Das Liebesleben der Stachelschweine

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2 Die Gralsburg der Pernauers

Dem Wutscherhäusl fehlt die Eindeutigkeit, dachte Joachim. Hätte man es mit einem Erbhof zu tun, erbaut von einem tüchtigen Stammvater und seinen Söhnen, seit Generationen im Familienbesitz, dann wäre das Wutscherhäusl vielleicht geworden, wozu es Onkel Heinz in seiner ersten Sonnwendrede im Jahr zweiundsechzig bestimmt hatte: die Gralsburg der Pernauers. Möge das Wutscherhäusl das Stein gewordene Herz der Familie sein! Die von Heinz Albert strapazierte Metapher war unglücklich, Opa hielt sie sogar für zwielichtig. „Was redest du denn da Zwielichtiges daher, Heinz, ein Pernauer-Herz wird doch nicht zu Stein!“, soll er gesagt haben. So ähnlich überliefert Mutti die Anekdote.

Joachim hatte die Dokumente mehrmals geprüft. Die Bau- und Eigentümergeschichte des Wutscherhäusls war rechtlich nicht angreifbar, Heinz Alberts Gralserzählung entsprach sie aber nicht. Die existenziell bedrohte Bauernfamilie Wutscher – Eltern, drei kleine Töchter, eine Großmutter – hatte 1912 beschlossen, ihr karges Dasein in der alten Welt hinter sich zu lassen und in Amerika ein glücklicheres Schicksal zu suchen. Ein gewisser Doktor Schön, Internist in Wien, vermutlich ein Philanthrop, mit Sicherheit ein Pionier der Sommerfrische, überbot mit einer sehr großzügigen Summe einige andere Interessenten, erwarb das Grundstück und ließ den kleinen Hof zu einem sogenannten Weekend House umbauen und ausbauen. Der bäuerliche Charakter blieb aber erhalten. Für damals eine beachtliche architektonische Leistung.

Im Februar 1938 brach auch die Familie Schön nach Amerika auf, nicht aus freien Stücken, sondern nervlich bedrängt von der Ahnung der drohenden Katastrophe. So großzügig Doktor Schön die Familie Wutscher abgefunden hatte, so kostenbewusst agierte Josef Pernauer Senior sechsundzwanzig Jahre später gegenüber der Familie Schön. Eine lächerliche Summe? Joachim fand am Kaufverhalten des Urgroßvaters nichts Tadelnswertes. Der Markt macht den Preis und dieser Doktor Schön wollte halt möglichst schnell verkaufen. Der Kaufvertrag ist datiert auf den 17. Februar 1938. Was soll also das bösartige Gerede vom arisierten Besitz, das in der Gegend nie so ganz verstummen wollte?

Unsere Familiengeschichte ist rein, dachte Joachim. Aus juristischer Sicht ist sowieso alles korrekt abgelaufen. Opa hat aber auch für eine politisch saubere Sprachregelung gesorgt: „Mein Vater hat durch den Kauf diesen Doktor Schön und seine Familie wahrscheinlich vor dem Konzentrationslager gerettet.“ Und er fügte hinzu: „Wisst ihr, man muss nicht unbedingt ein Judenfreund sein, um sich anständig zu verhalten.“

Nach Kriegsende blieb das Wutscherhäusl im Familienbesitz und sollte von allen ausgiebig genutzt werden, als Rückzugs- und Erholungsraum, als Mittelpunkt familiärer und freundschaftlicher Festkultur. Hie und da lud Heinz Albert ein paar alte Kameraden ein. Die Abgeschiedenheit des Wutscherhäusls ermöglichte es, spätabends am Lagerfeuer vertrautes Liedgut zu singen, und zwar nicht im vorsichtigsten Pianissimo. Wenn Onkel Heinz mit seinem kraftvollen Bariton Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen anstimmte, machte er hier nur Hasen und Fasane auf sich aufmerksam.

In der Familie Pernauer hatte man trotzdem Bedenken. Man muss schon vorsichtig sein! Die Linken warten ja nur auf eine Gelegenheit wie diese.

