Zeitenfülle

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Dabei gilt es zur Vermeidung neuer Einseitigkeiten und Überforderungen im Umgang mit der Zeit alle drei temporalen Dimensionen in maßvoller Balance zu halten: Zeit ist immer Chronos in ihrer Befristung und ihrem gerichteten Verlauf, Zeit ist immer Kairos als die konkret-affizierende Gestalt der jeweiligen Gegenwart und Zeit ist immer Pleroma in der unendlichen Fülle ihrer Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund soll das Phänomen der Zeit als das gedeutet werden, als was es durch die derzeitige Vergegenwärtigungstendenz wieder erneut ins Bewusstsein rückt: als Gegenwart. Bemerkenswerterweise ist im deutschen Adverb »jetzt« deren Geheimnis etymologisch aufbewahrt15: ursprünglich zusammengesetzt aus »je« und »zu«, ist die Silbe »je« aus dem spätmittelhochdeutschen »aiwin« mit der Bedeutung »immer, irgendeinmal« entstanden. »Aiwin« wiederum ist als Kasusform zu »aiwi« mit dem altgriechischen »aion« verwandt und trägt die Bedeutung »Zeit, Ewigkeit« und im Blick auf die antike Herkunft auch noch die Bedeutung »Lebenszeit, lange Zeit, Ewigkeit« in sich16. In der heutigen Verwendung des Adverbs »jetzt« mit der »auffällige[n] Einschränkung der Bedeutung auf den gegenwärtigen Zeitpunkt«17 verbirgt sich also jene in der chronologisch verstandenen Zeit verloren geglaubte Ewigkeit, die hier noch in ihrer ursprünglichen Bedeutung gefasst ist: als konkrete Fülle und vollendete Ganzheit des Lebens oder eines Zeitalters.

Das Leitmotiv der vorliegenden Untersuchung ist deshalb ein Verständnis von Gegenwart als das Ineinander von gebrochener Wirklichkeit (Chronos), durchbrochener Wirklichkeit (Kairos) und ungebrochener Wirklichkeit (Pleroma). Dieses Ineinander soll als Perichorese bestimmt werden, um nicht die Aporien des überkommenen Zeit-Ewigkeitsdualismus zu wiederholen, der in seiner letzten Konsequenz zu einem unvermittelbaren Gegenüber einer rein materiell-immanent gedeuteten Welt mit ausdrücklicher Zurückweisung jeder Möglichkeit einer transzendenten Wirklichkeit auf der einen Seite und einem theologischen Jenseitstriumphalismus auf der anderen Seite führt, dessen Erlösungsdominanz die diesseitige Welt bis zur Bedeutungslosigkeit herabmindert. Wie noch zu sehen sein wird, entspricht der Perichoresebegriff in hohem Maße dem Anspruch des postmodernen Pluralitätsparadigmas, Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven ohne leichtfertige dialektische Auflösung in den Blick zu nehmen und so dem oszillierenden Spannungsreichtum einer immer vieldeutig bleibenden Wirklichkeit in Beobachtung und Deutung gerecht zu werden. Allein so vermag das komplexe Phänomen Zeit als Geheimnis einer zugleich chronologisch, kairologisch und pleromatisch gedeuteten Wirklichkeit gewahrt bleiben.

Zwei Hauptperspektiven bestimmen dabei den Gang der Untersuchung: zum einen die philosophische Blickrichtung auf die Zeit aus der Perspektive des Einzelnen, für den Gegenwart immer nur fragmentarisches Nunc sein kann, und die auf rationalem Wege im Phänomen der Gegenwart auf jenes Absolutum stößt, das dem Denken unabweisbar entzogen bleibt. Die philosophische Frage nach der Zeit mündet in jenes Geheimnis, das die theologische Blickrichtung auf die Zeit öffnet, die aus gleichsam göttlicher Perspektive die Gegenwart als Sempernitas zu deuten vermag. Beide Perspektiven gliedern den Gang der Untersuchung und geben ihr die perichoretische Struktur, die dem vorgeschlagenen perichoretischen Zeitverständnis entspricht: in einer Vielzahl philosophischer und theologischer Stimmen jenen Perspektivenreichtum zur Geltung zu bringen, der die Frage nach der Zeit als unablässigen und immer wieder neu zu beschreitenden Weg darstellt, sich auf unterschiedlichstem Wege dem Geheimnis der Gegenwart anzunähern. Dabei bleiben diese Näherungsversuche nicht nur auf dem Feld theoretischer Spekulationen stehen, sondern sind gänzlich von der praktischen Frage motiviert, wie Philosophie und Theologie einen lebensdienlichen Beitrag zum Umgang mit der dem Menschen und der Schöpfung gegebenen Zeit leisten können. Im perichoretischen Ineinander von Chronos, Kairos und Pleroma offenbart sich die theo-logische Struktur der Zeit, die in der Perichorese der drei göttlichen Personen gründet, aus dieser hervorgeht und in diese einmündet, und die sich allein deshalb als Christlicher Äon erweist, weil Gott in seinem eigenen Sohn allen und allem seine ganze Zeit schenken will.

