Morgoth Uncursed

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Bei Morgoth ist der Ehrgeiz trotz des Berlin-Desasters ungebrochen. Die Antworten der anderen Plattenfirmen bleiben zwar weiterhin aus, aber tatsächlich melden sich erste Fanzines, die Interviews machen wollen und Kontakte nach Südamerika entstehen, wohin ‚Pits Of Utumno‘ ebenfalls verschickt wird. Sogar Autogrammkarten wollen einige. Zum Glück gibt es seit Anfang 1987 in Dortmund einen neuen Szenetreffpunkt. ‚Sir‘ Hannes Schmidt, Sänger von den Idiots, hat seinen eigenen Plattenladen inklusive Vertrieb gegründet. Der Name ist natürlich: IdiotsRecords. Seitdem trifft sich alles, was in der Stadt irgendwie ein Instrument in der Hand hält, auch regelmäßig dort, insbesondere die Bands, die im Proberaumkomplex des Ceag-Gebäudes proben. Das sind neben den Idiots selbst auch Metalbands wie Angel Dust, Liar, Risk oder Crows. Auch der Herausgeber des örtlichen Fanzines Rock Hard, Holger Stratmann, verkehrt dort regelmäßig. So schnappen sie sich die ‚Pits Of Utumno‘-Tapes und fahren nach Dortmund. Dort, in diesem Plattenladen, soll zumindest schon einmal das erste Demo ausliegen.

Im Laden herrscht wie üblich jene ehrfürchtige Stimmung, die einem mit Vinylfutter gespickten Heiligtum entspricht. Einmal mehr bestaunen die Jungs diese bis zur Decke gefüllte Schatzkammer. Nur Carsten nicht. Der geht schnurstracks zur Theke, hält ‚Sir‘ Hannes das Tape unter die Nase und fragt, ob er ‚Pits Of Utumno‘ in Kommission nehmen würde. Er schmeißt daraufhin das Teil sofort in die Anlage und die ersten Töne von ‚From Dusk To Dawn‘ schallen durch den Raum. Gutes Gefühl. Nach zwei Minuten geht Hannes zu einem Plattenregal und zieht unter dem Buchstaben ‚D‘ eine Platte hervor.

„Hier, hört Euch das mal an.“

„Despair? Nie gehört. Warum?“

„Der Sänger von denen hat gerade ein Label gegründet. Die sind im Moment mit Death auf Tour, kommen demnächst auch ins Tor 3 nach Düsseldorf.“

„Klar, nehme ich, höre ich mal rein.“

Das Album, das Marc sich an diesem Tag kauft, heißt ‚History Of Hate‘ und ist das Debüt der Dortmunder Band Despair. Was ihm wenig später um die Ohren fliegt, ist die erste kreative Explosion des Gitarristen und Songschreibers Waldemar Sorychta, der später noch reichlich Furore mit seiner Band Grip Inc. und besonders seinen Produktionen machen sollte. Progressiv veredelter Thrash-Metal könnte eine Bezeichnung dafür sein, nicht so hart wie Morgoth, aber inspirierend und voller kompositorischer Finessen technisch extrem versierter Musiker wie Sorychta, Gitarrist Marek Grzeszek oder Schlagzeuger Markus Freiwald. Aufgenommen im Berliner Music Lab von einem der Metal-Produzenten der Zeit, Harris Johns, der schon für Helloween, Sodom, Kreator, Voivod und weiß Gott noch welche Bands hinter den Reglern gesessen hat und der sogar mit Death auf Europa-Tour war. Und dann auch noch ein eigenes Label. Despair haben alles, was ambitionierten jugendlichen Musikern einen Riesenklos in den Hals treiben kann.

Aber immerhin ist ein kleines Label eine Möglichkeit. Man hört ja über die etablierten Plattenfirmen so einiges. Die wollen alles bestimmen, die Musik, das Artwork, selbst das Outfit der Musiker und zu allem Überfluss streichen sie das meiste Geld ein und ehe man sich versieht, sitzt man wieder auf der Straße, sobald der Erfolg ausbleibt. Bei einem Label, bei dem der Betreiber selbst Musiker ist und eine Band hat, könnte das anders aussehen. Also ab nach Düsseldorf zum Konzert!

