Der Mächtige Strom

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Der Mächtige Strom
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Inhalt

Impressum

Prolog

Kapitel I

Heimat nur in Liedern 9

Vorspann 9

1 - Der Anfang 12

2 - Familie Chi aus Tieling 14

3 - Schluchzer aus dem Weidegras 18

4 - Abschied von der Heimat 22

5 - Der unüberwindbare Liao-Strom 25

6 - Der Mukden-Zwischenfall 40

7 - Köpfe über dem Stadttor 44

8 - Löschkalk und Tod 48

9 - Mutter und ihre Landsleute 52

10 - Eine ganze Nation auf der Flucht 55

11 - Zhang Dafei: Kind einer zerbrochenen Familie 58

Kapitel II

Der Widerstandskrieg – Acht Jahre Blut und Tränen 67

1 - Dichte Wolken des Krieges überschatten China 67

2 - Der Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke 70

3 - Flucht von Nanking nach Hankou 73

4 - Das Land zerstört, die Familien verblutet 77

5 - Das Massaker von Nanking 80

6 - Flucht von Hankou nach Xiangxiang 82

7 - „Am Sunghua-Fluss war ich einst zu Haus“ 84

8 - Zwischenspiel an der Zhounan-Mädchenschule 86

9 - Flucht von Xiangxiang nach Guilin 90

10 - Von Guilin nach Huaiyuan 93

11 - Auf Serpentinen nach Sichuan 96

Kapitel III

Weil es mich gibt, wird China nicht untergehen! 100

1 - Die Nankai-Oberschule 100

2 - Erinnerungen an unsere fürsorglichen Lehrer 106

3 - Ein Schlafsaal mit 18 Betten 112

4 - General Li Mis Schlachtross 116

5 - „Jeden Tag eine gute Tat“ 122

6 - Literaturgenuss im Bombenhagel 125

7 - Die Zeitschrift „Zeit und Strömung“ 129

8 - Ein Luftschutzbunker als Lesesaal 138

9 - Ein Chor aus tausend Stimmen 142

10 - Lebe Wohl, Alma Mater 145

11 - Aufnahmeprüfung für die Universitäten 150

12 - Briefe aus den Wolken 153

Kapitel IV

Die Drei-Flüsse-Stadt und meine Studentenzeit 160

1 - Flussaufwärts 160

2 - Studentinnenheim Weiße-Pagode-Straße 163

3 - Meine Erfahrung mit dem Fach Philosophie 166

4 - Hellblaue Luftpostbriefe 169

5 - Im konfuzianischen Bildungspalast - Meine erste Begegnung mit Professor Zhu Guangqian 174

6 - Als ein Express-Paket unterwegs 177

7 - Englische Lyrik bei Professor Zhu Guangqian 181

8 - Die Nacht in Meishan 184

9 - Erste Begegnung mit Keats 187

10 - Unser letztes Rückzugsgebiet 191

11 - Die progressive Leserunde 194

12 - Am Zusammenfluss der drei Ströme 200

13 - Zhang Dafei ist gefallen 205

14 - Der Krieg ist zu Ende 211

Kapitel V

Ein Sieg, der eine Niederlage birgt 215

1 - Überraschende Politische Lage 215

2 - Wiedersehen mit berühmten Lehrmeistern 218

3 - Das falsche Lied zur falschen Zeit 223

4 - Die Studentenunruhen 227

5 - Bergstadt Leshan, meine letzte Erinnerung 232

6 - Ein Konzert der Natur 239

7 - Abschied vom Paradies 246

8 - Shanghai: Mein neues Spiegelbild 250

9 - Eintauchen in das „Buch der Offenbarungen“ 254

10 - Beiping, unser vorläufiges Zuhause 257

11 - Campus Luojia-Berg nach dem Krieg 263

12 - „Klassiker“ gegen „Progressive Literatur“ 267

13 - Blutiger „Zwischenfall vom 1. Juni“ 1947 270

14 - Studium abgeschlossen – Zukunft nebulös 276

15 - Ab übers Meer! 286

Kapitel VI

Taiwan im Sturm der Zeit 289

1 - Mein erster Eindruck von Taipei 289

2 - Die neue Welt und alte freundschaftliche Bande 293

3 - Der Do-it-yourself-Tierwirt Herr Ge Fujiang 300

4 - Meine Hochzeit – eine Fügung des Schicksals 303

5 - 1948, Aufnahme des Flüchtlingsstroms 310

6 - Der jugendliche Elan der Heimatvertriebenen 314

7 - Als die Loks noch von Dampfschwaden umhüllt waren 318

 