II. Methodische Vorbemerkung

1. Perichorese als Thema, Reflexionsbegriff und Methode

Der noch näher in seiner Bedeutung und Rezeptionsgeschichte zu erläuternde Begriff der Perichorese hat in der vorliegenden Untersuchung eine dreifache Funktion:

(1) Als Thema bestimmt er das Wesen der Zeit selbst perichoretisch. Voraussetzung dieser These ist die vorangestellte Beobachtung, dass ein rein chronologischer Zeitbegriff in sich ungenügend und im Blick auf die Komplexität der Zeit unzulässig eindimensional ist. Vielmehr besteht die temporale Gestalt der Wirklichkeit aus dem ungetrennten und zugleich unvermischten Ineinander von chronologischer Struktur, kairologischer Situation und pleromatischer Ganzheit. Um diesem komplexen Ineinander gerecht zu werden, stellt die perichoretische Deutung der Zeit den Versuch dar, ein temporales Einheitsmodell zu entwickeln, das diese wechselseitige Diversität in Einheit und Verschiedenheit mit einbezieht18. Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, dass der Perichoresebegriff primär ein Theologumenon ist, das zur Beschreibung des trinitarischen Wesens Gottes herangezogen wird. Deshalb beinhaltet das perichoretische Zeitverständnis immer auch eine theologische Dimension, die dem christlichen Bekenntnis zu dem drei-einen Gott entspricht, der Mensch und Schöpfung an seinem trinit arischen Wesen teilhaben lassen will. Wenn es Gottes Wesen entspricht, für Mensch und Schöpfung Zeit zu haben19, dann erweist sich die Zeit selbst als theo-logisch. Allein unter dieser Hinsicht kann die Zeit als Platzhalterin jenes Geheimnisses gedeutet werden, das sich heute als die Unerreichbarkeit der Zeit darstellt, in Wahrheit aber auf die verborgene Gegenwärtigkeit Gottes in der zeitlichen Wirklichkeit verweist.

(2) Mit der Perichorese als Reflexionsbegriff kann die temporale Struktur der Wirklichkeit perichoretisch ausgedrückt werden. Zeit ist nicht nur ihrem Wesen nach perichoretisch, sondern auch sprachlich nicht anders als perichoretisch artikulierbar. Da jedes Sprechen über die Zeit aufgrund ihrer entzogenen Geheimnishaftigkeit defizitär bleiben muss, dürfen einzelne Aussagen über die Zeit nie verabsolutierend für sich stehen, sondern müssen immer im Zusammenhang mit allen anderen Aussagen verstanden werden. Auch hier gilt für Reflexionen über die Zeit das, was das theologische Sprechen über das trinit arische Geheimnis kennzeichnet: So, wie das Sprechen über eine der drei göttlichen Personen immer die anderen beiden und dabei zugleich den einen Gott mitmeint, bleibt jedes Sprechen über Zeit ungenügend, wenn es nicht immer auch als ein Reflex auf das Ganze ihres Geheimnisses verstanden wird.