Death sind mit ‚Leprosy‘ auf ihrer ersten Europatour und somit ist das Konzert ohnehin schon fest eingeplant. Ist nicht so viel los, 50 oder 60 Leute, die dem, was inzwischen von immer mehr Leuten ‚Death Metal‘ genannt wird, lauschen. Nach dem Gig halten die Morgother an den Tresen und Ständen des Tor 3 nach dem 20-jährigen Sänger von Despair Ausschau, den sie bisher nur vom Albumfoto her kennen. Doch an diesem Abend suchen sie vergeblich. So hängt sich Carsten am nächsten Tag über das Dortmunder Telefonbuch, sucht jenen Robert Kampf, wohnhaft in der Harnackstraße, und seine Telefonnummer heraus und ruft an. Einfach machen: „Bist Du Robert?“

Man versteht sich. Die bandeigene Firma, der Robert den völlig unmetallischen Namen ‚Century Media‘ gegeben hat, betreut bereits neben Despair eine Schweizer Band namens Poltergeist, Rumble Militia aus Bremen und Liar aus Dortmund. ‚Pits Of Utumno‘ ist allerdings noch nicht das, was Robert nachhaltig überzeugt, aber er ist interessiert. So rät er Morgoth noch ein Demo aufzunehmen und es wieder an ihn zu senden.















Kapitel 4

„The Art Of Sinking“

Das erste Demo war die Eintrittskarte in die Szene außerhalb von Meschede, wo sie im Prinzip die einzigen Metaller waren. Wie üblich zu dieser Zeit hatten sie auch vorher schon Kontakt mit anderen Tape-Tradern, doch nun konnten sie sich selbst als Band präsentieren. Tatsächlich gab es schon Kontakte nach Südamerika, wo die Metalszene fast ausschließlich aus Tape-Tradern bestand und ein Demo ebenso viel Verbreitung finden konnte, wie ein regulär veröffentlichtes Album. Dann kam der Kontakt mit Robert Kampf zustande. Aber was passierte weiter? Marc überlegt:

Marc: „Ob wir Despair auf dem Konzert wirklich getroffen haben, kann ich nicht mehr sagen. Ich weiß noch, dass ich mir damals von allen Death Leuten Autogramme habe geben lassen. Ich stand da mit zitternden Knien am Bus. War ziemlich kalt an dem Tag. Death haben ihre Instrumente verladen und waren ziemlich angepisst. Nach dem Konzert wurde die Tour ja abgebrochen.“

In jedem Fall folgte mit dem zweiten Demo die Einladung zu Despair in den Proberaum und damit ein Moment, an den sich jeder der Beteiligten noch allzu gut erinnert. Darauf angesprochen, bricht erst einmal ein reges Gemurmel unter den Anwesenden am Tisch aus, Erinnerungsfetzen von Hinfahrt, Vorspielen und Rückfahrt, bis sich Harry gegen den Rest durchsetzt.

Harry: „Stell Dir das so vor: Wie blamiere ich mich als unerfahrene Band so richtig?

1 Man vereinbart ein Treffen mit dem Chef der Plattenfirma in dessen Proberaum. Wichtig ist, dass vor Ort viele Zuhörer zugegen sind, am besten technisch versierte Musiker aus der lokalen Metal-Szene mit ihren Kumpels und Freundinnen.

2 Um sich auf ein eventuelles ‚Vorspielen‘ vorzubereiten, ist es unerlässlich, schon auf der Hinfahrt einige Sixpacks Bier zu leeren.

3 Auch wenn die individuellen Eigenheiten der Instrumente, die für die eigenen Zwecke ungeeignet erscheinende Sound-Charakteristik der Backline des Gastgebers und nicht zuletzt der fortgeschrittene Alkoholkonsum dringend von einem Vorspielen abraten, sollte man alle Bedenken beiseite wischen und sich frohen Mutes an die musikalische Präsentation seines eigenen Materials wagen.

4 Um die Blamage perfekt zu machen, wird empfohlen, einen Song anzuspielen, diesen dann nach einigen Sekunden (gezwungenermaßen) abzubrechen, um dann nach dem dritten Versuch den Song irgendwo im Niemandsland zwischen Selbstüberschätzung und Unvermögen langsam versickern zu lassen.

