Read the book: «Die Höhle des Löwen», page 2

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Fredi Jaspers nippte lautstark an seinem Kaffee. Sabrina konnte das Schlürfen bis in die Küche hören. Sie musste lächeln, denn sie liebte diese kleinen Macken an ihrem Verlobten. Ihr Start in Saffelen war zwar aufregender gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte, dennoch hatte sie sich schon nach kurzer Zeit in diesem ganz speziellen Kosmos ganz gut eingelebt. Die Menschen begegneten ihr weitgehend offen und freundlich, was natürlich auch daran lag, dass Fredi und dessen Freund Borowka die Fußballstars der Kreisliga-C-Mannschaft waren und zudem zu den engsten Freunden des hoch angesehenen Ortsvorstehers Hastenraths Will gehörten. Das hatte ihr sicher geholfen, sich zu akklimatisieren, schließlich hatte sie bis dahin Berlin nie verlassen. Aber ein so großer Unterschied schien zwischen ihrer hektisch-quirligen Heimatstadt und dem scheinbar verschlafenen Dorf an der holländischen Grenze gar nicht zu bestehen. An diesem Morgen beherrschte eine unfassbare Bluttat die Schlagzeilen. Die Heinsberger Zeitung, aber auch viele überregionale Zeitungen hatten groß aufgemacht mit der Geschichte um Peter Kleinheinz. Allzu viele Details gab es nicht, da die Staatsanwaltschaft eine strikte Informationssperre verfügt hatte, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Peter Kleinheinz war, soviel hatte Sabrina mitbekommen, eine Berühmtheit unter den Kommissaren in der Region. Er hatte einige spektakuläre Fälle gelöst, den letzten erst vor wenigen Wochen, und galt vielen seiner Kollegen als Vorbild, auch aufgrund seiner oft unkonventionellen Methoden. Umso unglaublicher war, was sich im Haus an der Saffelener Goethegasse zugetragen haben sollte.

Als Sabrina sich mit einem Cappuccino zu Fredi an den Frühstückstisch setzte, las dieser ihr laut und etwas holprig aus der Zeitung vor: „Hör dir das an, zusammenfassend muss man von folgendem Szenario ausgehen: Da seine Nachtschicht ausgefallen war, kam der bekannte Hauptkommissar Peter Kleinheinz am späten Samstagabend unerwartet nach Hause. Dort überraschte er seine Lebensgefährtin Bettina H. mit einem noch nicht identifizierten Mann im Bett. Offenbar aus rasender Eifersucht gab Kleinheinz zunächst Schüsse auf den Mann ab. Die Polizei fand den 42-jährigen später im Schlafzimmer. Der Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen.“

„Unfassbar“, entfuhr es Sabrina, „dabei war der doch immer so nett und freundlich.“

„Man kann die Leute immer nur vor der Kopf gucken“, murmelte Fredi, bevor er weiter vorlas: „In einer Pressekonferenz am Sonntag äußerte sich Polizeisprecher Hanno Heinrichs wie folgt: ‚Die Obduktion ergab, dass das Opfer aufgrund von Schussverletzungen starb.‘ Nicht bestätigen hingegen wollte er, dass auch Bettina H. Schussverletzungen erlitt, obwohl vieles darauf hindeutet. Der 36-jährigen gelang offensichtlich schwer verletzt die Flucht. Eine Blutspur, die ihr zugeordnet wird, erstreckte sich die Treppe hinunter bis auf die Außenterrasse des Hauses, wo sie sich aufgrund der Wetterverhältnisse verlor. Seit gestern laufen umfangreiche Suchaktionen, bei der auch eine Hundestaffel eingesetzt wird. Wie unsere Zeitung aus gut unterrichteten Quellen erfuhr, soll Bettina H. einen erheblichen Blutverlust erlitten haben. Dass dieser auf eine Schussverletzung zurückzuführen ist, lässt die Aussage eines Nachbarn vermuten: ‚Ich hörte kurz hintereinander vier Schüsse‘. Dies deckt sich auch mit unseren Recherchen, dass aus der Dienstwaffe des mutmaßlichen Täters Peter Kleinheinz vier Kugeln abgefeuert wurden, von denen am Tatort aber nur zwei sichergestellt werden konnten. Kurz nach der Tat war der 44-jährige Kriminalhauptkommissar am Tatort festgenommen worden. Er leistete keinen Widerstand. Schmauchspuren an seiner Hand sollen belegen, dass es sich bei ihm um den Schützen handelt. Noch am Sonntag wurde ein Haftbefehl erlassen.“