(3) Schließlich ist die Methode der Untersuchung perichoretisch gefügt. Vielfältige Perspektiven werden auf die eine Frage nach der Zeit eröffnet und, einander bereichernd und ergänzend, miteinander ins Gespräch gebracht. Die Auswahl der Autoren beschränkt sich bewusst auf Philosophen und Theologen des 20. Jahrhunderts, da diese in der Tradition abendländischen Zeitdenkens stehen und es im Blick auf dessen Krise aus dieser Perspektive heraus interpretieren, ihm kritisch begegnen und es über den Horizont seiner chronologischen Geläufigkeit hinaus befragen. Zwei Hauptperspektiven bestimmen dabei den Gang der Untersuchung: zum einen die gebrochene Perspektive des Menschen auf die Wirklichkeit aus seiner jeweiligen Situation heraus (philosophische Durchführung) und zum anderen die ungebrochene Perspektive Gottes auf die allumfassende Wirklichkeit (theologische Durchführung). Beide Perspektiven konvergieren in der Frage nach dem Absolutum der Zeit, weil die philosophischen Beiträge notwendig auf dieses stoßen und die theologischen Beiträge genuin von ihm ausgehen. Die Aufteilung der beiden großen Durchführungen in eine formale und eine materiale Ausarbeitung erscheint deshalb angebracht, weil sie als perichoretische Anordnung zu verstehen ist: Die formale Erarbeitung temporaler Strukturen ist reziproker Reflex auf die materiale Darstellung konkreter Wirklichkeitserfahrungen mit den darin gegebenen Zeitsignaturen und umgekehrt. Begleitet wird die Untersuchung schließlich von jener Frage, die den Menschen in seinem Fragen nach der Zeit immer wieder neu beunruhigt: die Frage nach der Möglichkeit postmortaler Existenz unter der Bedingung des Seins oder Nichtseins posttemporaler Wirklichkeit.

2. Chronos, Kairos und Pleroma als phänomenologische Schlüsselbegriffe

Zeit als Phänomen ist in sich komplex und dynamisch und bleibt einem bloß rationalen Zugang grundsätzlich entzogen, so dass jede verabsolutierende Verengung im Zeitverständnis notwendig zu einem einseitigen Zeitbegriff führt. Reine Chronologisierung reduziert das Zeitverständnis auf ein leeres Kontinuum fortlaufender Zeitpunkte, die durch definierte Maßgaben mathematisch quantifizier- und physikalisch messbar werden und die in ihrer Endlosigkeit zu einem Verständnis von Ewigkeit führen, das Hegel als eine »schlechte Unendlichkeit«20 bezeichnet hat. Die Reduktion der Zeit auf den Kairos dagegen beschränkt diese auf den fragilen Augenblick, der zum Ganzen der Zeit heraufbeschworen wird, dabei ein umfassenderes Verständnis von Gegenwart nicht zulässt und wiederum eine schlechte Ewigkeit hervorbringt, die nicht anders als Starre dieses einen Augenblickes verstanden werden kann. Wird Ewigkeit schließlich als metaphysische Übergröße der Zeit gedeutet, gerät die Zeit selbst in Gefahr, zu einer bloß vorübergehenden und deshalb jeder Bedeutung beraubten Größe herabgemindert zu werden. Deshalb wird zur Vermeidung dieses Missverhältnisses Ewigkeit im Kontext dieser Untersuchung immer als Pleroma – Zeitenfülle – verstanden.

 

In ihrem perichoretischen Zusammenhang bringen alle drei Begriffe auf ihre Weise eine Seite der Zeit zum Leuchten, die nicht ohne die anderen beiden Perspektiven gesehen werden darf. Chronos21 verweist auf die verlaufend-vergängliche, trennend-zerstreuende und irreversibel-gerichtete Seite der Zeit, die die je konkrete Gegenwart in die kairologische Dynamik eines permanenten Wandels stellt und die aufgrund ihrer Endlichkeit zu pleromatischer Erfüllung und Vollendung strebt. Die konkrete Gestalt der Zeit wird durch den Kairos22 angezeigt, der die Gegenwart unverfügbar ergehen, fragmentarisch, aber erfüllt vorübergehen und unweigerlich vergehen lässt, der damit dem leeren Chronos konkrete Gestalt verleiht und in der Ganzheit der situativ auf-, vorüber- und vergehenden Gegenwart auf das Pleroma als deren Fülle und Verheißung verweist. Im Pleroma23 selbst kommen Fülle und Vollendung der Zeit zum Ausdruck als Gewähr und Erhalt alles Zeitlichen in der einen Gegenwart, die chronologisch unermesslich und kairologisch unerschöpflich ist. Chronos, Kairos und Pleroma verweisen in ihrem perichoretischen Ineinander auf das Geheimnis der Zeit, das in dieser Untersuchung als »Christlicher Äon« dargestellt werden soll.