 

5 Abschließend empfiehlt es sich, das eigene Versagen auf den schlechten Sound und die Unzulänglichkeit der Instrumente zu schieben. Fertig ist das totale Desaster.“

Darunter kann ich mir etwas vorstellen. Natürlich habe ich auch Robert Kampf und den damaligen Despair- und jetzigen Sodom-Schlagzeuger Makka Freiwald nach diesem Erlebnis befragt. Der Labelchef relativierte dies sofort, indem er darauf hinwies, dass die Session zwar nicht so toll gespielt war, es ihm aber auch nicht zwingend darauf ankam. Es sei eher aus der Sicht eines Musikers katastrophal gewesen, da es viele Spielfehler gab und er mehr Wert auf den allgemeinen Ausdruck legte. Zudem waren Despair allesamt versierte Musiker, was die Band zusätzlich nervös gemacht hat. Makka bestätigte, dass sie ‚wie die Musikerpolizei‘ da gesessen und tatsächlich nur darauf geachtet haben, ob sie sauber spielen. Carsten sieht das ähnlich.

Carsten: „Es war eine Testsituation. Im dem Proberaum klang alles auch ein wenig anders. Wir waren damals noch nicht so gut und von dem Potential haben wir ungefähr null Prozent abgerufen.“

Rüdiger: „Als wir dorthin gefahren sind, hatten wir richtig Schiss. Wir wollten denen eigentlich zeigen, dass wir nicht irgendwelche Pfeifen sind, haben aber dann genau das Gegenteil gemacht.“

Was Robert Kampf auch heute noch bei Musikern besonders wichtig ist, ist der Einsatz für die Musik. Eine Band sollte gut organisiert sein und die Energie haben, es weit bringen zu wollen. In dieser Hinsicht waren Morgoth sicher schon damals sehr weit. Sie hatten den Willen, sich weiter zu entwickeln und schon damals kristallisierte sich so etwas wie eine Arbeitsteilung heraus.

Dirk: „Die Energie würde ich bei Rüdiger verorten und dieses ‚Wir machen das jetzt!‘ bei Carsten. Harry hat immer Input geliefert und Marc ist in die Frontmannrolle reingewachsen. Das ging schnell und so hat es funktioniert, außerdem waren sie gut und Century Media der ideale Partner, weil sie an dem gleichen Punkt waren.“

Robert sagte im Interview, dass man bei ihrem ersten Gig in Werl schon sehen konnte, wie fantastisch die Band war. Makka erinnert sich noch, wie sich hinterher keiner mehr für Despair interessiert hatte und sie deswegen einmal mehr ziemlich angepisst waren. Aber daraus hat sich letztlich auch eine Freundschaft entwickelt. So kam es dann doch zur Unterschrift des Vertrages und ‚Resurrection Absurd‘ stand plötzlich in den Läden.

Marc: „In Meschede waren wir die einzigen, die in eine bestimmte Szene gehörten. Ohne es zu wissen, haben wir die Musik gemacht, auf die die Leute Bock hatten. Alle im Dorf haben gesagt, ihr macht ja nur Krach und seht scheiße aus. Tja, und dann hat man plötzlich einen Plattenvertrag.“

Rüdiger: „Ich mähte bei meinen Eltern den Rasen, als Marc mit der Platte ankam. Mir wäre fast der Rasenmäher aus der Hand gerutscht: Eine Platte von uns, wir hatten selbst etwas auf Vinyl herausgebracht, ein unbeschreibliches Gefühl. Alles, was darüber hinausging, konnte ich nicht ermessen. Besser konnte es nicht mehr werden.“

Nach den ersten Gehversuchen im Musikgeschäft proben sie weiter, schreiben Songs, trinken Bier, grillen, schauen Monty-Python-Filme und ziemlich schnell wird klar: Ein zweites Demo muss aufgenommen werden. Denn es sind weitere Songs hinzugekommen, bessere, die das, was Morgoth eigentlich repräsentieren wollen, genauer auf den Punkt bringen. Die Songs von ‚Pits Of Utumno‘ sind Ende 1988 bereits veraltet.

Zwei Dinge stehen fest: Dirk soll sie auch bei dem neuen Demo wieder unterstützen und dieses Mal um Gottes willen nicht mehr im Proberaum aufnehmen. Ein Studio muss her! So wird alles verfügbare Geld zusammen gekratzt und Carsten treibt ein Studio auf, in dem man zu günstigen Konditionen zwei Tage verweilen kann. Es ist das D+S-Studio, eigentlich ein Kellerraum in einem Wohnhaus in Hattingen, wo ein Typ namens Michael Jesch hauptsächlich Produktionen für Indie-Bands aus der Umgebung macht, die allerdings innerhalb der Szene schon Aufsehen erregen konnten. In die Räumlichkeiten gelangt man nur durch das Wohnzimmer, so dass die Morgother zusammen mit Dirk im Frühjahr 1989 ihr Equipment am elterlichen Fernsehabend vorbei in den Keller schleppen.