Fredi legte die Zeitung zur Seite: „Unglaublich, oder?“ Sabrina, die gebannt zugehört hatte, nickte. Das meiste wusste sie schon, da sich Informationen in diesem kleinen Dorf meist schneller verbreiteten als im Internet, was allerdings zum Teil daran lag, dass die Internetverbindung in Saffelen ausgesprochen schlecht war. Auch zwei Tage nach den dramatischen Ereignissen konnte Sabrina alles noch nicht glauben. „Der Kommissar Kleinheinz ist doch so ein netter Kerl. Es ist doch noch gar nicht so lange her, dass er uns das Leben gerettet hat. Überleg mal: Jetzt lebe ich erst seit zwei Monaten hier in Saffelen und hier ist mehr los als früher immer in Berlin.“

Fredi schüttelte vehement den Kopf. „Moment mal. Du denkst bestimmt jetzt, ich hätte die ganze Zeit Scheiße erzählt. Aber ich schwöre dir: Die ersten dreißig Jahre meines Lebens war hier absolut nix los. Ich würde sogar sagen: doppelt so wenig wie nix.“

„Meinst du denn wirklich, dass Peter Kleinheinz zu so was in der Lage ist?“

Fredi hob die Schultern. „Wie gesagt, man kann Leute immer nur vor der Kopf gucken. Ich glaube, ich dürfte auch keine Pistole in der Hand haben, wenn ich dich mit ein anderer Mann …“

„Fredi!“, fuhr Sabrina empört dazwischen. „Solche Gedanken schlägst du dir mal ganz schnell aus dem Kopf! Ich will keinen anderen als dich. Oder hast du etwa schon vergessen, dass ich deinen Heiratsantrag angenommen habe?“

Fredi grinste breit. „Nein, natürlich nicht.“

„Aber, wo wir gerade beim Thema sind. Schau doch mal in den Garten. Fehlt da nicht was?“

Fredi folgte ihrem Blick durch die große Glasschiebetür, deren Einbau ihm und Borowka eine Menge abverlangt hatte, hinaus auf das satte Grün des Rasens. Ihm fiel jedoch nichts auf, was fehlen könnte.

Sabrina half ihm auf die Sprünge. „Würde da nicht unheimlich gut eine Kinderschaukel hinpassen?“

Fredi sah sie irritiert an. „Eine Kinderschaukel? Wofür das denn? Aus dem Alter sind wir ja wohl raus. Wo ich aber tatsächlich drüber nachdenke, ist so ein großer Weber-Gasgrill für draußen. Spargel seine Eltern haben so einen. Und zwar der Genesis E 330. Den hab ich mir letztens mal bei denen angeguckt. Der macht besonders hohe Temperaturen und damit kann man so lustige Grillmuster auf die Steaks drauf machen. Der ist mit ein intrigiertes Thermometer für Temperaturkontrolle und so gusseiserne Grillroste. Damit kann man direkt und indirekt grillen, da muss ich wohl noch mal nachgucken, was genau der Unterschied ist. Auf jeden Fall ist das superlecker. Ich hatte schon mal mit der Borowka überlegt, da hinten in die Ecke der Boden zu pflastern und dadrauf dann der Grill …“

„Okay, ich versuch’s mal anders“, unterbrach Sabrina ihn sanft. „Hast du dir schon mal Gedanken gemacht, was wir mit dem leer stehenden Zimmer neben unserem Schlafzimmer machen sollen?“

Fredi nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht, weil er mittlerweile kalt war. Nach kurzer Überlegung sagte er: „Aaah, ich verstehe. Du hast keine Lust mehr, die Wäsche im Keller zu machen. Du möchtest da dein Bügelzimmer reinmachen. Das ist kein Problem. Meine Mutter hatte das auch dadrin.“

„Falsche Antwort.“

„Hmm. Was könnte man denn sonst …? Ein Bürro? Aber was soll man dadrin machen?“

Sabrina seufzte. Sie stand auf, ging in die Küche und kam mit einer frischen Tasse Kaffee zurück, die sie vor Fredi abstellte. Fredi bedankte sich und nahm einen großen Schluck. Sabrina sagte: „Ich möchte ein Kind.“

Fredi spuckte den Kaffee in hohem Bogen aus. Die braune Flüssigkeit verteilte sich auf dem Laminat, dessen Verlegung ihm und Borowka ebenfalls einiges abverlangt hatte. Hustend sagte er: „Wie jetzt, ein Kind? Du meinst …?“

Sabrina ergriff seine Hand und sah ihm mit verträumtem Blick in die Augen. Fredi wusste, dass er jetzt irgendetwas sagen musste, aber ihm fiel partout nicht ein, was.