3. Äon24 als theologischer Schlüsselbegriff

Wenn Gegenwart als Jetzt erfahren wird, so ist in dieser Erfahrung, wie etymologisch bereits gezeigt wurde, etwas Ewiges, wenn auch verborgen, mitgegeben. Die im deutschen Adverb »jetzt« als »Aiwi« bewahrte Ewigkeit leitet sich aus dem altgriechischen »Äon« ab, was mit »Lebensalter, Zeitalter, Ewigkeit« übersetzt werden kann. Ewigkeit ist unter dieser Hinsicht keine leere abstrakte Größe, sondern konkrete Fülle, vollendete Ganzheit und unverlierbare Lebendigkeit. Vor diesem Hintergrund soll Äon25 als spezifisch theologischer Zeitbegriff verstanden werden, der das komplexe Phänomen Zeit im umfassendsten Sinn als unvermischtes wie ungetrenntes Ineinander von Chronos, Kairos und Pleroma deutet. Dies bewahrt neben den bereits benannten Gefahren eines einseitigen Zeitverständnisses vor einer dualistisch missverstandenen Zwei-Äonenlehre, die zugunsten eines noch zu erwartenden (besseren) Äon den hiesigen abwertet. Die Spezifizierung als »Christlichen Äon« gründet im christologischen Faktum der Inkarnation, durch die sich Gott selbst in die geschöpflich verlaufende Zeit hingegeben und damit als Herr über alle zeitlichen Dimensionen erwiesen hat26, deren perichoretische Einheit er gewährt. Damit kommt auch die ursprüngliche, auf das konkrete Leben bezogene qualitative Begriffsbedeutung von Äon ins Spiel, insofern sich im durch Tod und Auferstehung vollendeten Leben Jesu Christi die Fülle der Zeiten als Maßgabe und Sinnmitte jeglicher Zeitlichkeit offenbart. Erst von dieser Perspektive her darf es eine Unterscheidung von Altem und Neuen Äon geben, die qualitativ einmal den befristeten Zeitraum der dem Tode verfallenen Schöpfung und zugleich den fristlosen Zeitraum des unverlierbaren Lebens der Neuschöpfung kennzeichnet. Christlicher Äon verweist also auf das perichoretische Ineinander beider Äonen und weist damit die Gesamtwirklichkeit als offene und oszillierende Gegenwart aus, die aus theologischer Perspektive allein vom Christusereignis her gedeutet werden kann.