Das zweite Demo erhält den Titel ‚Resurrection Absurd‘ und hier ist nichts mehr vom anfänglichen ‚Ultra-Thrash‘ zu hören. Besonders Marc hat als Sänger eine beachtliche Entwicklung hingelegt. Seine Stimme, mit der er in Zukunft noch etliche Größen der Szene zu beeindrucken wissen wird, hat hier zum ersten Mal den grunzenden, agonalen Ausdruck, für den er bekannt werden wird. Und kompositorisch wissen Morgoth spätestens jetzt, was sie wollen. ‚Dictated Deliverance‘, ‚The Travel‘, ‚The Afterthought‘, ‚Selected Killing‘ und ‚Lies Of Distrust‘ werden den Death Metal Fans später als Teil der Ursuppe dieses Genres in Erinnerung sein.

Also zurück in die große Stadt, Adresse dieses Mal aufgeschrieben (zum Glück braucht man hier kein Transitvisum), wo der Sänger von Despair mit seiner Freundin in einer kleinen Wohnung lebt, deren Hinterzimmer gleichzeitig das Firmenbüro ist. Das Gespräch läuft tatsächlich gut. Da ist nur diese Sache, dass Robert mit seinen Bandkollegen abgemacht hat, sie würden mitbestimmen, welche Bands unter Vertrag genommen werden. Also werden Morgoth in den Proberaum von Despair eingeladen. Schon auf der Rückfahrt scheint klar, dass das nur noch eine Formsache ist.

„Mann, der scheint tatsächlich interessiert. Bei Despair im Proberaum!“

„Was meint ihr? Was will der von uns? Wir müssen doch nicht vorspielen, oder?“

„Nein, dann müssten wir ja den ganzen Kram mitschleppen. Wahrscheinlich will der nur quatschen.“

„Da können wir aber nicht mit dem Zug hinfahren. Wenn der Verspätung hat, sind wir im Arsch.“

„Am besten ein Auto mieten.“

„Und auch direkt noch eine Palette Warsteiner mitbringen. Kann für die Stimmung nichts schaden.“

Ein Plattenvertrag ist zu diesem Zeitpunkt noch viel mehr das Synonym für Erfolg einer Band als zu späteren Zeiten. Er bedeutet, dass die eigene Musik auf Vinyl herauskommt, das man eben nicht einfach zuhause pressen kann. Man kann es auch nicht aufnehmen wie Tapes. Es heißt, dass man sein ureigenes Heiligtum besitzt, das wiederum andere ehrfürchtig herumreichen können. Ein Plattenvertrag ist etwas Mystisches, etwas Märchenhaftes, das Objekt der Begierde für jeden Musiker. Die reale Möglichkeit, so etwas zu bekommen, stößt eine Wolke von Vorstellungen und Visionen aus, wie es sein wird, wie es sein könnte.

Als sie am Tag der Tage im Ceag-Gebäude ankommen, wo auch Despair ihren Proberaum haben, werden sie erst einmal höflich gebeten Platz zu nehmen und die Band legt mit ihrer Probe los. Keiner der Gäste wagt zu reden oder sich unnötig zu bewegen. Carsten und Rüdiger fühlen sich an die Episode im Kreator-Proberaum erinnert. Da war es nett, aber hinterher hatten sie vorspielen müssen. Die Typen, die da gerade zocken, sind nicht nur eine Band mit eigenem Vinyl und auf Tour mit Death gewesen, die sind auch noch wahre Virtuosen an ihren Instrumenten. Ihr Sänger ist obendrein der Mann, der ihnen einen Plattenvertrag verschaffen soll. Die Palette Bier steht zwischen ihnen und sie trinken eine Dose nach der anderen. Als das Bier seine Wirkung zu entfalten beginnt, kommt Robert auf sie zu.

„So Jungs, jetzt seid ihr dran.“

„Wie jetzt?“

„Spielt ein paar von euren Songs!“

„Jetzt sofort? Auf eurem Equipment?“

„Ja, wir wollen was hören.“

Ob es nun Bier oder Panik ist, die von den Köpfen in die Beine steigt, ist nicht zu erfassen. Carsten, Harry und Marc, der selbstbewusst und leicht schwankend ein „Na dann wollen wir das gute Stück mal umschnallen“ loslässt, schnappen sich die Äxte, Rüdiger setzt sich hinter die Drums. Als erstes müssen die Instrumente runtergestimmt werden.