Zum Glück klingelte in diesem Augenblick sein Handy. Hastig drückte er die Annahmetaste und Borowkas laute Stimme drang in den Raum: „Wann kommst du mich endlich abholen, du Aschloch? Hast du mal auf die Uhr geguckt? Der Oellers reißt uns der Arsch von hier bis Himmerich auf, wenn wir wieder zu spät kommen. Ich werd noch bekloppt. Ohne Auto kommt man sich ja vor wie der Einarmige unter die Blinden.“

4


Hastenraths Will ließ die Zeitung sinken und schnaubte wie ein Pferd, so sehr ärgerte ihn das, was er da lesen musste. Dunkle Ränder unter seinen Augen zeugten von zwei schlaflosen Nächten. So viel Zeit war bereits vergangen seit der Festnahme seines besten Freundes.

Die immer noch stark erkältete Marlene betrachtete ihren Mann besorgt, während sie sich ein Marmeladenbrot schmierte.

„Was steht denn da?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort längst wusste.

„Nur Schwachsinn!“, echauffierte sich Will. „Ich habe doch gestern erst mit der Kommissar Dohmen telefoniert und der hat mir gesagt, dass bis auf Weiteres keine Informationen an die Presse rausgehen. Das ist alles zusammenfantasiertes Zeug. Wenn das so weitergeht, schreibe ich die mal ein gesalzener Leserbrief.“

„Was hat der Herr Dohmen dir denn gesagt, wie du dem angerufen hast?“

Will überlegte kurz. „Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist, Herr Hastenrath?!“ Marlene verpasste ihm einen spielerischen Klaps auf den Arm. „Danach, mein ich!“

„Ach so“, Will schnaubte erneut, bevor er antwortete: „Nicht viel. Das Problem ist, dass eine Mordkommission aus Aachen die Ermittlungen übernimmt. Das ist wohl immer so.“

„Ja, aber, da werden doch wohl auch dem seine Kollegen aus Heinsberg mithelfen.“

„Ja schon“, erwiderte Will und nippte an seinem Kaffee.

„Die Aachener richten sich auch ein Bürro in der Kreispolizeibehörde ein und werden von Kommissare von da unterstützt. Aber das Problem ist natürlich, dass Kleinheinz ein Kollege ist. Und deshalb hat der Chef, dieser Pimpertz, von dem Peter früher immer schon mal erzählt hat, der Dohmen ausgeschlossen, wegen weil der vielleicht befangen ist als guter Freund. Das passt der Dohmen natürlich nicht. Deshalb darf der auch nicht mit der Peter sprechen. Der sagt, zu dem dürfte im Moment nur ein Anwalt, aber der Peter weigert sich, einen zu engagieren. Dabei, sagt Dohmen, gäbe es bei der Fall eine ganze Menge Ungereimtheiten, die der Peter entlasten könnten. Zum Beispiel sagt der, dass der so gut wie nie seine Dienstwaffe mit nach Hause genommen hat, weil die Bettina das nicht wollte. Der hat die normalerweise immer direkt nach Feierabend in sein Waffenschrank auf der Dienststelle eingeschlossen. Außer am Samstag – da hatte er sie, warum auch immer, dabei.“

Marlene zog die Stirn kraus und dachte nach. „Aber … wär das am Ende nicht sogar ein Beweis dafür, dass der das Ganze geplant hat?“

Will sah seine Frau irritiert an, bis es ihm dämmerte, dass sie recht haben könnte. Dennoch schüttelte er trotzig den Kopf. „Marlene, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass der Peter zu so was in der Lage wäre?!“

„Natürlich nicht. Aber findest du nicht auch, dass so ziemlich alles, was bisher bekannt ist, gegen dem spricht?“

