Achtsamkeit, Meditation & Psychotherapie

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TEIL I

Meditation

1

Das Pferd zähmen, den Geist reiten

Von einem nicht egoistischen Standpunkt aus gesehen beruht Lernen darauf, dass man sein Herz öffnet und einen natürlichen Sinn für Disziplin entdeckt. Disziplin heißt in diesem Fall, dass wir uns auf unsere ursprüngliche Makellosigkeit einstimmen. Wir müssen uns nichts aus der Außenwelt entlehnen, wir müssen niemanden nachahmen. Wir sind von Natur aus makellos und intelligent. Vielleicht haben wir schon eine Vorstellung davon oder Erfahrung darin, aber wir müssen uns trotzdem weiter öffnen.

Wenn wir uns zu öffnen beginnen, ist Lernen nichts Mühevolles mehr. Es ist eher, wie wenn jemand, der Durst hat, kühles Wasser trinkt. Es ist erfrischend und natürlich. Und je mehr wir lernen, desto mehr wissen wir es zu schätzen. Es ist etwas ganz anderes als militärischer Drill oder ein Lernen, das irgendwie auf Kampf beruht.

Unser Weg ist manchmal steinig und manchmal glatt, aber trotzdem ist das Leben eine ständige Reise. Ob wir schlafen, essen, uns anziehen, lernen, meditieren, die Schulbank drücken … was immer wir auch machen, gilt als unsere Reise, unser Weg. Dieser Weg besteht daraus, dass man sich für die Straße öffnet, sich für die Schritte öffnet, die man als Nächstes unternimmt. Die Energie, die uns erlaubt, solch eine Reise zu machen, ist auch als Disziplin bekannt. Es ist die Disziplin, sich ohne Ego zu erziehen, und sie nennt sich auch „den Geist schulen“.

Es heißt, sich selbst zu erziehen sei wie das Zähmen eines Wildpferdes, eines Pferdes, das noch nie von jemandem berührt wurde. Zuerst versucht man, ihm einen Sattel aufzulegen. Das Pferd schlägt aus, beißt, macht Bocksprünge; man versucht es immer und immer wieder. Schließlich gelingt es. Und dann schafft man es, das Halfter über den Kopf und das Gebiss ins Maul zu bekommen. Vielleicht kriegt man das Pferd nur schwer dazu, das Maul zu öffnen, aber schließlich ist das Gebiss drin.

Das ist ein großer Erfolg. Man fühlt sich gut; man hat das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Trotzdem, man muss das Pferd erst noch reiten. Und das ist ein weiterer Prozess, ein weiterer Kampf. Es ist gut möglich, dass das Pferd einen abwirft. Wenn man es schafft, die Zügel festzuhalten, kann man das Pferd vielleicht beherrschen, aber es ist immer noch eine unsichere Sache. Vielleicht bekommt man vierzig Prozent unter Kontrolle. Der Rest bleibt ein Risiko.

Unser Geist ist wie ein wildes Pferd. Er enthält Erinnerungen an die Vergangenheit, Träume von der Zukunft und die Launen des Moments. Diese Situation stellt sich als problematisch heraus, und deshalb praktizieren wir etwas, was Meditation heißt.

Das Wort Meditation hat, je nach kultureller Tradition, verschiedene Bedeutungen. Laut dem Oxford English Dictionary bedeutet Meditation, dass man über etwas meditiert.8 Zum Beispiel meditiert man, wenn man verliebt ist, über den Liebespartner. Der oder die Geliebte ist so schön, kennt außerordentliche Liebeskünste – bewegt sich so schön, küsst so schön und riecht womöglich phantastisch! Über diese Art von Gefühlen zu meditieren bedeutet einfach, dass man in etwas eintaucht, sich mit etwas beschäftigt.

Prinzipiell betrachtet, spielt ein „Meditieren über etwas“ bei der buddhistischen Meditation keine Rolle. Man mobilisiert einfach eine gewisse Geistesgegenwart und nimmt eine tadellose Haltung ein. Man hält Kopf und Schultern hoch und sitzt im Schneidersitz. Dann stellt man einen ganz simplen Bezug zu der grundlegenden Gegebenheit von Körper, Rede und Geist her und fokussiert sein Bewusstsein auf etwas, meistens auf den Atem. Man atmet ein und aus, und man erlebt dieses Atmen einfach und ganz natürlich. Der Atem wird weder als heilig noch als böse angesehen, er ist einfach Atem.