4. Grenzen der Untersuchung

Die maßgebliche Grenze der Untersuchung liegt im Begriff der Perichorese selbst. In seiner doppelten Funktion als Reflexionsbegriff und Theologumenon kann er weder eine endgültige Antwort auf die Frage nach der Zeit sein noch die Lösung der mit ihr verbundenen Aporien darstellen. Vielmehr betont die perichoretische Interpretation der Zeit deren unbedingten Geheimnischarakter und bringt damit eine der ursprünglichen Bedeutungen des Wortes Perichorese zur Geltung: »herumgehen«, »das Land einkreisen« und »umringen«. Allein in dieser umkreisend-tastenden Weise kann die Frage nach der Zeit so gestellt werden, dass durch die prismatische Vielfalt der Perspektiven deren theo-logische Mitte als Geheimnis gewahrt bleibt. Jede fertige Antwort und jeder eindeutige Vorschlag würden dem Anliegen dieser Untersuchung widersprechen, die oszillierende Wirklichkeit in all ihrer theo-logischen Frag-Würdigkeit offen zu halten. Deshalb bedarf es neben den theologischen Überlegungen auch einer philosophisch-rationalen Vergewisserung, damit das theo-logische Fragen nach der Zeit nicht zu einem theologischen Kurschluss führt, der die offene Aporetik der Zeit leichtfertig als unhinterfragbares Mysterium behauptet und damit ein zirkulärmeditatives Fragen und Denken nicht überstiege. Der spezifische Beitrag dieser Untersuchung zu einer perichoretisch interpretierten Phänomenologie der Zeit liegt deshalb in der inhaltlichen Freilegung perichoretischer Denkstrukturen innerhalb der einzelnen vorgestellten Konzeptionen von Zeit und Ewigkeit, deren Darstellung durch die gegenseitige Bereicherung, kritische Infragestellung und permanente Neuakzentuierung der unterschiedlichen Ansätze ermöglicht wird. Die schier unermessliche Anzahl möglicher Perspektiven setzt dieser Untersuchung dabei ihre methodische Grenze in der Beschränkung der philosophischen und theologischen Zeitkonzeptionen auf eine bestimmte Auswahl von Autoren des 20. Jahrhunderts. Die Auswahl bestimmend ist zum einen das Kriterium der den Autoren gemeinsamen Suche nach einem einheitlichen, postchronologischen Zeitverständnis angesichts der Krise des neuzeitlich-mechanistischen Weltbildes und zum anderen die akzentuiert unterschiedlichen, zum Teil gegensätzlichen Perspektiven, die eine Fülle philosophischer, phänomenologischer, theologischer, spekulativer und lebensdienlicher Aspekte in die Frage nach der Zeit einbringen und so einen ausdrücklich dialogischen Gang der Untersuchung ermöglichen. Allen Autoren ist dabei gemeinsam, dass sie in ihrer Weise auf die Zeit als Geheimnis hindenken (philosophisch) beziehungsweise die Frage nach der Zeit von deren Geheimnis her stellen (theologisch). Hinsichtlich eines angemessenen äußeren Umfangs dieser Untersuchung ist ein Verzicht auf andere relevante Beiträge27 nicht zu vermeiden und bedeutet keinesfalls, dass diese nicht auch für ein perichoretisches Zeitverständnis aussagekräftig wären. Darüber hinaus lässt es die ohnehin umfangreiche Auswahl an Zugängen nicht zu, diese in einem jeweils eigenständigen Entwurf vollständig darzulegen. Diesbezüglich kann auf die zu jedem der Autoren bereits vorliegende Forschungsliteratur verwiesen werden28. Der Aufbau der vorliegenden Untersuchung ist deshalb nicht auf die Autoren selbst bezogen, sondern gründet in der typologischen Aufgliederung der theo-logischen Frage nach der Zeit, deren inhaltlicher Gang durch die spezifischen Einzelperspektiven der jeweiligen Autoren bestimmt wird. Dies setzt voraus, dass deren Konzeptionen nicht in ihrem genuinen Entstehungszusammenhang, sondern immer nur in ihrem auf die Frage selbst bezogenen Sinnzusammenhang gesehen werden müssen29. Unter der Maßgabe dieser genannten Grenzen ist der methodisch gewollte perichoretische Perspektivenreichtum der folgenden Überlegungen vor allem als ein möglicher Beitrag zu einer Phänomenologie der Zeit zu verstehen, der als solcher selbst in die bestehende Fülle alternativer Zeitkonzeptionen perichoretisch eingefügt ist.

III. Die begleitende Frage: Die mögliche Gestalt einer Wirklichkeit nach dem Tod

Die Frage nach der Unvergänglichkeit alles Zeitlichen gehört zu den Grundfragen des Menschen. Besonders im Hinblick auf die sterbliche Existenz stellt sich die dringliche Frage, ob das irdisch einmalige Leben mehr als ein nur »gebrochenes Versprechen«30 ewigen Lebens ist. Gibt es etwas, das die Zeit grenze endlicher Lebensfrist bleibend überdauert? Hat die Hoffnung auf Unsterblichkeit und Verewigung des gelebten Lebens in eschatologisch vollendeter Gemeinschaft eine glaubwürdige Berechtigung? Ist vor diesem Hintergrund die Rede von Erfüllung und Vollendung des Lebens jenseits der Todesgrenze mehr als nur illusorische Vertröstung, die die Diesseitigkeit menschlichen Daseins zu einem »nichtig verlöschende[n] Zufallsfaktor im Sein«31 herabmindern will? Führt die Vision einer universellen letzten Gerechtigkeit über die unheilvolle Versuchung hinaus, menschliche Gemeinschaften vorschnell vom ernsthaften Bemühen um innerweltliche Gerechtigkeit entbinden zu wollen? Und: Wird es eine Weise der vollendeten Gottesbegegnung geben, die über die flüchtigen Erfahrungen seiner »abwesenden Präsenz«32 derart hinausgeht, dass Geheimnis und Sinn von Welt und Leben umfassend, erfüllend und auf ewig erschlossen sind?