Plötzlich klingelte das Telefon im Flur. Will zeigte keine Reaktion und starrte nur stumpf auf die vor ihm liegende Zeitung. Seufzend quetschte Marlene sich aus der Kücheneckbank heraus und schlurfte auf ihren Hausschuhen zum Telefon. Unmittelbar nachdem sie den Hörer abgehoben hatte, plapperte eine hochgradig aufgeregte Billa Jackels los wie ein Maschinengewehr. In atemlosen Sätzen berichtete sie davon, dass sie vor wenigen Minuten beobachtet habe, wie ein großer Bagger von der Polizei in den Garten von Bettina Hebbel und Peter Kleinheinz eingewunken worden sei. Sie war sich sicher, dass man dort nach der Leiche der jungen Frau suchen wollte. Angeblich habe man auf der Terrasse einen blutverschmierten Spaten mit den Fingerabdrücken von Peter Kleinheinz gefunden. Letzteres wusste sie allerdings nur von Eidams Fine, die das wiederum beim Metzger gehört hatte. Den Bagger jedoch habe sie eben mit eigenen Augen gesehen, als sie zufällig durch die Goethegasse spaziert sei.

„Zufällig spaziert? Um kurz nach sieben?!“, fragte Marlene argwöhnisch.

„Ja … ich dachte, ich hätte gestern Abend mein Portemonnaie da verloren“, geriet Billa kurz ins Stocken, bevor sie mit unvermindertem Tempo weiterredete, „ich habe es aber eben in meine Handtasche gefunden. Ist ja auch egal. Auf jeden Fall läuft die Suche nach die Frau Hebbel auf Hochtouren. Die Polizei ist wohl zusätzlich zu die Baggeraktion mit eine sogenannte Hundertschaft der Wald am durchkämmen – obwohl ich nicht glaube, dass das hundert Leute sind. Aber die haben sogar Spezialhunde dabei, die sich an der Geruch von vermisste Personen orientieren. Unfassbar, oder? Ich mein, ich muss ganz ehrlich sagen. Dieser Kleinheinz war mir nie geheuer. Weißt du noch, wie betrunken der letztens bei der Feier von Eidams Juppi war.“

„Jetzt mach aber mal halblang, Billa. Zum einen waren da alle betrunken und zum anderen hatte der Richard Borowka dem doch gegen dem sein Willen mit Saffelener Höllentropfen abgefüllt.“

„Ja, schon, aber … aber, ich bin dem schon mal auf der Straße begegnet und da hat der nicht gegrüßt.“

Marlene seufzte und verkniff sich eine Antwort. Stattdessen beendete sie das Telefonat mit den Worten: „Billa, der Wäschetrockner geht. Ich melde mich später noch mal.“

Als sie in die Küche zurückkehrte, saß Will immer noch unbeweglich und mit eingefrorener Miene an seinem Platz. Marlene machte sich zunehmend Sorgen, denn in den 30 Jahren ihrer Ehe hatte sie ihren Mann selten so niedergeschlagen erlebt wie im Moment. Höchstens vielleicht beim Tod seiner geliebten Oma. Leider fiel ihr nichts wirklich Aufmunterndes ein, denn Kommissar Kleinheinz, den auch sie sehr schätzte, schien sich in eine hoffnungslose Lage manövriert zu haben. Die gegenwärtige Situation, die sich aus Gerüchten, aber auch aus unbestreitbaren Fakten zusammensetzte, ließ kaum einen anderen Schluss zu, als dass Peter Kleinheinz in einer Affekthandlung zum Mörder geworden war. Möglicherweise war ihm sogar seine Lebensgefährtin zum Opfer gefallen, doch von ihr fehlte nach wie vor jede Spur. Nicht zuletzt Billas Baggerbeobachtung ließ in Marlene jedoch den furchtbaren Verdacht aufkeimen, der bereits seit gestern im Dorf die Runde machte. Demnach soll Kleinheinz seine Freundin bis in den Garten verfolgt und dann dort getötet und vergraben haben. Dafür sprach, dass Bettina Hebbel aufgrund ihres starken Blutverlusts nicht weit hätte kommen können und dennoch wie vom Erdboden verschluckt war. Im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Marlene unwillkürlich und ein kalter Schauer legte sich über ihren Rücken. Sie schob die gruseligen Gedanken beiseite und sagte sich, dass auch gegenüber Peter Kleinheinz so lange die Unschuldsvermutung zu gelten hatte, bis der Fall aufgeklärt war. Und auch Will zuliebe wollte sie sich gar nicht erst an wilden Spekulationen beteiligen. Der hielt nämlich unerschütterlich daran fest, dass sein bester Freund Peter Kleinheinz das Opfer einer Verwechslung, eines Komplotts oder wovon auch immer geworden war. Ihr war klar, dass Wills detektivischer Geist längst geweckt war und er nicht ruhen würde, bis der Fall aufgeklärt war. Ob ihm das, was er herausfinden würde, jedoch gefallen würde, da war Marlene sich alles andere als sicher. Eifersucht hatte schon viele Existenzen zerstört und war, das hatte Marlene erst kürzlich in der „Frau im Spiegel“ gelesen, mit Abstand das häufigste Mordmotiv.