Wenn Gedanken auftauchen, schaut man sie sich einfach an und stellt fest: „Gedanke“. Nicht „guter Gedanke“ oder „böser Gedanke“. Ob man nun einen weisen Gedanken oder einen bösen Gedanken hat, man schaut ihn sich einfach an und sagt: „Gedanke“. Und dann kommt man zum Atem zurück. Indem man das macht, arbeitet man an dem Punkt, an dem man sozusagen dem Pferd den Sattel auflegt. Der eigene Geist wird geschult. Er ist nicht mehr so überdreht, nicht mehr so träge, wird zugänglicher und umgänglicher.

Diese Art der Meditation wird shamatha genannt, wörtlich übersetzt: „friedliches Verweilen“. Friede ist dabei kein euphorischer oder ekstatischer Zustand, sondern einfach eine grundlegende und erdverbundene Situation, die entsteht, wenn wir Hektik und Tohuwabohu ausschließen. Wir versuchen nicht, irgendein Ziel oder irgendeinen speziellen Seinszustand zu erreichen, weder im religiösen noch im weltlichen Sinne.

Wenn wir auf diese Weise praktizieren, so entdecken wir, dass Gedanken, die unsere Neurose aufrechterhalten, schmelzen oder verdunsten. Normalerweise schenken wir unseren Gedanken keine Beachtung. Wir kultivieren sie unbewusst, indem wir das machen, was immer sie uns befehlen. Aber wenn wir uns still hinsetzen und sie anschauen, ohne Urteil und ohne Ziel – sie einfach anschauen –, dann lösen sie sich von allein auf.

In der Shamatha-Meditation verlängert sich unsere Aufmerksamkeitsspanne auf natürliche Weise, und es entwickelt sich eine größere geistige Offenheit. Man wird stabiler und auch heiterer – frei von Tohuwabohu. Deswegen heißt sie Shamatha – friedliches Verweilen.

Das ist also das erste Stadium beim Lernen: zu lernen, wie man lernt. Das ist der erste Schritt. Zuerst nimmt man die grundlegende Idee des Ego auseinander, dieses Festhaltens an der Neurose. Darüber hinaus gibt es dann die Praxis, die als vipashyana bekannt ist – was wörtlich „Einsicht“ bedeutet. Einsicht bedeutet hier, die Dinge zu sehen, wie sie sind – ihnen keine Gier9 oder Aggression überzustülpen. Nun fangen wir an, die Meditations-Anlage zu verlassen und zu untersuchen, wie wir mit unserer Welt umgehen.

Die Welt, in der wir leben, ist fabelhaft. Sie ist ausgesprochen brauchbar. Wir sehen, wie Autos auf der Straße vorbeifahren, Häuser an ihrem Platz stehen, Bäume wachsen, Blumen blühen, Regen und Schnee fallen, Wasser fließen, der Wind uns frische Luft bringt … Umweltverschmutzung hin oder her. Die Welt, in der wir leben, ist in Ordnung, um es vorsichtig auszudrücken. Wir können uns in keinster Weise beklagen.

Wir sollten anfangen zu lernen, diese Welt zu bejahen, diesen Planeten, auf dem wir leben. Wir sollten erkennen, dass in dem, was wir sehen, keinerlei Gier, Aggression oder Ignorierenwollen existiert. Wir fangen an, indem wir achtsam werden auf unsere Schritte, während wir gehen. Dann fangen wir an zu erleben, dass es heilig ist, wenn wir uns die Haare kämmen und uns anziehen. Einkaufen, ans Telefon gehen, tippen, in der Fabrik arbeiten, zur Schule gehen, der Umgang mit unseren Eltern und Kindern, zu einer Beerdigung gehen, sich an der Rezeption der Geburtshilfe im Krankenhaus anmelden … was immer wir tun, ist heilig. Wir entwickeln diese Einstellung, indem wir die Dinge sehen, wie sie sind, indem wir auf die Energie der jeweiligen Situation achten und indem wir von unserer Welt keine besondere Unterhaltung erwarten. Es geht darum, einfach da zu sein, natürlich zu sein und immer achtsam auf alles, was sich in unserem Alltag abspielt.

Das entwickelt sich aus der Shamatha-Meditation ganz natürlich. Meditation im Sitzen ist wie Duschen. Vipashyana oder Bewusstheitspraxis ist wie das anschließende Abtrocknen und Sichanziehen.