Die bleibende Aktualität dieser Fragen zeigt sich in der Fülle gegenwärtiger Publikationen, die sich – zwischen Sensationslust und Seriosität – mit der Möglichkeit einer Weiterexistenz nach dem Tod auseinandersetzen33. Unabhängig von den höchst unterschiedlichen Motivationen, sogenannte Nahtodeserfahrungen zu veröffentlichen, vereint alle diesbezüglichen Berichte ein gemeinsames temporales Schema, nach welchem auf das Diesseits ein Jenseits folgt, in welchem sich das Leben dann fortsetzt. Die inhaltliche Gestalt dieser Beschreibungen postmortaler Existenz reicht dabei vom Unvermögen, das geheimnisvoll Erfahrene adäquat auszudrücken, über Berichte von persönlichen und höchst emotionalen Begegnungen mit bereits Verstorbenen bis hin zur unbekümmerten Adaption religiöser Jenseitsvorstellungen, die unter bewusster Vernachlässigung des in diesen zum Ausdruck kommenden Bild- und Symbolgehalts als Grundlage eines persönlichen Erlebnisberichtes herangezogen werden34. Hintergrund dieser Berichte, die allenfalls etwas über den inneren Prozess des Sterbens35, nichts jedoch über eine mögliche Gestalt postmortaler Existenz auszusagen vermögen, ist jener Zeit-Ewigkeitsdualismus, der mehrheitlich das temporale Schema der Bilderwelt religiöser Jenseitsvorstellungen bestimmt. Auch die christlichen, zum Teil biblisch begründeten Topoi von Himmel, Hölle, Fegefeuer und Jüngstem Gericht haben zumindest auf der Ebene ihres bildhaften Gehalts dieses temporale Schema zur Grundlage. Angesichts eines materialistischen und mechanistischen Weltbildes, in dem die Gesetzmäßigkeiten von Entropie und Irreversibilität dominieren, ist die Frage nach einem Jenseits und dem Leben nach dem Tod jedoch irrelevant geworden, denn kein rationales Wissen kann etwas anderes lehren als dass der Tod das unausweichliche Ende aller weltimmanent-materiellen Existenz ist. Das Schema »zeitliches Diesseits – ewiges Jenseits« erweist sich als fragwürdig hinsichtlich einer Wirklichkeit, von der zunehmend erkannt wird, dass ihr Geheimnis nicht in ein unbestimmtes Jenseits ausgelagert, sondern in dieser selbst zu finden ist.

Vor diesem Hintergrund ist es auch künftig Aufgabe einer lebensdienlichen Theologie, die bleibende Frage nach der Möglichkeit einer Existenz nach dem Tod wach und lebendig zu halten, weil sie zu allen Zeiten Ausdruck der tiefsten Sehnsucht des Menschen nach unverlierbarem Leben ist, über das der Tod keine Macht mehr hat. Glaubwürdigkeit kann ein solches Fragen freilich nur dann für sich beanspruchen, wenn dabei auf den metaphysischen Dualismus von Zeit und Ewigkeit verzichtet wird. Denn dieser stellt erstens eine beliebig vorstellbare jenseitige Existenz als Anschluss an die diesseitige Existenz dar und mindert dafür die abgründige Radikalität des Todes zu einer bloßen Schnittstelle herab, so dass gelebte und erhoffte Existenz außer einer bleibenden Identität des Einzelnen nichts miteinander gemein haben. Zweitens erwächst aus einem solchen Dualismus jener Glaubenstriumphalismus, der der Ausgesetztheit und Fragwürdigkeit menschlicher Existenz angesichts des Todes nicht mehr gerecht wird und damit die Geheimnishaftigkeit diesseitiger Wirklichkeit preisgibt. Durch die Tendenz, das diesseitige Leben zugunsten des verheißenen zu relativieren, verstärkt er schließlich drittens einen Nihilismus, der jene durch den Wegbruch des Jenseits frei gewordene Leerstelle besetzt, die die menschliche und geschöpfliche Existenz auf deren unausweichliche Todesverfallenheit verengt.

 