8 - Mein Vater, der ewig Heimatlose 322

9 - Schweiß und Tränen: Das Taiwan-Wunder 333

10 - Die Eisenbahner – Zusammenhalt durch dick und dünn 341

11 - Der nicht mehr wahrnehmbare Wellengang 344

Kapitel VII

Die geistigen Erben 347

1 - Die Erste Oberschule in Taizhong 347

2 - Der Beginn des Kulturaustausches 357

3 - „Ich habe einen Traum“ 361

4 - Das Nationale Palastmuseum 364

5 - Erweiterung meines Arbeitsbereiches 368

6 - Frauenhochschule Saint Mary-of-the-Woods 372

7 - Bloomington, eine blühende Stadt 377

8 - Ein Traum wird wahr 382

Kapitel VIII

Neue Realität – die Jahre ab 1970 390

1 - Erste ins Englische übersetzte Anthologie - „Anthologie der Modernen Literatur Chinas“ 391

2 - Moderne Literatur in den Schulbüchern – ein Reformversuch 398

3 - Vor der mit Ahornblättern bedeckten Treppe – Erinnerung an den Gelehrten Qian Mu (1895–1990) 406

4 - Die Offenbarung der Blasenesche 413

5 - Abteilung für Fremdsprachen – Vergangenheit und Heute 420

6 - Englische Literatur – Vision und Nostalgie 423

7 - Religion, Wissenschaft und Poesie – die Viktorianische Ära 427

8 - Die revolutionäre Freundschaft – ein unlösbares Band 431

Kapitel IX

Taiwans literarische Welt und „Wir“ 438

1 - Suche nach dem Stellenwert 438

2 - Aufstieg auf die Weltbühne 444

3 - Erste Zusammenkunft der Autoren zweier Landsteile 447

4 - Literatur der „Zwei Ufer und drei Orte“ 451

5 - Das „leidende Häschen“ als Kulturbegriff in Berlin 454

6 - Eine Brücke für das „leidende Häschen“ schlagen – Der Chinesische PEN Taipei 462

7 - Das literarische „Wir“ 467

8 - Ernennung zur Chefredakteurin PEN 472

9 - Ein unverhofftes Übersetzungsprojekt - „Moderne Chinesische Literatur aus Taiwan“ 478