Unsere Reise, unser Lernprozess hat also zwei Aspekte: Es gibt das Lernen durch die Meditation im Sitzen und das Lernen durch die Erfahrungen des Lebens. Und es ist überhaupt kein Problem, beides unter einen Hut zu bringen. Es ist, wie ein Paar Augen zu haben und dann eine Brille aufzusetzen. Es ist dasselbe.

2

Das grundlegend Gute entdecken

Ein Großteil des Chaos in der Welt rührt daher, dass die Menschen sich nicht leiden können. Weil sie sich selber gegenüber nie Wohlwollen oder Freundlichkeit entwickelt haben, finden sie in ihrem Seelenleben keine Harmonie und keinen Frieden, und dieses Disharmonische und Konfuse übertragen sie dann auch auf andere. Statt uns am Leben zu freuen, nehmen wir unsere Existenz oft als selbstverständlich hin oder finden sie deprimierend und mühsam. Manche drohen mit Selbstmord, weil sie das Gefühl haben, das Leben gibt ihnen nicht, was ihnen zusteht. Sie erpressen andere mit Selbstmorddrohungen und sagen, sie bringen sich um, wenn sich dies oder das nicht ändert. Sicher sollten wir unser Leben ernst nehmen, aber das bedeutet nicht, sich an den Rand des Wahnsinns zu treiben, indem man über seine Probleme klagt oder Hass auf die Welt schürt. Wir müssen persönlich Verantwortung dafür übernehmen, aus unserem Leben etwas zu machen.

Wenn man sich nicht bestraft oder verdammt, wenn man sich mehr entspannt und Körper und Geist zu schätzen beginnt, dann kommt man mit der elementaren Idee des grundlegend Guten in sich in Berührung. Es ist also enorm wichtig, dass man bereit ist, sich für sich selbst zu öffnen. Wer sich selbst gegenüber Sanftheit entwickelt, wird fähig, sowohl die eigenen Probleme als auch das eigene Potential genau wahrzunehmen. Man fühlt sich nicht gezwungen, Probleme zu ignorieren oder sein Potential aufzubauschen. Eine solche Sanftheit gegenüber sich selbst und ein solches Anerkennen seiner Selbst ist dringend notwendig. Sie liefern die Grundlage, auf der man sich und anderen helfen kann.

Wir Menschen besitzen in uns eine Grundlage, die es uns erlaubt, aus unserem Dasein etwas Wertvolles zu machen und es vorbehaltlos zu bejahen. Diese Grundlage steht uns jederzeit zur Verfügung. Wir haben einen Geist und einen Körper, an denen uns sehr viel liegt. Weil wir einen Geist und einen Körper haben, können wir diese Welt begreifen. Das Dasein ist wundervoll und kostbar. Wir wissen nicht, wie lange wir leben, also, warum machen wir nichts daraus, jetzt, wo wir leben? Bevor wir etwas daraus machen, warum freuen wir uns nicht erst einmal?

 

Aber wie entdecken wir diese Freude am Leben? Wunschdenken oder bloßes Darüber-Reden helfen uns nicht weiter. Die Disziplin, mit der man in der Shambhala-Tradition Freundlichkeit gegenüber sich selbst und Wertschätzung für die Welt entwickelt, ist die Meditation im Sitzen. Die Praxis der Meditation wurde von Buddha dem Erhabenen vor über zweieinhalbtausend Jahren gelehrt, und seitdem ist sie Bestandteil der Shambhala-Tradition. Sie beruht auf mündlicher Überlieferung: Seit der Zeit Buddhas ist diese Praxis von einem Menschen zum nächsten übermittelt worden. Dadurch ist sie lebendig geblieben, so dass sie, obwohl uralt, immer noch aktuell ist. In diesem Kapitel werden wir etwas ausführlicher über die Technik der Meditation sprechen, aber man sollte daran denken, dass man direkte, persönliche Anleitung braucht, wenn man diese Praxis voll verstehen will.

Mit Meditation meinen wir hier etwas sehr Elementares und Simples, das an keine bestimmte Kultur gebunden ist. Es geht um einen ganz elementaren Akt: Sich auf den Boden setzen, eine gute Haltung einnehmen und ein Gefühl für den eigenen Platz entwickeln, unseren Ort auf dieser Erde. Das ist das Mittel, mit dem wir uns selbst und das grundlegend Gute in uns wiederentdecken, das Mittel, mit dem wir uns auf die echte Wirklichkeit einstimmen, ohne irgendwelche Erwartungen oder vorgefasste Meinungen.