Im Hinblick auf den Kreuzestod Christi muss christliches Fragen nach der Möglichkeit postmortaler Existenz das Faktum des Todes in seiner ganzen Abgründigkeit radikal ernst nehmen. Soll der Tod dabei nicht nur als Schnittstelle und Übergang in ein besseres Leben gesehen werden, sondern als unverfügbarer Garant allumfassend verwandelter Wirklichkeit, muss das in diesem Fragen vorausgesetzte temporale Diesseits-Jenseits-Schema vermieden werden. Dabei soll im Verlauf dieser Untersuchung auf die Frage, ob es denn ein Leben nach dem Tod gebe, die Maßgabe M. Heideggers angewandt werden, die Fragen, auf die es keine letztgültigen und eindeutigen Antworten gibt, wenigstens immer besser zu stellen36. Weil die Frage nach der Möglichkeit postmortaler Existenz keine letztgültige Antwort für sich beanspruchen kann, sondern im Gegenteil den existentiellen Ernstfall der Frage nach der Zeit darstellt, soll sie die folgenden Ausführungen in dem Versuch begleiten, sie möglichst immer besser stellen zu können. Das heißt konkret in einem ersten Schritt: Die Frage nach der Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod hat sich hinsichtlich der oben genannten Problemfelder als unzureichend und fragwürdig erwiesen. Weil sich jedoch in dieser Frage die Annahme verbirgt, dass die Möglichkeit postmortaler Existenz nur unter der Voraussetzung einer konkreten und gleichsam temporal strukturierten Gestalt postmortaler Wirklichkeit denkbar ist, verschiebt sich der Akzent innerhalb der Frage selbst: nicht das nach ist eigentlicher Fragegegenstand, sondern die Gestalt dieses möglichen Lebens. Freilich kann über dieses »Leben« bislang nichts anderes gesagt werden, als dass sich der Horizont seiner Möglichkeit zwischen den beiden Polen von unerschöpflich-allumfassenden Sein und restlos-ausgelöschtem Nichts erstreckt. Die neu gestellte Frage lautet demzufolge: »Was ist das Leben nach dem Tod: Alles oder Nichts?«

IV Das geleitende Interesse: Die zeitliche Gestalt der durch den Tod begrenzten Wirklichkeit

Ausgangspunkt der Frage nach der möglichen Gestalt einer Existenz nach dem Tod ist die Erfahrung der Vergänglichkeit von Mensch und Schöpfung. Der Tod bestimmt maßgeblich die temporale Gestalt der vergänglichen Wirklichkeit, indem er ihr unvorhersehbare Frist, unüberwindliche Grenze und abgründige Frage zugleich ist. Im Gegensatz zu dieser individuellen Begrenzung ist die Erfahrung der Zeit selbst in den unermesslichen Horizont ihrer bleibenden Entzogenheit gestellt37. Gegenwart ist dabei der Zeit-Raum, in dem diese Spannung permanent ausgetragen wird: als fragmentarischgebrochene Perspektive des Einzelnen auf das Ganze der Wirklichkeit, das ihm prämortal verborgen und postmortal verheißen ist. Die temporale Gestalt dieser Spannung ist bereits als das Ineinander von chronologischer, kairologischer und pleromatischer Seite der Zeit ausgewiesen worden, so dass das leitende Interesse dieser Untersuchung durch drei daraus abgeleitete Aspekte akzentuiert wird: das lebensdienliche Interesse an der Zeit anhand des Kairos, der zunehmend den gegenwärtigen Zeitumgang globalisierter Weltwirklichkeit bestimmt; das philosophische Interesse am Phänomen der Zeit selbst durch den Chronos, dessen geläufige Zerstreutheit die Frage nach der Zeit unablässig herausfordert; schließlich das theologische Interesse an der Zeit mittels des Pleroma, das als die Verheißung der Zeit auf die schon allgegenwärtige, individuell jedoch noch ausstehende Fülle vollendeter Wirklichkeit in entgrenzt-defragmentierter Gegenwart verweist.

1. Das lebensdienliche Interesse am Kairos: Gegenwart als kairologische Gestalt heutiger Zeiterfahrung

a) Kairologischer Zeitumgang

Die Unzulänglichkeit eines einseitig chronologischen Zeitverständnisses zeigt sich bereits an der einfachen Tatsache, dass Zeit, die nur gemessen oder mit der nur gerechnet wird, leer und inhaltslos erscheint. Die für das menschliche Zusammenleben in der Welt nützliche Einteilbarkeit des Chronos erweckt den Eindruck einer definierbaren Objektivität von Zeit, die sich spätestens dann als gegenstandslos erweist, wenn Erfahrungen mit Zeit ins Wort gehoben werden sollen. Selbst die Metrisierung jedweder Abläufe, Entwicklungen, Prozesse, Zyklen oder Fristen ist nur insofern objektiv, als die dazu erforderliche Synchronisationsleistung institutionalisierter Zeit einer von allen geteilten Anerkenntnis bedarf. Es gibt nicht »die Zeit«38, sondern immer nur die Zeit von etwas, die relativ zu der Zeit von etwas anderem ist. Wachsen, Vergehen, Ereignisse, Handlungen, Dinge und jegliches Dasein haben ihre eigene Zeit39, die je einmalig, nie wiederkehrend und unwiederholbar ist. Chronologisch mag die Zeit um den Menschen herum in der Teilnahmslosigkeit der Weltzeit40 vergehen. In allem aber, das den Menschen unmittelbar betrifft, das ihm begegnet und das ihm die Vielfalt seiner intersubjektiven Beziehungen und lebensweltlichen Bezüge ermöglicht, ergeht ihm Zeit in kairologischer Gestalt. Es ist die Weise, Zeit ursprünglich, eigentlich und vor allem gegenwärtig zu erfahren.