Plötzlich musste sie darüber nachdenken, wie sie wohl selbst in einer ähnlichen Situation reagiert hätte. Doch als sie ihren mit dem Schicksal hadernden Mann in seinem abgetragenen Hemd und der altmodischen Hornbrille musterte, fehlte ihr schlicht die Fantasie, sich diesen Mann in den Armen einer fremden Frau vorzustellen. Aber wie würde Will über so etwas denken? Schließlich war er durchaus bekannt für seine cholerischen Momente, die sich allerdings meist gegen politische Gegner oder Nachbarn richteten. Neugierig fragte sie: „Sag mal: Wenn du mich mit ein anderer Mann im Bett erwischen würdest, was würdest du dann machen?“

Will hob den Kopf und sah seine Frau überrascht an. Nachdem er sich kurz mit der Frage beschäftigt hatte, antwortete er im Brustton der Überzeugung: „Wenn ich dich mit ein anderer Mann im Bett erwischen würde? Ich glaube, ich würde der Mann mit sein eigener Stock verprügeln.“

Marlene strich sich geschmeichelt durchs Haar. Dann hielt sie plötzlich inne und fragte: „Was denn für ein Stock?“

Will grinste schief und antwortete: „Wie, was für ein Stock? Ich geh doch mal davon aus, dass ein Mann, der sich in dein Bett legt, sein weißer Blindenstock dabei hat. Wie würde der sonst hochfinden?“

Will brach in sein typisches schepperndes Gelächter aus. Erst als Marlene mal wieder mit großer Geste und schneidendem Blick ihre Arme vor der Brust verschränkte, erstarb das Lachen und der Landwirt erhob sich mit einer schnellen Bewegung von der Eckbank. „Ähm, wo ist denn die Leine?“, lenkte er im Angesicht des drohenden Gewitters geschickt ab. „Ich geh, glaube ich, mal eine Runde mit der Knuffi.“

5


Will trat vor die Tür und blinzelte in die Sonne, die hinter dem Haus von Jütten Toni aufgegangen war. Knuffi wollte gerade vor dem Rhododendronbusch sein rechtes Hinterbein heben, als Will am Bürgersteig Richard Borowka entdeckte und auf ihn zulief. Der kleine Hund sah sich entsetzt gezwungen, den Uriniervorgang abzubrechen und hetzte seinem Herrchen mit stolpernden Trippelschritten hinterher. Richard Borowka wartete ungeduldig vor der Einfahrt seines Hauses. Es machte ihn halb wahnsinnig, dass er seit dem Verlust seines Ford Capris auf Fredis Chauffeurdienste angewiesen war. Der gehörte nämlich nicht zu den Pünktlichsten, seit er sich ein nicht enden wollendes Verabschiedungsritual mit seiner Verlobten angewöhnt hatte.

Will trat neben Borowka und kondolierte mit gesenkter Stimme: „Es tut mir so leid, Richard. Ich hab’s leider nicht mehr geschafft zur Seebestattung. Aber noch mal danke für die Einladung.“

Borowka nickte mit zusammengepressten Lippen. Da ihm der Gedanke an seine große gelbe Liebe noch zu viele Stiche versetzte, versuchte er schnell das Thema zu wechseln. „Hör mal, was ist das für eine Scheiße mit der Kleinheinz? Meinst du, der hat die arme Bettina …?“

„Nein, natürlich nicht“, schnitt Will ihm ein wenig zu laut das Wort ab, „das muss alles ein großer Irrtum sein.“

„Und was ist mit der tote Mann?“

Will zuckte kraftlos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich kann mir das alles nicht erklären. Ein Tag vor der Tat habe ich mich noch mit der Peter unterhalten und da machte der ein ganz normaler Eindruck. Ich hoffe, dass ich bald mal mit dem reden kann.“

„Wo ist der denn jetzt?“

Will biss sich auf die Lippe. „Wenn ich das richtig verstanden habe, im Knast in Aachen, in Untersuchungshaft.“

„Und da kannst du dem einfach besuchen?“

„Na ja, so einfach wahrscheinlich nicht. Aber ich will mal mit der Kommissar Dohmen sprechen, ob der da für mich was deichseln kann.“

„Der Dohmen muss wohl gerade hinten am Tatort sein. Ich hab beim Rausgehen mitgekriegt, wie Rita mit Billa Jackels dadrüber telefoniert hat. Da sind die wohl mit Bagger der Garten am umgraben.“

Will starrte Richard mit großen Augen an. „Was ist los? Mit Bagger? Ich muss sofort da hin. Komm, Knuffi.“

Borowka hielt den Landwirt an seinem Parka zurück.