Das Wort „Meditation“ hat manchmal die Bedeutung „Nachdenken über ein Thema oder Objekt“: man „meditiert über dieses oder jenes Problem“. Indem wir über eine Frage oder ein Problem meditieren, können wir eine Lösung finden. Manchmal wird Meditation auch als Weg verstanden, eine höheren Bewusstseinszustand zu erreichen, indem man in eine Art Trance oder Versenkung eintritt. Hier geht es aber um eine völlig andere Art von Meditation: bedingungslose Meditation, bei der man kein Objekt oder Thema im Sinn hat. In der Shambhala-Tradition heißt Meditation einfach, seinen Daseinszustand so zu trainieren, dass Körper und Geist synchron laufen können. Durch die Praxis der Meditation können wir lernen, uns selbst und andere nicht zu täuschen, hundertprozentig authentisch und lebendig zu sein.

Unser Leben ist eine endlose Reise; es ist wie ein breiter Highway, der in die unendliche Ferne führt. Die Meditation liefert uns ein Fahrzeug, um auf dieser Straße zu fahren. Unsere Reise besteht aus permanenten Höhen und Tiefen, aus Hoffnungen und Ängsten, aber es ist eine gute Reise. Die Meditation ermöglicht es uns, die Beschaffenheit der Straße zu spüren, und nur darum geht es bei dieser Reise. Durch die Meditation beginnen wir zu entdecken, dass wir im Grunde niemandem und nichts Vorwürfe machen.

Die Praxis der Meditation beginnt damit, dass man sich hinsetzt. Man nimmt im Schneidersitz auf dem Boden Platz. Man bekommt ein Gefühl, dass das Leben, einfach weil man an Ort und Stelle präsent ist, akzeptabel, sogar wunderbar werden kann. Man erkennt, dass man fähig ist, wie ein König oder eine Königin auf dem Thron zu sitzen. Das Majestätische dieser Situation zeigt einem, welche Würde darin liegt, einfach nur still dazusitzen.

Eine aufrechte Haltung ist dabei enorm wichtig. Ein gerader Rücken ist nichts Künstliches, sondern für den menschlichen Körper ganz natürlich. Krumm dazusitzen ist nicht normal. Man kann nicht richtig atmen, wenn man krumm dasitzt, und es ist auch ein Zeichen dafür, dass man sich seinen Neurosen überlässt. Wenn man also aufrecht dasitzt, verkündet man vor sich und der Welt, dass man ein Krieger sein will, ein ganzer Mensch.

Um mit geradem Rücken dazusitzen, muss man nicht krampfhaft die Schultern hochziehen; die aufrechte Haltung kommt von ganz allein, indem man ganz einfach, aber mit einem gewissen Stolz auf dem Boden oder dem Meditationskissen sitzt. Weil der Rücken aufrecht ist, verspürt man nicht mehr die geringste Verlegenheit oder Beschämung, und deshalb senkt man auch nicht den Kopf. Man beugt sich vor nichts und niemandem. Aus diesem Grund wiederum werden die Schultern automatisch gerade, und man entwickelt ein starkes Gefühl für Kopf und Schultern. Dann kann man die Beine ganz natürlich im Schneidersitz ruhen lassen; die Knie müssen den Boden nicht berühren. Vollständig wird diese Körperhaltung, indem man die Hände ganz leicht, mit den Handflächen nach unten, auf die Oberschenkel legt. Das verstärkt das Gefühl, dass man seinen Platz voll und ganz einnimmt.

In dieser Haltung schaut man nicht wahllos umher. Man hat das Gefühl, dass man voll und ganz da ist; deshalb sind die Augen offen, aber der Blick ist leicht nach unten gerichtet, etwa zwei Meter vor einem auf den Boden. Dadurch wandert der Blick nicht hierhin und dorthin, sondern man verstärkt das Gefühl von Bestimmtheit und Abgeklärtheit. Man begegnet dieser königlichen Haltung bei manchen ägyptischen und südamerikanischen Skulpturen sowie bei orientalischen Statuen. Es ist eine universale Haltung, nicht auf irgendeine Kultur oder Epoche beschränkt.

Auch im Alltag sollten Sie sich Ihrer Körperhaltung bewusst sein, Kopf und Schultern spüren und wie Sie gehen und andere ansehen. Auch wenn Sie nicht meditieren, können Sie eine würdevolle Daseinshaltung wahren. Sie können Ihre Unsicherheit hinter sich lassen und stolz sein, Mensch zu sein. Solcher Stolz ist akzeptabel und gut.