Lange vor der technisch vorangetriebenen chronometrischen Beherrschung bestimmte die kairologische Zeit-Weise den menschlichen Zeitumgang. Dieser war an konkreten Handlungszeiten orientiert und basierte auf mythischen Zeitverständnissen, die der Beobachtung kosmischer Zyklen und der Erfahrung naturgegebener Rhythmen entsprangen. Die schon früh entwickelte Zeitmessung stand dabei häufig im Dienst der kultisch ritualisierten Ausdrucksformen dieser Zeitverständnisse, ohne sie jedoch zu dominieren41. Die Zeit der Lebenswelt war von den Naturrhythmen bestimmt, die zyklisch zwar vorhersehbar waren, aufgrund ihrer zeitweiligen Instabilität jedoch immer wieder neu erfleht werden mussten. Zeit war göttliche Gewähr für das Leben oder deren Verweigerung.

Der in der griechischen Mythologie als Gott verehrte Kairos bringt dieses Verständnis anschaulich zum Ausdruck: Das Ergreifen seines Haarschopfes im flüchtigen Augenblick seines Hinübergangs verweist auf die Erfahrung, dass alles seine Zeit hat und es nur eine unwiederbringliche Gelegenheit gibt, die »Gunst der Stunde« zu nutzen und diese »Gelegenheit beim Schopfe zu packen«.

Im Anschluss an D. Hattrup kann in diesem Zusammenhang eine doppelte Bewegung der Zeit unterschieden werden42, die sich aus dem perichoretischen Wechselspiel von Chronos und Kairos ergibt. Während der Chronos Abfolgen gebiert und damit die Bewegung der Zeit ist, erhält diese Bewegung erst durch den Kairos konkrete Zeitgestalt. Als unverfügbare Neuheit des sich konkret Ereignenden ist es der Kairos, der die Zeit bewegt.

So begegnet Zeit kairologisch in der nicht messbaren Qualität einer unableitbaren Eigenzeit. Der Kairos fordert von seinem Adressaten eine unbedingte Antwort als Bedingung seiner Manifestation, andernfalls verweigert er diesem seine Gunst und entschwindet ebenso unbemerkt wie er gekommen war. Dies macht den Umgang mit ihm zu einer beständigen Herausforderung, die durch ein einseitig chronologisch akzentuiertes Zeitverständnis erschwert wird. Der je einmalig-konkrete Vorübergang eines Kairos passt sich nie oder nur selten chronologischer Zeitplanung an. Eher bringt eine solche das paritätische Verhältnis beider Zeitdimensionen aus dem Gleichgewicht, indem sie durch vorausschauende Planung den Chronos für den unplanbaren Kairos verschließt. Der vor der kairologischen Seite der Zeit zurückscheuende Mensch mag als Terminverwalter einiges an Planungssicherheit gewinnen. Er bringt sich damit jedoch um seine Freiheit, die ihm der Kairos unverfügbar und je neu gewährt. Dabei wird gerade im Kairos das Wechselspiel von Freiheit und Verantwortung ausgetragen. Im kairologischen Ergehen von Zeit wird der Mensch jeweils zum angemessen-maßvollen Reagieren in einer konkreten Situation herausgefordert. Zu dieser Freiheit gehört auch, dass nicht jeder Kairos angenommen, das heißt jede Gelegenheit ergriffen werden muss, denn auch ihn zurückzuweisen ist ein freiheitlicher Akt verantwortet-kairologischen Zeitumgangs. Vor diesem Hintergrund verleiht der Kairos dem Dasein spezifische Gestalt, Charakter und Einmaligkeit. In der Offenheit für seine unableitbare Neuheit gewährt er individueller Lebensgestalt unwiderrufliche Bedeutsamkeit.