„Komm, wir nehmen dich mit. Wir müssen sowieso durch das Neubaugebiet. Da vorne kommt schon unser Taxi.“

Im selben Moment schleuderte ein dunkler Citroen mit quietschenden Reifen um die Kurve. Am Steuer saß ein gestresster Fredi Jaspers, dem sein braunes Haar, das er hinten lang trug, wirr ins Gesicht flog. Satte vier Minuten Verspätung hatte er auf der Uhr. Borowka winkte seinen Kumpel mit ausgestrecktem Mittelfinger am Bürgersteig ein. Der kurbelte das Fenster runter und keuchte: „Tut mir leid, Borowka. Ich musste Sabrina noch …“

„Ja, komm, erspar mir die Details“, ätzte Borowka, „geb lieber Gas. Wir müssen Will und Knuffi noch am Neubaugebiet absetzen.“

Nachdem Will und Knuffi zwei Minuten später in der Goethegasse gegenüber dem Mordhaus aus Fredis Auto gestiegen waren, entschuldigte sich Will wortreich für den großen Urinfleck, den Knuffi auf dem Sitzbezug hinterlassen hatte, und versprach, den Schaden umgehend seiner Versicherung zu melden. Fredi winkte resigniert ab und setzte seine Fahrt fort. Da der lautstarke Anschiss seines Chefs Heribert Oellers ohnehin nicht mehr zu verhindern war, fiel die feuchte Hinterlassenschaft von Knuffi auch nicht mehr groß ins Gewicht – abgesehen vielleicht vom beißenden Geruch. Will streckte sich kurz und näherte sich dann dem diesmal unbewachten Absperrband, das den kompletten Vorgarten vor Schaulustigen schützte. Er passierte die mittlerweile geleerte Mülltonne des Nachbarhauses, die immer noch auf dem Bürgersteig stand, und band Knuffi am Laternenmast an. Verstohlen sah er sich um. Da er keinen Uniformierten entdeckte, hob er das Absperrband an und betrat das Grundstück von Bettina Hebbel und Kleinheinz. Fast lautlos glitt er mit seinen Gummistiefeln durch das morgentaubenetzte Gras und öffnete vorsichtig das kleine, schmiedeeiserne Gartentörchen, das rechts neben dem Haus auf die Terrasse führte.

Hinter dem Haus ging es weitaus geschäftiger zu. Ein kleiner Bagger kurvte wild umher. Der rauchende Bauarbeiter darin hatte bereits mehrere Löcher ausgehoben, in denen Polizeibeamte mit langen Stangen herumstocherten. Ein Polizist mit vier silbernen Sternen auf der Schulterklappe stand mitten auf dem Rasen und brüllte Anweisungen in alle Richtungen. Die Vorstellung, dass gleich jemand „Hier ist was“ rufen könnte, gruselte Will so sehr, dass er gar nicht bemerkte, wie plötzlich jemand hinter ihn trat. Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, zuckte er heftig zusammen. Schwer atmend drehte er sich um und sah in die blutunterlaufenen Augen von Kommissar Dohmen. Viel Schlaf schien der Mann nicht gehabt zu haben in der letzten Nacht. Entsprechend matt klang seine Stimme: „Herr Hastenrath, ich muss Sie wohl nicht belehren, dass Sie sich hier gar nicht aufhalten dürfen, oder?“

„Und was machen Sie hier?“, erwiderte Will. „Sie haben mir doch selbst gesagt, dass Sie von der Fall abgezogen worden sind.“

Dohmen nickte. „Das ist richtig. Aber der Staatsanwalt ist im Haus und es findet gerade eine Tatortvermessung statt. Und da ich Samstagnacht der Erste vor Ort war, soll ich dabei helfen.“