Nachdem Sie also für die Meditation eine gute Haltung eingenommen haben, achten Sie auf Ihren Atem. Wenn Sie atmen, sind Sie voll und ganz da, richtig da. Sie gehen mit dem Ausatem hinaus, Ihr Atem löst sich auf, und dann kommt der Einatem von allein. Dann gehen Sie wieder hinaus. Es gibt also ein ständiges Mit-dem-Ausatem-Hinausgehen. Wenn Sie ausatmen, lösen Sie sich auf, zerfließen. Dann kommt der Einatem von allein; Sie müssen ihm nicht folgen. Sie sind einfach wieder bei Ihrer Haltung und bereit für den nächsten Ausatem. Hinausgehen, auflösen: ffffff; zurück zur Körperhaltung; und ffffff, und zurück zur Körperhaltung.

Und dann kommt unweigerlich – ping! – auch ein Gedanke. Dazu sagen Sie: „Denken“ – nicht laut, sondern innerlich: „Denken“. Wenn Sie Ihre Gedanken so etikettieren, können Sie mit Leichtigkeit zum Atem zurückzukehren. Wenn ein Gedanke Sie von dem, was Sie gerade machen, völlig wegführt – Sie merken gar nicht mehr, dass Sie auf dem Kissen sitzen, sondern schwirren in Gedanken in der Weltgeschichte umher –, dann sagen Sie „Denken“ und bringen sich wieder zum Atem zurück.

Es ist ziemlich egal, was für Gedanken Sie haben. Ob Sie bei der Sitzmeditation monströse oder noble Gedanken haben, sie werden alle schlicht als Denken betrachtet. Sie sind weder tugendhaft noch sündig. Vielleicht kommt Ihnen der Gedanke, Ihren Vater zu ermorden, oder Sie haben Lust auf Limonade und Kekse. Bitte seien Sie nicht schockiert von Ihren Gedanken: Jeder Gedanke ist einfach nur Denken. Kein Gedanke verdient eine Goldmedaille oder eine Rüge. Versehen Sie einfach Ihre Gedanken mit dem Etikett „Denken“ und gehen Sie zum Atem zurück. „Denken“, zurück zum Atem; „Denken“, zurück zum Atem.

Meditieren ist etwas sehr Präzises. Es muss punktgenau sein. Es ist ziemlich harte Arbeit, aber wenn Sie Ihre Haltung nicht vergessen, dann hilft Ihnen das, Körper und Geist zu synchronisieren. Wenn Ihre Haltung nicht gut ist, ist Ihr Meditieren wie ein lahmes Pferd, das einen Wagen zu ziehen versucht. Das klappt nicht. Zuerst setzen Sie sich also hin und nehmen Ihre Haltung ein, dann arbeiten Sie mit dem Atem; ffffff, hinausgehen, zurückkommen zur Haltung; ffffff, zurückkommen zur Haltung; ffffff. Wenn Gedanken auftauchen, etikettieren Sie sie als „Denken“ und kommen zu Ihrer Haltung zurück, zu Ihrem Atem. Der Geist arbeitet mit dem Atem, aber Sie behalten immer den Körper als Bezugspunkt. Sie arbeiten mit Ihrem Geist und Ihrem Körper, und wenn diese beiden zusammenarbeiten, verlassen Sie nie die Realität.

Der ideale Zustand stiller Gelassenheit entsteht aus dem Erlebnis, dass Körper und Geist synchronisiert sind. Wenn Körper und Geist nicht synchron sind, dann sackt der Körper zusammen – und der Geist ist irgendwo anders. Das ist wie eine schlechte Trommel: Das Fell passt nicht recht zum Rahmen, und dann reißt entweder das Fell oder der Rahmen bricht, und es gibt keine konstante Spannung. Wenn Geist und Körper synchronisiert sind, dann kommt aufgrund der guten Körperhaltung der Atem ganz von selbst; und weil Atem und Körperhaltung zusammenarbeiten, hat der Geist einen Bezugspunkt, an dem er sich orientieren kann. Deshalb wird der Geist auf natürliche Weise mit dem Atem hinausgehen.

Diese Methode des Synchronisierens von Geist und Körper schult Sie darin, sehr einfach zu sein und zu fühlen, dass Sie nichts Besonderes sind, sondern gewöhnlich, außergewöhnlich. Sie sitzen einfach da, als Krieger, und daraus erwächst ein Gefühl individueller Würde. Sie sitzen auf der Erde und erkennen, dass diese Erde Sie verdient und dass Sie diese Erde verdienen. Sie sind da – voll und ganz, persönlich, authentisch. Die Meditationspraxis in der Shambhala-Tradition zielt also darauf ab, uns zu ehrlichen, authentischen Menschen heranzubilden, die sich selber treu sind.