„So ein Kameradentreffen ehemaliger Parteigenossen wäre für die Judenpresse ein gefundenes Fressen“, sagte Opa zu seinem Bruder, „das musst du wissen, Heinz.“

Aber Tante Berta beschwichtigte: „Ach, geh, macht euch doch nicht in die Hose vor diesem Gesindel und gönnt ein paar alten Kämpfern ihre Erinnerungen an die besten Jahre ihres Lebens.“

Der sprichwörtliche Zahn der Zeit setzte dem Wutscherhäusl zu. Onkel Heinz hatte noch für feuerpolizeilich tragbare Elektrizität gesorgt, kleinere Mauerschäden selbst ausgebessert, von Pfuschern aus der Gegend einen Zubau errichten lassen, ab und zu die Wände frisch gestrichen. Seine Verwalterrolle hatte aber nach ihm keiner übernommen. Zwischen den seltenen Besuchen stand das Haus wochenlang leer, niemand fühlte sich zuständig für die Instandhaltung.

Vor dem jährlichen Sonnwendfest, einer seltsamen Sentimentalität, an der die Familie festklebte, mussten Hildegard und Birgit zwei Tage lang putzen und schrubben. Dass Birgit auch mit Werkzeugkasten und Schlagbohrmaschine zurechtkam, erwies sich als nützlich. Und jedes Mal sagte sie nachher zu Joachim: „Du musst endlich mit Mutti reden. Wir feiern hier bald nur mehr zwischen Ruinenwänden.“

Joachim, ausgelastet mit Anwaltsberuf und parteipolitischen Karriereplänen, schob die Sache hinaus. Bis zum Anruf von Sergej! Ein Glücksfall! Eine Gelegenheit, die man beim Schopf packen musste! Sergej hatte er vor zwei Jahren kennengelernt. Joachim war mit Parteifreunden nach Moskau gereist, um Kontakte zu russischen Parlamentariern zu festigen. Mit am Tisch saßen damals auch einige Wirtschaftsleute, unter ihnen Sergej, der russische Investments in der EU lancierte und Anlagemöglichkeiten in Österreich suchte. Joachim zeigte sich interessiert, blieb unverbindlich, aber in losem Kontakt mit den Russen – und plötzlich dieser unerwartete Anruf!

Sergej schilderte Joachim ein vielversprechendes Projekt, eine weitläufige Wellness-Anlage, gehobene Preisklasse, Marketing-Linie Erholung durch Entschleunigung, Natur und gesundes Leben, Sport und mentale Stärkung. Jedenfalls, dieses romantische Grundstück – optimal! Wie geschaffen für das Projekt! Und was hatte Sergej gehört, als er sich nach dem Besitzer erkundigte? „Hildegard Pernauer, Mama von meinem Freund Joachim! Joachim, ich sag dir jetzt eine Summe, und ich wette, du und Mama, ihr zögert keine Sekunde! Was meinst du mit Grünland? Ach so, Baubewilligung. Erledigen wir diskret. Und apropos, Joachim, dein persönlicher Schaden soll es auch nicht sein. Du verstehst mich …“

Joachim verstand schnell und gut, aber Hildegard verstand nicht, konnte nicht, wollte nicht verstehen, klagte tränenreich.

„Unser Juwel sollen wir an einen Russen abtreten? Gut, dass Opa das nicht mehr erleben muss. Und der Onkel Heinz, der dreht sich im Grab dreimal um. Ausgerechnet den Bolschewisten willst du seine Gralsburg in den Rachen werfen. Ist denn die Heimat heute gar nichts mehr wert! Ach Gott, ist das alles traurig. Joachim, du weißt gar nicht, wie sehr du mich enttäuschst.“

Mutti hätte er wahrscheinlich nach ein paar Tagen geduldiger Beruhigung versöhnen und überreden können.

„Sie hängt eben an der Vergangenheit“, sagte Birgit, „wie alle alten Menschen, aber wenn es um wichtige Entscheidungen geht, setzt Mutti immer auf den Verstand. Das Hauptproblem ist nicht deine Mutter, Joachim, das Hauptproblem ist deine hysterische Schwester. Reingard hetzt deine Mutter auf.“

Reingard ermutigte verzweifelte Menschen, die bei ihr Rat und Heilung suchten, vor allem dazu, ehrlich und offen ihre Gefühle auszusprechen und auszuleben. Nach diesem Grundsatz emotionaler Authentizität lebte sie auch selbst. Ein schwanzwedelndes Hündchen, eine verlassene Almhütte, ein singendes Kleinkind, ein Regenbogen, ein getrocknetes Veilchen in einem alten Lesebuch, eine letzte Blüte im Novemberschnee, solche Wahrnehmungen von Einfachheit und Unschuld rührten Reingard zu Tränen. Wenn sie ein Urgroßmütterlein auf morscher Hausbank in der Abendsonne erblickte, konnte es durchaus sein, dass sie vor ihm niederkniete, seine Hand küsste und sagte: Bleiben Sie noch recht lang gesund bei uns, liebe Frau!