„Komische Gitarre hier, damit komm ich nicht klar.“

„Ey, was machst du da?“

„Ich brauch den Bass auf D.“

„Oh Mann, muss das sein? Lass mich mal!“

Famoser Start. Als sie alles gestimmt haben und noch bevor der erste Ton gespielt wird, sind Despair schon ziemlich genervt. Halb besoffen, aber immer noch voll motiviert, legen Morgoth los. Stöcke klacken, eins, zwo, drei, vier und los geht ‚The Travel‘ – zumindest dreißig Sekunden lang. Abbruch, verspielt, von Neuem, eins, zwo, drei, vier, zweiter Versuch, kam jetzt schon der Refrain? Uneinigkeit, Abbruch, erneuter Versuch. Einer der Drumsticks wird von Rüdiger verholzt. Stumme Gesichter, große Augen der Musiker von Despair. Auch Robert scheint sein Enthusiasmus verlassen zu haben. Das war es! Die Tür des Despair-Proberaums schließt sich hinter ihnen und in das fassungslose Schweigen hinein sagt Rüdiger das, was alle denken: „Können wir jetzt bitte implodieren?“

Die Rückfahrt nach Meschede ist Schweigen. Keiner hätte etwas dagegen, wenn Carsten den Wagen gegen einen Baum lenkt. Dann ist es wenigstens vorbei. Bei dem kurzen Ausklang des eigentlich so bedeutenden Tages fließt die Schockstarre über in Depression. Um acht Uhr sind alle im Bett, Jalousien runter, einfach, einfach, einfach nur Vergessen, Träume begraben, Einsehen, dass man es nicht bringt, dass man es total versenkt hat, Proberaum auflösen, Instrumente in die Tonne, am besten jeden vergessen machen, dass man überhaupt jemals welche besaß.

Ein paar Tage nach dem katastrophalen Vorspielen gibt es aber tatsächlich wieder ein Treffen mit Robert in der Dortmunder Live Station, wo an diesem Abend Rage zusammen mit Watchtower spielen. Rüdiger nennt inzwischen einen alten Ford Fiesta sein Eigen, der zwar in seinem Leben wohl keine neue TÜV-Plakette mehr sehen wird, dafür aber mit einer famosen Stereoanlage ausgestattet ist. Die Investition macht sich bezahlt. Hier, auf dem Parkplatz vor der Live Station, klingt ‚Resurrection Absurd‘ noch brachialer, brutaler, besser als im Proberaum. Da ist es wieder, das Glänzen in den Augen und Robert eröffnet ihnen ein Angebot.

„Wir spielen mit Despair im Kult in Werl. Ihr macht den Support, da könnt ihr zeigen, was ihr drauf habt.“

„Was ein Gig? Naja, aber wir haben bisher nicht so wirklich einen … “

„Klar, machen wir!“

„Aber ich dachte, wir wären im Proberaum so scheiße gewesen?“

„Naja, das war, geht so.“

Die Musiker von Despair finden sie tatsächlich scheiße. Heute weiß man, dass sie Robert mit großen Augen angesehen haben, als er ihnen eröffnete, er wolle Morgoth als Support für Despair haben. Die Sauerländer selbst wollen sich diese Chance nicht noch einmal entgehen lassen. Nach der Enttäuschung der Proberaumsession üben sie, was das Zeug hält: über drei Wochen, jeden Abend. Am Konzerttag, dem 2. Juli 1989, tritt Rüdiger seinen Zivildienst an und wartet direkt mit einem Anliegen auf: „Hi, ich bin Rüdiger, der neue Zivi. Kann ich heute früher gehen?“

Das Kult in Werl ist eine Mischung aus Club und Jugendheim. Zunächst muss die Bühne mittels einiger Bierkästen vergrößert werden. Dieses Mal gibt‘s das eigene Equipment, außer für Rüdiger, der spielt wieder auf dem Schlagzeug von Makka. Also bloß nichts zerdeppern. Während Aufbau und Soundcheck wirkt der Raum noch klein, dann, nach dem Einlass, scheint er mit jedem neu eintretenden Zuschauer größer zu werden, bis er tatsächlich gerammelt voll ist. Natürlich geht allen Morgothern die Düse, dem einen mehr, dem anderen weniger. Aber jetzt gilt‘s: Auf die Bühne und Durchdrehen. Zum ersten Mal.