Wir sollten uns eigentlich einer gewissen Bürde bewusst sein: Wir tragen die Bürde, dieser Welt zu helfen. Wir können diese Verantwortung den anderen gegenüber nicht vergessen. Aber wenn wir unsere Bürde mit Freude tragen, können wir diese Welt tatsächlich befreien. Dazu muss man bei sich selber anfangen. Indem wir offen und ehrlich zu uns selbst sind, können wir auch lernen, zu anderen offen zu sein. Also können wir mit dem Rest der Welt arbeiten, auf der Basis des Guten, das wir in uns entdecken. Deshalb gilt Meditation auch als ein guter, ja hervorragender Weg, den Krieg in der Welt zu überwinden: unseren persönlichen Krieg wie auch den größeren Krieg.

3

Die vier Grundlagen der Achtsamkeit

Die Methode, mit der man beginnen kann, direkt mit dem Geist zu arbeiten, die von Buddha dem Erhabenen gelehrt wurde und die seit zweieinhalbtausend Jahren angewandt wird, ist die Praxis der Achtsamkeit10. Diese Praxis hat vier Aspekte, die traditionell die Vier Grundlagen der Achtsamkeit genannt werden.

Achtsamkeit auf den Körper

Achtsamkeit auf den Körper, die erste Grundlage der Achtsamkeit, hat mit der Notwendigkeit eines Daseinsgefühls zu tun, einer gewissen Bodenständigkeit.

Zunächst einmal gibt es ein Problem hinsichtlich dessen, was wir unter Körper verstehen. Wir sitzen auf Stühlen oder auf dem Boden, wir essen, wir schlafen, wir tragen Kleider. Aber mit was für einem Körper wir bei diesen Tätigkeiten umgehen, das ist die Frage. Die Tradition behauptet, dass der Körper, den wir zu haben meinen, ein sogenannter psychosomatischer Körper ist. Er beruht weitgehend auf Körper-Projektionen und -Vorstellungen. Dieser psychosomatische Körper steht im Kontrast zum Körpergefühl eines erleuchteten Menschen, das man vielleicht „Körper-Körper“ nennen könnte. Dieses Körpergefühl ist frei von begrifflichen Vorstellungen. Es ist einfach nur simpel und direkt. Es herrscht eine direkte Beziehung zur Erde. Was uns angeht, so haben wir eigentlich keine Beziehung zur Erde. Wir haben eine gewisse Beziehung zum Körper, aber sie ist sehr unstet und launisch. Wir schwanken ständig zwischen dem Körper und irgendetwas anderem hin und her – Phantasien, Ideen. Das scheint im Grunde genommen unsere Situation zu sein.

Auch wenn der psychosomatische Körper aus Körper-Vorstellungen aufgebaut ist, können diese Projektionen trotzdem sehr zäh sein. Wir haben Erwartungen hinsichtlich der Existenz dieses Körpers, deshalb müssen wir ihn auftanken, unterhalten, waschen. Durch diesen psychosomatischen Körper können wir ein Gefühl des Daseins erleben. Beispielsweise hören Sie jetzt diesem Vortrag zu und haben das Gefühl, auf dem Boden zu sitzen. Ihre Hinterbacken ruhen auf der Erde, dadurch können Sie die Beine ausstrecken und sich ein bisschen zurücklehnen und entspannen. All das verändert Ihr Daseinsgefühl. Sie spüren eine gewisse Entspannung, anders, als wenn Sie stehen würden – auf den Füßen, auf Zehenspitzen oder womöglich auf den Händen. Die Körperhaltung, die Sie jetzt einnehmen, scheint angenehm zu sein; ja, eigentlich ist sie eine der passendsten, die man sich denken kann. In dieser Haltung können Sie sich also entspannen und zuhören – Sie können auf etwas anderes hören als die Forderungen Ihres Körpers.

Wie Sie jetzt da sitzen, spüren Sie eine gewisse Gelassenheit. Andererseits, wenn der Boden feucht wäre, wären Sie nicht so gelassen. Dann würden Sie auf dem Boden kauern wie ein Vogel auf einem Ast. Das wäre eine völlig andere Sache. Wenn ein bevorstehendes Ereignis Sie sehr beschäftigt oder ein Treffen, das Sie gleich haben werden, Ihnen Sorgen macht – wenn Sie zum Beispiel ein Vorstellungsgespräch haben –, dann sitzen Sie eigentlich nicht mehr auf dem Stuhl, Sie kauern. Dieses Kauern kommt dann, wenn Sie irgendwie unter Druck stehen und von Ihrem Körper wenig spüren, aber dafür umso mehr Ihre Anspannung und Nervosität. Da spielt ein ganz anderes Körper- und Daseinsgefühl eine Rolle, als wenn Sie einfach nur dasitzen, so wie jetzt.