Das war die helle Seite des Gefühlsmenschen Reingard, die dunkle bekam jetzt Joachim zu spüren: „Du geldgieriges Arschloch“, schrie sie, „du willst unser Wutscherhäusl an diese russische Kapitalistenmafia verscherbeln! Sag einmal, schämst du dich für gar nichts!?“

Joachim und Birgit kämpften um Fassung, versuchten ruhig zu bleiben, redeten vom unaufhaltsamen Verfall des Wutscherhäusls, von mangelnder Nutzung, vom offensichtlichen Desinteresse der Familienmitglieder, von den enormen Kosten einer unabwendbaren Sanierung.

„Wer wird denn das bezahlen, Reingard? Du sicher nicht!“

Nein, Reingard nicht, aber wozu hatte sie ihren Waldemar. „Du musst unser Wutscherhäusl retten, Waldi, das ist das Mindeste, was ich von dir erwarte!“

Waldi war skeptisch und leistete der Geliebten zehn Minuten vorsichtigen Widerstand, dann wählte er Joachims Nummer und fragte ihn nach dem Stand der Dinge.

„Kannst du mir eine finanzielle Orientierung geben? Was bieten dir die Russen an?“

Joachim nannte die Summe, damit war das Telefonat beendet.

„Vergiss es“, sagte Waldi zu Reingard, „dafür müsste ich bestehendes Vermögen auflösen.“

„Ja, dann löst du es eben auf.“

„Geht nicht. Meine Frau kann das verhindern, und ich garantiere dir, sie wird es verhindern.“

Meine Frau – ein heißes Stichwort im Beziehungsleben, das Waldemar besser vermieden hätte.

„Deine Frau! Dieses böse, missgünstige Weibsbild!“, schrie Reingard, und dann prasselten die bekannten Vorwürfe auf Waldemar nieder: Warum diese Hexe überhaupt Zugriff auf sein Vermögen habe! Warum er in Sachen Scheidung nichts voranbringe! Wie er sich das überhaupt vorstelle in Zukunft! „Du scheinst dich mit faulen Kompromissen wohlzufühlen! Ich nicht!“

„Sollen wir mit Dietrich reden?“, fragte Birgit. Joachim nickte. „Daran hab ich auch schon gedacht.“

„Wie schätzt du ihn ein?“

„Schwer zu sagen. Er gibt ja nie viel preis. Für sentimental halte ich ihn aber nicht.“

3 Dietrich genoss das festigende Gefühl des Anerkannten

„Ich will mit dir reden, Dietrich, du bist beruhigend vernünftig, eine Anlage, die in unserer Familie leider Seltenheitswert hat … Sobald wie möglich, Lieber. Samstag zum Beispiel, hast du da schon was vor? Wie wär’s mit einem gepflegten Abendessen bei uns? Ich hab noch Wildlachs von der Alaska-Reise, selbst gefangen. Du, der wird dich begeistern!“

 

Mein großer Bruder will mit mir reden, mit mir, dem Vernünftigen. Er braucht mich, er baut auf mich. Dietrich genoss das festigende Gefühl des Anerkannten. Wie lange war das her, dass Joachim ihn zum Essen eingeladen hatte! Ihn allein nämlich, nicht gemeinsam mit Mutti, der er als Chauffeur zweckdienlich war. So verbindet Joachim das Unerhebliche mit dem Nützlichen.