10 - Ein Zuhause für Taiwans Literatur 481

Kapitel X

Zeugnis meines Lebens - Vom „Mächtigen Strom“ bis zur „Bucht des Schweigens“ 485

1 - Mutter ruht in Frieden 485

2 - Unheil aus heiterem Himmel 488

3 - Vater im Meer des Schweigens 491

4 - Interviews mit Herrn Chi Shiying 497

5 - Ein Treffen zum Abschied 502

6 - Eisen, Fels und Pfingstrose – Symbole meiner Heimat 505

7 - Die längst verwehte Frühlingsbrise von 1943 512

8 - Heldendenkmal 524

9 - Ein Hafen für die Seele 533

Anhang

Lebensstationen von Chi Pang-Yuan 537

Nachwort von David Der-Wei Wang

So traurig, so vergnüglich, so einzigartig 538

Die Mandschurei und Taiwan 540

Vier unverfälschte Persönlichkeiten 544

Selbstverwirklichung vs. konfuzianische Weltanschauung 546

Tränen, die die Geschichte von ewiger Dauer wachsen ließen 547

Danksagung

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-903861-10-7

ISBN e-book: 978-3-903861-11-4

Lektorat: Bianca Brenner

Umschlagfoto: Night Cloud Conceal Over Mountain Top von Liu Kuo-Sung, 2017

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Chi Pang-Yuan

www.novumverlag.com

Prolog

Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter unermesslicher Tragik. Das leidvolle Schicksal der Juden in Europa wurde nach dem zweiten Weltkrieg in zahlreichen literarischen Werken beschrieben und in beinahe ebenso vielen Verfilmungen nacherzählt. Weniger geläufig in der öffentlichen Wahrnehmung ist das asiatische Pendant des nationalsozialsozialistischen Vernichtungskrieges. Das japanische Kaiserreich hatte in nie dagewesenem Ausmaß millionenfachen Tod und abermillionenfache Vertreibung, vor allem über das chinesische Volk, aber auch über zahlreiche andere asiatische Völker gebracht. Jedoch überlagert von den Atombombenabwürfen auf Nagasaki und Hiroshima, deren Klagelied Japan zu singen nicht müde wurde, geriet der Massenmord an der chinesischen Zivilbevölkerung nie wirklich in den Fokus des Weltinteresses und der Anteilnahme.

In der Geschichte zweier Generationen meiner mandschurischen Familie werden die Geschehnisse dieser noch nicht sehr weit zurückliegenden Zeit wieder lebendig. Auf dem langen Weg vom „Juliu He“1, dem mächtigen Strom, bis nach „Yakou Hai“2, der Bucht des Schweigens, möchte ich einen zeitgenössischen, persönlichen wie allgemeinen Einblick in die asiatische Welt des Zweiten Weltkrieges und der Zeit des darauf folgenden Wiederaufbaus gewähren.

Juliu He als Ausgangspunkt der nachfolgenden Ereignisse war die Bezeichnung des „Liao-Flusses“ zu Zeiten der Qingdynastie (1644–1911). Er ist einer der sieben wichtigsten Wasserstraßen Chinas und gilt als Mutterfluss der Bevölkerung Liaonings im Nordosten Chinas. Am Ende unseres Weges steht Yakou Hai, eine kleine Bucht in der Nähe des Cape Eluanbi, an der Südspitze Taiwans, die vor allen Dingen aufgrund des dort 1883 erbauten, mittlerweile denkmalgeschützten Leuchtturms bekannt ist, der auch Weltruhm genießt. Im Volksmund heißt es, dass die Brandung, so stürmisch sie auch sein möge, verstumme, wenn sie diese Bucht erreicht.

Über 60 Jahre lang schwelte in mir das Bedürfnis, von meiner Heimat und den vielen selbstlosen, auf ihre Weise kämpfenden Menschen zu erzählen. Die fürchterlichen Wunden, die durch die unsägliche japanische Invasion, gefolgt von einem nicht minder grausamen Bürgerkrieg, in unsere Seelen geschlagen wurden, sind bis heute nicht verheilt. Und während der allgegenwärtige Tod und die bitteren Tränen der Flüchtlinge mit der Zeit verblassten, blieb uns Überlebenden die Gnade des Vergessens verwehrt. Oft stellte ich mir die Frage, wie wir Menschen trotz solcher Erfahrungen weiterleben können. Die Antwort ist so simpel, wie sie psychologisch fatal ist: Wir verdrängen!

Und so stürzte ich mich nach der Kapitulation Japans darauf, mein Studium in Wuhan abzuschließen, während in meiner mandschurischen Heimat der Kampf um die politische Vorherrschaft in China unter Einmischung und Sabotage Russlands zwischen den Kommunisten und den Nationalisten von Neuem entflammte. Kurz nach meinem Studienabschluss im Jahr 1947, es schien, als sollten die Nationalisten in der Auseinandersetzung mit den Kommunisten die Oberhand behalten, erhielt ich dann eine provisorische „Ernennungsurkunde“ der Taiwan-Universität in Taipei, in der mir die Stelle einer Assistentin am Institut für Fremdsprachen angeboten wurde. Diese „Urkunde“ kam unerwartet und bestand zu meiner Verwunderung aus einer, unter damaligen Umständen durchaus üblichen, auf Reispapier handgeschriebenen Pinselschrift, wobei mir die darin in Aussicht gestellte Anstellung mit Weiterbildungsmöglichkeiten durchaus gefiel, auch wenn dies bedeutete, auf eine exotische Insel im Pazifik übersiedeln zu müssen.