 

Jetzt gerade sitzen Sie auf dem Boden, und Sie sitzen so sehr auf dem Boden, dass Sie anfangen können, die Ebene zu wechseln und den Kassettenrecorder einzuschalten oder sich sogar Notizen zu machen, und Sie haben nicht das Gefühl, zwei Dinge auf einmal zu tun. Sie sitzen da, haben sich sozusagen völlig fallen lassen und können sich deshalb anderen Wahrnehmungen zuwenden – schauen, zuhören und so weiter.

Aber dieses Hier-Sitzen ist eigentlich gar keine Angelegenheit des Körpers an sich. Es geht eigentlich vielmehr darum, dass Ihr psychosomatischer Körper auf dem Boden sitzt. Wie Sie auf dem Boden sitzen – alle schauen in eine Richtung, auf den Sprecher, sind unter diesem Zeltdach, fühlen sich angezogen von dem Licht, das auf die Bühne gerichtet ist –: all das vermittelt eine bestimmte Vorstellung, es erzeugt einen gewissen Stil des Miteinanders, und das ist die Situation des psychosomatischen Körpers. Natürlich sind Sie irgendwie beteiligt am Sitzen an sich, aber gleichzeitig auch wieder nicht. Der Geist tut es, Begriffe tun es. Ihr Geist formt die Situation in Entsprechung zum Körper. Ihr Geist sitzt auf dem Boden. Ihr Geist macht Notizen. Ihr Geist trägt eine Brille. Ihr Geist hat die und die Frisur, Ihr Geist trägt die und die Kleider. Jeder schafft eine Welt in Entsprechung zur Situation des Körpers, aber weitgehend ohne Kontakt zu ihm. Das ist der psychosomatische Prozess.

Die Achtsamkeit auf den Körper bringt dieses allgegenwärtige „Geist imitiert Körper“-Geschehen in die Meditationspraxis ein. Die Meditation muss der Tatsache Rechnung tragen, dass der Geist ständig die Form körper ähnlicher Haltungen annimmt. Seit der Zeit Buddhas wird deswegen die Meditation im Sitzen empfohlen und praktiziert, und sie hat sich als die beste Methode für die Auseinandersetzung mit dieser Situation erwiesen. Die grundlegende Technik ist dabei die Arbeit mit dem Atem. Man identifiziert sich mit dem Atem, vor allem dem Ausatem. Der Einatem ist einfach eine Lücke, ein Zwischenraum. Während des Einatmens wartet man einfach. Sie atmen also aus, dann lösen Sie sich auf und dann kommt eine Lücke. Ausatmen … auflösen … Lücke. Dadurch kann eine ständige Öffnung und Ausweitung stattfinden.

Achtsamkeit spielt eine sehr wichtige Rolle bei dieser Technik. Achtsamkeit bedeutet in diesem Fall, dass man tatsächlich sitzt, wenn man dasitzt und meditiert. Was den psychosomatischen Körper betrifft, so sitzt man tatsächlich da. Man spürt den Boden, den Körper, den Atem, die Temperatur. Man versucht nicht extra zu beobachten und zu verfolgen, was passiert. Man versucht nicht, die Situation des Sitzens irgendwie zu zelebrieren und daraus einen besonderen Akt zu machen, den man vollzieht. Man sitzt einfach nur. Und dann beginnt man eine gewisse Bodenhaftung zu verspüren. Das entsteht nicht unbedingt aus einer Absicht heraus, sondern aus der Kraft der schlichten Tatsache, dass man da ist. Also sitzen Sie. Und Sie sitzen. Und Sie atmen. Und Sie sitzen und atmen. Manchmal denken Sie, aber Sie denken sitzende Gedanken. Der psychosomatische Körper sitzt, also haben Ihre Gedanken einen platten Po.

Achtsamkeit auf den Körper hat mit der Erde zu tun. Es ist eine Offenheit, die auf einem Fundament ruht. Durch Achtsamkeit auf den Körper entsteht eine Qualität expansiver Bewusstheit – ein Gefühl der Gelassenheit, das einem erlaubt, sich für die Außenwelt zu öffnen.