„Und was soll das hier mit der Bagger?“

Dohmen seufzte und zog den Landwirt ein wenig zur Seite. Leise sagte er: „Hören Sie. Ich kann Ihre Sorge verstehen. Mir geht es doch auch nicht anders. Aber alleine schon, dass Sie jetzt hier an einem abgesicherten Tatort stehen und ich mich mit Ihnen unterhalte, könnte mich meinen Kopf kosten. Unter uns – wir haben sogar die ausdrückliche dienstliche Anweisung erhalten, Sie auf Abstand zu halten.“

Will sah ihn erstaunt an. „Anweisung? Von wem?“

„Von unserem Vorgesetzten, Direktionsleiter Pimpertz.“ Will schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich kenn der Mann überhaupt nicht.“

Dohmen sah sich verstohlen um und behielt seinen Flüsterton bei. „Aber unser Chef kennt Sie dafür umso genauer. Ihnen eilt, sagen wir mal, ein gewisser Ruf voraus. Und da Pimpertz offensichtlich Sorge hat, dass Sie die Ermittlungen behindern könnten, insbesondere wegen Ihrer engen Freundschaft zu Kommissar Kleinheinz, haben wir alle die klare Ansage, Sie genau im Auge zu behalten.“

Will schürzte kampfeslustig die Lippen. „So ein Schwachsinn. Ich will Sie doch nur helfen, der Fall aufzuklären, damit der Peter so schnell wie möglich wieder aus dem Gefängnis kommt.“

Dohmen verzog das Gesicht. „Herr Hastenrath. Geht das schon wieder los? Sie sollen sich raushalten aus unserer Polizeiarbeit. Und erst recht sollten Sie sich hüten, schon wieder eigene Ermittlungen anzustellen. Deshalb muss ich Sie jetzt auch auffordern, das Grundstück zu verlassen.“

Will machte keine Anstalten, zu gehen, sondern hielt dem Blick des Kommissars mit sturer Entschlossenheit stand. Völlig ruhig sagte er: „Was ist nur aus Sie geworden, Herr Dohmen? Ich hatte beim letzten Mal, wo wir miteinander zu tun hatten, fast angefangen, Sie sympathisch zu finden. Und zwar, weil ich dachte, dass Sie nicht nur ein Kollege, sondern sogar ein Freund von der Peter sind. Aber jetzt muss ich feststellen, dass Sie auch nur ein uniformiertes Arschloch sind … selbst wenn Sie gar keine Uniform tragen. Und wo wir gerade dabei sind: Soll ich Sie mal sagen, wodran dieser Herr Pimpertz mich mal lecken kann?“

Dohmens Mund klappte auf und zu wie bei einem Fisch im Aquarium. Dass dieser Ortsvorsteher ein unangenehmer Zeitgenosse sein konnte, das hatte der Oberkommissar schon des Öfteren am eigenen Leib zu spüren bekommen, aber selten in derart offener und provozierender Form. Statt jedoch seinem ersten Impuls nachzugeben, den Mann mit einem schnellen Polizeigriff zu Boden zu bringen und ihm Handschellen anzulegen, lösten die drastischen Worte seltsamerweise ein ganz anderes Gefühl in ihm aus. Hastenraths Will tat ihm leid. Ihm schien nicht ansatzweise klar zu sein, wie schwerwiegend die Indizien waren, die gegen Kleinheinz sprachen, aber dennoch imponierte Dohmen der unerhörte Mut dieses einfachen Landwirts, der es wagte, sich trotzig gegen einen ganzen Apparat zu stellen. Einen Justizapparat, der ihm sehr schnell sehr großen Ärger einhandeln konnte. Dieser Schneid und diese Kühnheit waren Eigenschaften, die Dohmen selbst im Laufe seiner Dienstjahre abhanden gekommen waren – wenn er sie denn überhaupt jemals besessen hatte. Er wollte immer nur seine Ruhe und möglichst wenig Verantwortung. Deshalb war ihm schon klar, dass er nichts weiter war als der Erfüllungsgehilfe eines Systems, das diesen Fall so schnell wie möglich zu den Akten legen wollte. Aber hatte Peter Kleinheinz, der Mann, der ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte, es nicht verdient, in dieser schweren Zeit zumindest mit Respekt behandelt zu werden, auch wenn kaum einer im Präsidium noch Zweifel daran hatte, dass der einstige Vorzeigebeamte kaltblütig zwei brutale Morde verübt hatte?

Dohmen bemerkte, dass er bereits endlose Sekunden lang mit offenem Mund vor Will gestanden hatte. Er räusperte sich.

