schlug drei Eier darüber, ließ es sich tüchtig schmecken. Für die Abendstunden öffnete er eine Flasche Blauburgunder und holte das große Toplitzsee-Puzzle mit den 2000 Teilen aus dem Kasten. Puzzle waren seine stille Leidenschaft. Dazu wollte er wieder einmal den Freischütz hören, von vorne bis hinten. Die Welt rückte von ihm ab.

 

Den Sonntag begrüßte der spät erwachende Dietrich in heiterer Laune. Selbst einen fröhlichen Badeausflug schloss er nicht aus. Vorher würde er aber noch seinen guten Vorsatz ausführen und Mutti anrufen.

Hildegard Pernauer war gerührt, fand es wirklich lieb von Dietrich, dass er sich meldete nach dieser bösen Verstimmung, räumte unaufgefordert ein, sie habe vermutlich überreagiert.

„Weißt du, mich nimmt das alles so mit“, sagte sie.

„Versteh ich, Mutti. Aber wenn Waldemar das Wutscherhäusl nun doch kauft, wird ja alles gut.“

„Waldemar? Wie kommst du denn darauf?“

„Joachim hat derartiges angedeutet.“

„Ach Gott, Dietrich, dann weißt du das Neueste nicht.“

„Was?“

„Nichts Gutes. Waldemar liegt im Krankenhaus. Der hatte gestern in der Seilergasse einen schlimmen Schlaganfall …“

Dietrich strich den Badeausflug, holte einen abgegriffenen Stadtplan aus der Kommode und breitete ihn auf dem Esstisch aus. In der Seilergasse ist Waldemar zusammengebrochen. Schau an, das ist ja interessant! Die Seilergasse liegt genau in der geografischen Mitte zwischen dem Haus, das Waldemar mit seiner Geliebten bewohnt, und dem, das er mit seiner Frau Annegret bewohnt hat. Schicksalhaft, dachte Dietrich, ein Zerrissener, ein Überforderter, zusammengebrochen unter dem Albdruck des Hin und Her. Da die Gattin mit Familie, dort die Geliebte, auch mit Familie, und mit was für einer! Ja, lieber Waldemar, das ist der Schoß, aus dem die Schlaganfälle kriechen.

Auf der unzuverlässigen Grundlage von Hildegards dramatischer Schilderung rekonstruierte Dietrich die Chronologie der Ereignisse. Das war Reingards Geschoß, dachte er und stellte sich Waldemar in der hohlen Gasse vor. Ich erwarte Taten von dir, brüllt sie ihren verdatterten Waldi an, blöde Ausreden fallen mir selbst ein! Bring deinem bösen Weib endlich bei, dass wir das Geld nicht für irgendeinen spleenigen Luxus brauchen, sondern für die Rettung eines Familienjuwels. Das ist eine Frage der Würde. Versteht die das nicht, die blöde Kuh? Und vor allem: Verstehst du das nicht!?

Vielleicht hat Waldemar genau das versucht, dachte Dietrich, er hat versucht, seiner Frau die Würde des Wutscherhäusls zu erklären. Seine Annegret hat ihm aber was gepfiffen, und zwar klar und lautstark, deutsch und ohne Bemäntelung. Natürlich versteht Annegret, was ein Familienjuwel ist. Natürlich begreift sie, dass daran ein Herz hängen kann. Aber warum sollte ausgerechnet sie, die verlassene Frau, ihrer innig gehassten Konkurrentin einen Herzenswunsch erfüllen? Was willst du von mir, Waldemar?, hört Dietrich sie rufen, die Auflösung von ertragreichen Vermögenswerten verlangst du? Für einen extravaganten Mädchenwunsch deiner Konkubine? Den Weg hättest du dir sparen können! – Höhnisch lachend weist sie Waldemar die Tür. Und er muss jetzt seiner impulsiven Geliebten das Scheitern der Vertragsverhandlungen mitteilen. Exakt auf halbem Weg bricht der Verzweifelte zusammen. Hinter ihm Skylla, vor ihm Charybdis. Das ist der Fluch der Mitte.

So stellte sich Dietrich das vor, so stellte er sich Annegret vor. Er kannte sie nur aus den mitleidlosen Erzählungen in der Familie und aus Waldemars Klagen über den gefühlsarmen, spröden Machtmenschen, den er leider geheiratet hatte.

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