Dietrich hatte sich schick herausgeputzt, war guter Laune. Sportlich elegant stand er vor der Villa, in der Rechten den Strauß für Birgit, in der Linken die Cognacflasche im Geschenkkarton. Birgit und Joachim begrüßten ihn mit wasserfester Herzlichkeit und eskortierten ihn auf die Terrasse. Im Sommerabendlicht nahm der selbst gefangene Alaska-Lachs schon Bräune an, und dieser Weißburgunder, „der, lieber Bruder Dietrich, wird dich in höhere Sphären heben.“

Joachim hat so richtig Stil, dachte Dietrich, Birgit sowieso. Antipasti und Hauptgericht untermalten sie mit leichtgewichtiger, heiterer Konversation, erzählten Anekdotisches von Jens und Nils.

„Apropos, wo sind denn eure zwei Racker?“

„Im Pfadfinderlager, die beste Lebensschule“, sagte Joachim und ließ Erinnerungen an die eigene Kindheit folgen: Turnverein, harmlose Bubenstreiche, väterliche Strenge. „Und? Hat es uns geschadet? – Na also.“

Birgit ist plötzlich so schweigsam, dachte Dietrich, und weil er gerne ihre angenehme Altstimme hören wollte, warf er ihr ein motivierendes Stichwort zu: „Eure Buben entwickeln sich prächtig.“

Birgit lächelte dankbar. Kein Wort dazu? Keine weitere Beispielerzählung aus dem wirklichen Leben, die Dietrichs Neffenlob bewies? Nicht einmal ein spontanes O ja, sie machen uns viel Freude! Stimmte da etwas nicht?

Nach dem Hauptgang holte Joachim die Zigarren und kam zum Thema. „Medias in res, Dietrich, du ahnst wahrscheinlich, worüber ich mit dir reden will.“

„Das Wutscherhäusl.“

„In der Tat.“

Joachim ging ins Detail: das Wellness-Projekt, von unschätzbarem Wert für diese schwache Region, die dringend Arbeitsplätze braucht; die finanzielle Potenz der Investoren; die Handschlagqualität von Sergej. „Ein Mann mit dem Herz auf dem rechten Fleck und dem Hirn im richtigen Körperteil, wenn du verstehst, was ich meine. Und last not least – so viel Englisch darf schon mal sein in einem deutschen Haus – cash! Das runde Sümmchen, das man uns anbietet, kann sich sehen lassen. Jetzt sag, Dietrich, das wäre doch die Dummheit des Jahrzehnts, diese Chance nicht zu nutzen.“

Dietrich lehnte sich zurück mit dem Pokerface des Geschäftsmanns, blies die Backen auf und den Zigarrenrauch aus. „Klar wie Leitungswasser. Ich bin völlig deiner Meinung.“

Joachim hob das Cognacglas. „Ich würde jetzt gerne sagen: Mir fällt ein Stein vom Herzen. So ist es aber nicht. Ich hatte keine Sekunde einen Zweifel, dass du die Sache so siehst wie ich. Jetzt geht es nur noch darum, Mutti zu überzeugen.“

„Was hat sie dagegen? Und vor allem: Was hält sie dagegen?“

„Sentimentalitäten! Du kennst mich, Dietrich, Familie ist mir heilig, aber dieses Schmierentheater rund ums Wutscherhäusl, das ist doch alles Sage und Legende. Wer von uns interessiert sich denn wirklich noch für das Ding?“

„Reingard“, sagte Birgit, „behauptet sie zumindest.“

„Ja, Reingard!“ Joachim lachte höhnisch und wurde lauter. „Reingard ist der zickigste Trampel zwischen Atlantik und Ural!“

„Joachim, bitte, die Nachbarn.“

„Ist doch wahr. Ihr Köpfchen ist außen so schön, wie es innen hohl ist. Nie ist sie im Wutscherhäusl! Nie! Das ist ihr alles zu unbequem. Keinen Finger krümmt sie. Hat sie jemals einen Putzlappen in die Hand genommen? Ganz zu schweigen von Hammer und Rasenmäher! Was will sie also?“

„Sie will, dass Waldemar das Wutscherhäusl kauft“, sagte Birgit.

„Und? Kauft er?“, fragte Dietrich.

„Nie und nimmer!“ Joachim war da ganz sicher. „Wahrscheinlich möchte er sogar, der verliebte alte Esel, aber seine Frau macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Ohne ihre Zustimmung kann er solche Beträge nicht loseisen. Und wisst ihr, was ich euch sage? Ich verstehe diese Annegret, ja, ich verstehe sie. Was erwartet man denn von ihr? Dass sie der jungen Geliebten ihres Göttergatten die Herzenswünsche erfüllt? Annegret ist eine Frau mit Stolz und Rückgrat, nicht so eine würdelose Masochistin wie Rebekka.“

Joachim seufzte und griff zur Cognacflasche. „Willst du auch noch?“ Dietrich nickte.