Es ist vom ersten Ton an wie ein Rausch. Die ersten Songs erobern die vorderen Reihen und beim letzten bebt der Klub bis in den hintersten Winkel. Literweise Adrenalin schießt durch die Körper der vier auf der Bühne, die, geblendet vom Scheinwerferlicht, hauptsächlich die unsagbare Welle von Energie spüren, die in jeder Sekunde auf sie zurollt. Sie alle erleben dieses einmalige Gefühl, dass sich jeder Tropfen Schweiß, jeder noch so weite Weg und jede noch so schwere Arbeit als Musiker gelohnt hat. Als sie nach dem letzten Song ihre Instrumente weglegen wollen, hören sie den ganzen Saal nach Zugaben schreien. Marc geht ans Mikro: „Tut mir Leid, Leute, das ist alles. Mehr können wir nicht.“

Dem Publikum ist das egal. Also nochmal die sechs Songs. Die Leute rasten nun vollends aus und will die Band nicht mehr von der Bühne lassen. Morgoth haben, ohne es vorher gewusst zu haben, den Sound, den alle wollen: brutal, hart, wie ein Virus der Tote aus ihren Gräbern jagt. Sie pumpen die Meute im Kult bis zum Bersten auf und es ist tatsächlich wie auf den Konzerten der Idole. An die Party danach kann sich selbstverständlich keiner mehr erinnern. Nur eins muss in jedem Fall passiert sein: Irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen kommt Robert auf sie zu.

 

„Leute, das war sensationell. Bei anderen Bands hättet ihr schon längst die Regler runtergedreht bekommen, weil ihr zu gut ward. Wir machen das Ding! Ich will Euer Demo als EP rausbringen. ‚Resurrection Absurd‘ mit nem geilen Blut- und Gedärm-Cover. Ich habe da schon jemanden im Kopf, ist ein Kumpel von mir. Der hat gerade die Cover für Liar und Poltergeist gemacht.“

Es ist tatsächlich fast wie im Roman. Vergessen ist die Fahrt nach Berlin, die sinnlosen Wege zum leeren Briefkasten, selbst die desaströse Proberaumsession. Vergessen ist auch die Existenz in Meschede als einzige Metaller weit und breit, denen man skeptische, gar feindselige Blicke zuwirft. Nun sind sie unter Hundertschaften von Menschen gleichen Gemüts und irgendwie ist das auch das wichtigste. Schließlich sind sie in erster Linie Fans, lokalisiert in der Metal-Wüstenei Sauerland und endlich auf eine Oase gestoßen.

Das Konzert im Kult und die Aussicht, eine Platte herauszubringen, setzt ungekannte Energien frei. Carsten telefoniert fleißig weiter, unter anderem mit einem alten Bekannten, der für den ‚Werkkreis Kultur Meschede‘ regelmäßig Rock-Cover-Bands für Gigs im örtlichen Kolpinghaus bucht. Es wird das erste Heimspiel für die Morgoth, die jetzt offiziell eine Century-Media-Band sind. Daher werden die hauseigenen Rumble Militia und Poltergeist hinzugezogen und so kann man ebenfalls vom ersten offiziellen Headliner-Gig sprechen, im Kolpinghaus in Meschede. Das fixt letztlich auch die Lokalpresse an. Holger Stratmann macht für sein Rock-Hard-Magazin vor Ort Fotos und die Westfalenpost fragt nach einem Interview inklusive Fotosession im Proberaum. Wenig später liegt das Tagespressedebüt vor.


„Zeig mal her! Ach du scheiße!“

„Was ist los? Bandname falsch geschrieben?“

„Ne, guck dir das mal an! Morgoth – Death Metal aus dem Sauerland.“

„Ist doch okay.“

„Aber sie haben das Foto von uns auf dem Blümchensofa genommen. So ein Mist! Wir sehen aus wie die letzten Deppen!“

Death Metal auf dem Blümchensofa. Mag sein, dass dieses Bild noch im Kopf herumschwirrt, als sie einige Zeit später die Treppe in ein finsteres Souterrain-Zimmer irgendwo in Dortmund hinabsteigen. Zwischen Plakaten von Christian Death, H.R. Giger und umgedrehten Kreuzen sitzt ein hagerer langhaariger Typ, der finster dreinblickt, als sie ihr Anliegen vortragen.