Es braucht eine gehörige Portion Vertrauen, sich auf diese Achtsamkeit einzulassen. Am Anfang ist man in der Meditation wahrscheinlich nicht in der Lage, einfach ruhig da zu sein, sondern wird einen Drang nach Veränderung spüren. Ich kann mich noch erinnern, wie eine Frau, die gerade ein Retreat beendet hatte, mir erzählte, wie sie gesessen sei und ihren Körper gespürt und sich geerdet gefühlt habe. Aber dann kam ihr sofort der Gedanke, dass sie etwas anderes machen sollte. Und sie erzählte mir weiter, wie das richtige Buch ihr geradewegs „in den Schoß gefallen“ sei und sie zu lesen angefangen habe. Wenn es so weit ist, hat man keine solide Basis mehr. Es wachsen einem kleine Flügel im Kopf. Achtsamkeit auf den Körper hat damit zu tun, dass man ein Mensch bleibt, statt zu einem Tier oder einer Fliege oder einem ätherischen Wesen zu werden. Es hat damit zu tun, dass man einfach ein menschliches Wesen zu bleiben versucht, ein ganz normales menschliches Wesen.

Der grundlegende Ausgangspunkt dafür ist Festigkeit, Schwere, Bodenständigkeit. Wenn Sie sitzen, sitzen Sie tatsächlich. Sogar Ihre herumschwebenden Gedanken beginnen sich auf den Hintern zu setzen. Es gibt keine besonderen Probleme. Sie haben ein Gefühl der Festigkeit und Bodenständigkeit und gleichzeitig das Gefühl, lebendig zu sein.

Ohne diese erste Grundlage der Achtsamkeit könnte der Rest Ihrer Meditationsübung ein ziemliches Wischiwaschi werden – von einem zum anderen hüpfend, mal dieses, mal jenes ausprobierend. Es könnte sein, dass Sie nur noch auf Zehenspitzen über das Universum hinwegtänzeln, ohne irgendwo mehr Fuß zu fassen. Sie könnten zu einem ewigen Tramper werden. Mit dieser ersten Technik entwickeln Sie also eine gewisse grundlegende Schwere. Bei der Achtsamkeit auf den Körper hat man das Gefühl, heimischen Boden zu finden.

Achtsamkeit auf das Leben

Die Anwendung der Achtsamkeit muss präzise sein. Wenn wir uns an unserer Praxis festklammern, erzeugen wir Stagnation. In der Anwendung der Achtsamkeits-Techniken müssen wir deshalb unsere Grundtendenz im Auge behalten, uns festzuklammern, überleben zu wollen. Dazu kommen wir mit der zweiten Grundlage der Achtsamkeit, der Achtsamkeit auf das (Über-)Leben. Da wir uns hier im Kontext der Meditation bewegen, begegnen wir dieser Tendenz in der Form der Fixierung auf den meditativen Zustand. Wir erleben den meditativen Zustand, und er wird ab und zu greifbar, aber im gleichen Moment löst er sich auch schon auf. Wenn wir uns auf diesen Prozess einlassen wollen, müssen wir also neben dem Gefühl, Bewusstheit deutlich zu spüren, auch ein Gefühl dafür entwickeln, wie man diese Bewusstheit wieder loslässt. Man könnte diese grundlegende Technik der zweiten Grundlage der Achtsamkeit „touch and go“ nennen, „berühren und loslassen“: Sie sind da – präsent, achtsam – und dann lassen Sie los.

Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass der meditative Geisteszustand irgendwie eingefangen und dann gehegt und gepflegt werden müsse. Das ist definitiv die falsche Strategie. Wenn man versucht, seinen Geist durch Meditation zu domestizieren – ihn durch ein Festhalten am meditativen Zustand in Besitz zu bringen –, wird das Resultat ganz klar ein Rückschritt auf dem Entwicklungsweg sein, ein Verlust an Frische und Spontaneität. Wenn man alles ständig im Griff behalten will, ohne einmal locker zu lassen, dann wird das Aufrechterhalten der Achtsamkeit zu einer Plackerei, wie lustlos erledigte Hausarbeit. Im Hintergrund wird ein gewisser Widerwille schwelen, und die Praxis der Meditation wird einen verwirren. Man entwickelt eine Hassliebe zu ihr, weil man einerseits die Idee gut findet, aber andererseits die Anforderungen, die dieses rigide Konzept an einen stellt, zu unangenehm sind.

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