„Alles klar, Joachim, aber was kann ich für die Sache tun?“

„Wir müssen noch einmal mit Mutti reden. Du und ich, gemeinsam hebeln wir den Schwachsinn aus, den ihr Reingard einredet.“

Gemeinsam, dachte Dietrich in sanfter Trunkenheit, wir zwei, die Vernünftigen. Seit Jahren hatte er keine so gute Stunde mehr genossen wie jetzt, an diesem milden Sommerabend. Angereichert mit Speis und Trank, das Cognacglas in der einen, die immer noch glimmende Zigarre in der anderen Hand, in ernster, fester Kameradschaft mit seinem großen Bruder, der seine Hilfe brauchte. Und da sie in ihrem Urteil über die dumme, narzisstische, freche kleine Schwester so unzerstörbar einig waren, lag es nahe, ihr männliches Pendant, den faulen, gerissenen Hochstapler Reinhard auch gleich abzuhandeln, sozusagen im Gesamtpaket. Was getan ist, ist getan. Dietrich fühlte vor.

„Welche Rolle spielt denn eigentlich unser flanierender Weltensammler in diesem Drama?“

Joachim antwortete nur mit einer wegwerfenden Handbewegung, aber Birgit überraschte: „Keine so üble, finde ich.“

„Du meinst, er hält sich raus.“ Joachim wollte einem möglichen Missverständnis vorbeugen. „Das ist keine Leistung. Er hat in dieser Sache, nüchtern betrachtet, nichts zu erben.“

Birgit erinnerte lachend an die kleine Szene, die Reinhard bei der Abreise vom Sonnwendfest zum Besten gegeben hatte. Loslassen, hat er gesagt, einfach nur loslassen! Nehmt euch zurück und nicht so wichtig. Fragt doch das Wutscherhäusl selber, was es will. Breitbeinig hatte er sich vor die Haustür gestellt und gerufen: He, Wutscherhäusl, willst du deinen irdischen Weg beenden? Aus Ziegel, Mörtel, Stein und Holz bist du gemacht, zu Bauschutt wirst du werden! Früher oder später! Durch Wettergötter oder Russengold!

„Dieser Spinner“, brummte Joachim.

„Ja, einerseits“, sagte Birgit, „er muss sich halt immer inszenieren. Aber andererseits, vielleicht lebt man mit so einer Einstellung wirklich leichter und freier.“

„Hippie-Flausen“, sagte Joachim.

„Vielleicht. Aber wenn einer nichts anderes im Kopf hat als Vermögen und Karriere, sind das auch Flausen, andere Flausen, aber Flausen.“

Birgit starrte trotzig auf den Wasserkrug und Dietrich spürte, dass sich in Joachim jetzt etwas Undeutliches, aber Starkes und Grundsätzliches aufrichtete.

„Das geht wahrscheinlich gegen mich, ja? Das geht wieder einmal gegen mich.“

Es wäre für Birgit ein Leichtes gewesen, das aufziehende Unwetter vorbeizuwinken. Ein sanftes Natürlich nicht, mein Schatz oder ein empathisches So etwas würde ich dir nie unterstellen, Liebster hätte gereicht. Dietrich hoffte sehr auf einen dieser Sätze, aber Birgit sagte einen anderen: „Wenn du dich betroffen fühlst.“ Und das fiel auch noch schnippisch aus. Dietrich war unglücklich.

„Ich fühle mich keineswegs betroffen“, sagte Joachim.

„Dann kannst du ja gelassen bleiben.“

„Die Frage ist aber gar nicht, ob ich mich betroffen fühle. Die Frage ist, ob du so über mich denkst. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, sozusagen.“

„Gedanken sind frei, auch die ungerechten, sozusagen.“

„Birgit, ich hab es satt!“

„Was denn?“

„Ich lasse mich nicht von meiner eigenen Frau als skrupellosen Geschäftemacher und eitlen Karrieristen hinstellen. Noch dazu vor meinem Bruder!“

Bitte, nein, dachte Dietrich, holt jetzt bloß nicht mich in euren Boxring. Ich will nicht der Kampfrichter sein. Aber es war zu spät. Die erste Runde war schon eingeläutet. Birgit legte Protest ein.