„Der Sound ist extrem brutal und so soll auch das Cover aussehen. So etwas wie Giger nur mit mehr Gedärmen und Blut, am besten mit Airbrush.“

„Airbrush hab ich noch nie gemacht.“

Der Typ auf dem Stuhl ihnen gegenüber heißt Axel Herrmann, er ist ein Freund von Robert Kampf und hat seine ersten Gehversuche im Coverzeichnen gerade hinter sich. Robert hatte ihn angerufen und gesagt, da sei eine Death-Metal-Band, die ein Cover für ihre erste EP benötigt. Später wird der ambitionierte junge Künstler besonders im Death-Metal-Bereich für Aufsehen sorgen, indem er Cover der ersten Unleashed-, Asphyx-, Iced Earth- und Samael-Alben kreiert, aber auch für Sodom, Edguy und Moonspell tätig ist. Als er den Sauerländern gegenübersitzt, hat Axel Herrmann bislang nur die eher im Comic-Stil gehaltenen Cover von Liar und Poltergeist gezeichnet. Die Cover, die er in den nächsten Wochen für Morgoth schaffen wird, werden auch der Beginn seiner persönlichen Karriere.


Auch Bandfotos müssen aufgenommen werden. Die derzeitige Verpflichtung eines Musikers, dem Land an der Waffe zu dienen, erzwingt den Einsatz eines Haarteils. Die Fotos von Tom Angelripper mit der legendären Topfschnittfrisur sind noch in lebhafter Erinnerung und solche Lacher will man sich nicht auf die Biografie drucken. Allerdings ist auch mit dieser Aktion eine Anekdote geboren, die die Morgother noch lange verfolgen wird.


Auf dem Weg zu der Fotosession werden sie selbst Zeuge der unbestrittenen Qualitäten ihres Labelchefs. Robert Kampf nimmt mit seinem Wagen einer Polizeistreife die Vorfahrt, der TÜV ist abgelaufen und seinen Führerschein hat er auch nicht dabei. Robert steigt aus und redet ungefähr zwanzig Sekunden, dann wird er von den Beamten mit den Worten „Herr Kampf, wir wünschen Ihnen noch einen schönen Tag“ entlassen. Rüdiger schaut zu Carsten und sagt: „Hier sind wir genau richtig!“


Der finale Mix des Demos ‚Resurrection Absurd‘ ist allerdings noch nicht von der Qualität, wie es eine Vinylpressung verlangt. Da trifft es sich gut, dass Robert in diesen Tagen auch Dirk Draeger kennen lernt, denn Despair sollen im kommenden Jahr ihr zweites Album ‚Decay Of Humanity‘, das erste ohne Robert als Sänger, aufnehmen. Hierfür hat er das Studio des renommierten Produzenten Detlef Mohrmann angemietet, der allerdings in Sachen Metal noch keine ausgewiesene Expertise besitzt. Klar ist schon seit den Aufnahmen des ersten Albums im Berliner MusicLab bei Harris Johns, dass Waldemar Sorychta nicht nur Musiker ist, sondern sich auch sehr stark am Produktionsprozess beteiligt – allerdings hat er noch keinerlei Erfahrung als Produzent. So wird Dirk von Robert beauftragt, Waldemar bei der Produktion des neuen Despair-Albums ein wenig zu unterstützen. Im Gegenzug kann er das Mohrmann-Studio bekommen, um „Resurrection Absurd“ noch einmal final zu mischen.

So ist auf dem zweiten Despair-Album ‚Decay Of Humanity‘ zu lesen, dass es von Waldemar Sorychta produziert ist, mit ‚additional help on production‘ von Dirk Draeger. Im Gegenzug hat das Booklet von ‚Resurrection Absurd‘ nun den Satz ‚Mixed at Mohrmann Studios‘ zu verweisen. Am 11. November 1989, genau am Tag des Falls der Berliner Mauer, erscheint es: Das erste Vinyl! Das schwarze Rillengold! Nur dieses Mal mit dem eigenen Namen drauf! Ab sofort herumgereicht in den Zirkeln der Szene, in Schatzkammern wie Idiots-Records, wo man ab jetzt zuerst immer zum Buchstaben ‚M‘ pilgert, nur um zu sehen, ach was, zu fühlen, dass die eigene Platte auch da ist.


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