„Also … Herr Hastenrath. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich vergesse alles, was Sie gerade gesagt haben, vor allem die strafrelevanten Sachen. Dafür folgen Sie mir jetzt nach vorne auf die Straße. Da können wir etwas unbeobachteter sprechen.“ Will nickte und folgte dem Kommissar. Als die beiden auf den Bürgersteig traten, freute sich Knuffi so sehr, dass er urinierte. Will drückte ihm ein Leckerchen ins Maul und wandte sich wieder an Dohmen: „Tut mir leid. Da sind wohl eben etwas die Kühe mit mir durchgegangen. Ich wollte Sie nicht beleidigen, wie ich Sie ‚Arschloch‘ genannt habe.“ Dohmen wedelte mit der Hand, als verscheuche er Fliegen.

„Wie gesagt. Ich hab’s schon vergessen. Aber ich habe verstanden, was Sie damit zum Ausdruck bringen wollten. Glauben Sie mir. Ich bin genauso schockiert wie Sie und ich kenne Peter Kleinheinz noch ein paar Jahre länger. Im Moment versuche ich, so professionell wie möglich mit der Sache umzugehen. In den ersten Stunden und Tagen nach einer solchen Tat muss man so gründlich wie möglich nach allen Spuren suchen. Schließlich können solche Spuren auch entlastenden Charakter haben. Aber auch wenn ich in Teufels Küche komme und gegen mehrere Dienstvorschriften gleichzeitig verstoße, ich sage Ihnen jetzt ein paar Dinge, die das Polizeipräsidium eigentlich nie verlassen dürften. Und zwar mache ich das, weil ich weiß, dass auch Peter das gemacht hätte. Ich habe Ihr spezielles Verhältnis zwar nie verstanden, aber am Ende hat es ja oft zu einem guten Ergebnis geführt. Trotzdem hat es dieses Gespräch zwischen uns nie gegeben. Haben Sie das verstanden?“

Will nickte. „Ich danke Sie für Ihr Vertrauen. Und ich verspreche Sie, dass von mir keiner was erfahren wird.“

„Gut“, Dohmen holte tief Luft. „Folgendes scheint Samstagnacht passiert zu sein: Peter Kleinheinz betritt das Haus und überrascht seine Lebensgefährtin Bettina Hebbel und einen fremden Mann im Bett. Sofort eröffnet er das Feuer. Der Mann wird von zwei Schüssen getroffen, die beide tödlich sind. Auch Bettina scheint von zwei Kugeln getroffen worden zu sein, jedenfalls fehlten vier Kugeln in Peters Dienstwaffe. Die Spurensicherung konnte aber nur zwei Hülsen finden. Trotz ihrer starken Verletzung und eines sehr hohen Blutverlustes konnte sie offensichtlich über die Treppe in den Garten fliehen. Dort verliert sich die Blutspur aufgrund des starken Regens. Der Gerichtsmediziner schließt aber fast aus, dass sie sehr weit gekommen ist.“

„Deshalb der Bagger …?“, stotterte Will entsetzt.

„Ja. Wir vermuten, dass Peter die tote oder sterbende Frau im Garten vergraben hat. Wir haben einen blutverschmierten Spaten sichergestellt, allerdings ohne Fingerabdrücke von Peter. Dafür waren jedoch Schlammspuren an Peters Schuhen, die eindeutig aus dem Garten stammen. Entscheidend ist aber der Zeitfaktor. Die tödlichen Schüsse sind laut Gerichtsmediziner und Zeugenaussagen gegen 21.20 Uhr gefallen. Peter hat mich allerdings erst um kurz nach 22 Uhr angerufen und mir mitgeteilt, was er getan hat.“

„Moment mal. Der Peter hat Sie angerufen?“

„Ja. Das Pokalspiel war gerade zu Ende, da ging mein Handy. Peter war völlig verwirrt und redete zusammenhangloses Zeug. Als er sagte, dass er zu Hause sitzt und gerade etwas Furchtbares getan hätte, bin ich sofort hierhin gerast.“ Aber was ich damit sagen will, ist, dass zwischen den tödlichen Schüssen und dem Anruf fast eine Stunde lag. Zeit genug, um einen leichten Körper im Garten zu vergraben.“

Will konnte nicht glauben, was er da hörte. Und er wollte es auch nicht glauben. „Das macht doch überhaupt kein Sinn. Warum soll der denn nur eine Leiche vergraben?“

Dohmen zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, weil für die zweite die Zeit nicht mehr gereicht hat.“