„Hab ich Joachim als eitlen Karrieristen und skrupellosen Geschäftemacher bezeichnet? Dietrich, hab ich das?“

„Nnnein, nicht direkt …“

„Nicht direkt! Hörst du? Nicht direkt! Natürlich nicht direkt! Aber indirekt! Birgit, ich kenne dich ja so gut, das Spiel über die Bande, das beherrschst du ausgezeichnet.“

„Ich weiß zwar nicht, was ein Spiel über die Bande ist …“

Dietrich hob die Hand und sagte: „Hallenfußball! Oder Eishockey.“ Er setzte so eifrig zur Erklärung an, als wäre er hier der Klassenbeste. „Das Spiel über die Bande funktioniert zum Beispiel so: Der Verteidiger steht in der eigenen Hälfte, der Angreifer in der gegnerischen, dazwischen die Abwehr …“

Birgit interessierte sich leider nicht für die Spieltechnik, und Joachim kannte sie schon. Dennoch hatte Dietrichs nervöser und scheinbar unangebrachter Exkurs in den Mannschaftssport die Kampflaune des Paars abgekühlt. Birgit räumte den Tisch leer und sagte halb spöttisch, halb beleidigt: „Dann sorg ich mal für die Nachspeise. Wie sich’s gehört für die brave deutsche Frau.“

Dietrich wusste nicht, wie er nach Birgits stolzem Abgang in die Küche weitermachen sollte.

„Nimm dein Glas mit“, sagte Joachim, „dann drehen wir eine Runde durch den Garten. Wundere dich bitte nicht über gewisse Spannungen. Bei uns ist seit Wochen dicke Luft.“

„Oje, Eheprobleme …“

„Ja und nein. Ich meine, nicht das Übliche, also, es geht nicht um eine Affäre oder so etwas.“

„Sondern?“

„Du weißt ja, dass mich Herbert nach Wien holen wollte.“

„Herbert?“

„Stichwort Innenministerium.“

„Nein, das weiß ich nicht.“

„Ach, hab ich dir das nie erzählt? Na, egal, nach dem Ibiza-Schlamassel ist das sowieso Schnee von gestern. Wir sind nicht mehr in der Regierung und Herbert ist nicht mehr Minister. Er ist aber sicher der kommende Mann in der Partei. Dietrich, ich habe den Fünfziger hinter mir, wenn ich noch einmal ganz vorne mitspielen will, dann muss ich jetzt am Ball bleiben.“

„Ja, klar, versteh ich.“

„Birgit ist dagegen.“

„Warum?“

„Politische Bedenken, wegen Herbert. Wenn man schon in einer rechten Partei ist, dann soll man wenigstens nicht an ihrem rechten Rand stehen.“

„Sagt sie …“

„Ja, es ist ihr peinlich. Du weißt, ihre Eltern, ihr liberales Umfeld. Und wenn ich ihr erkläre, dass es mir nicht um rechts oder weniger rechts geht, sondern um vorne oder hinten, dann nennt sie mich zynisch. Ich nenne das pragmatisch. Der Wille zur Macht, das ist etwas Natürliches. Ist doch so!“

Na also, Burgfrieden, dachte Dietrich, als Birgit die Nachspeise brachte und Joachim einen versöhnlichen Kuss auf ihre Wange andeutete. Alle drei bemühten sich um Risikominimierung in der Themenwahl. Womit er derzeit beruflich zu tun habe, fragte Joachim den Bruder, und Dietrich erzählte etwas zu ausführlich von seiner statistischen Untersuchung zur Nutzung von Güterwegen. Der Abend hatte an Schwung verloren, und auf das Thema Wutscherhäusl kamen sie erst wieder, als sich Dietrich von Birgit verabschiedet hatte und Joachim seinen Bruder zum Gartentor begleitete.

„Wie machen wir weiter? Wann reden wir mit Mutti?“, fragte Dietrich.

„Ich ruf dich nächste Woche an, Dietrich, und danke! Ich weiß deine Loyalität zu schätzen.“