Nur zwei Jahre später folgte, was wir lange für undenkbar gehalten hatten, die endgültige militärische Niederlage Chiang Kai-Sheks und der von ihm geführten Nationalisten. China stand vor der größtmöglichen politischen und gesellschaftlichen Umwälzung. Während Mao Zedong (1893–1976) am 1. Oktober 1949 die kommunistische Volksrepublik China ausrief, kam mein Vater Ende November des gleichen Jahres mit der letzten Maschine aus der Kriegshauptstadt Chongqing nach Taiwan. Sein Zustand erschreckte mich zutiefst. Dieser Mann, der das Schicksal Chinas immer engstens mit dem Seinen verbunden gesehen hatte, der stets für sein Land und dessen Bevölkerung eingetreten war und für seine Überzeugungen gekämpft hatte, dieser Mann, der in den Augen all seiner Angehörigen, Freunde, Wegbegleiter und Schüler ein Fels in der Brandung war, saß nun stundenlang schweigend in unserer kleinen Dienstwohnung. Matt und niedergeschlagen saß er regungslos da, ohne ein Wort von sich zu geben. Die stürmische See des Krieges hatte den Fels zermürbt, die Brandung ihn zerschlagen und die Strömung ihn schließlich endgültig fortgerissen. Er war gerade einmal 51 Jahre alt gewesen, als der mächtige Strom seines Heimatlandes ihn wie Treibgut in die fremde Bucht des Schweigens von Taiwan hineingespült hatte.

In den darauffolgenden 60 Jahren konzentrierte ich mich auf meine Lehr- und Schriftstellertätigkeit, ständig darum bemüht, meine und die Horizonte meiner Schüler und Studenten zu erweitern. Und obwohl ich eine Vielzahl von Kommentaren verfasste, um andere Schriftsteller zu ermutigen, wagte ich selbst jedoch nicht den Blick zurück – kein einziges Wort schrieb ich über die nicht aus der Erinnerung löschbare Vergangenheit, die in mir und um mich herum lebte, und die mir mehr bedeutete als mein bescheidenes Leben. Vielleicht war es die unterbewusste Befürchtung, die mich hemmte: Ich kann und will die Geschichte nicht zerstückeln und wie einzelne Wäschestücke an den vertrocknenden Ästen eines absterbenden Baumes aufhängen. Das würde dieser Vergangenheit nicht gerecht werden. Ich will die Erinnerung an Menschen wachhalten, die sich voller Trauer und Verbitterung über ihre von Invasoren zerstörte Heimat, ohnmächtig im Angesicht der allgegenwärtigen Verwüstung, die keine Familie verschont hatte, auf den langen und gefährlichen Fluchtweg in den Südwesten des Landes bis in die Stadt Chongqing machten. Jene, die sich allen Leiden zum Trotz nie aufgegeben und eisern an ihrer Selbstachtung festgehalten hatten. Diese ihre Geschichte muss von ganzem Herzen fühlend und mit Ehrfurcht erzählt werden.

 

Ich muss von den guten, unkomplizierten Menschen erzählen, die nach Taiwan gekommen waren und sich mit Leib und Seele dem Aufbau und der Gestaltung einer modernen, alten Kulturnation verschrieben hatten. Von all den Menschen muss ich erzählen, die mich begleitet haben in den Jahren meiner Jugend, als Erwachsene und im Alter. Und plötzlich überkam mich die Angst, ich hätte zu lange gewartet, gezaudert, und wäre dem Blick zurück ausgewichen, so dass es womöglich schon zu spät war. Nun, wie aus einem langen Schlaf wachgerüttelt, wurde mir schlagartig klar, dass ich so nicht aus der Welt scheiden konnte. All diese Geschichten mussten zuvor erzählt werden, und zwar von mir.

Meine Eltern sind tot, mein Bruder und meine jüngste Schwester leben im fernen Ausland. So sind nach all den Jahren nur noch meine jüngere Schwester Ningyuan und ich auf Taiwan geblieben. Unsere Beziehung wurde dadurch umso inniger und liebevoller, auch weil sie die Einzige war, die verstand, weshalb ich keine Ruhe würde finden können, wenn ich die Vergangenheit nicht niederschriebe. Ich musste mit dem Buch beginnen und ich musste es vollenden.

Es ist Frühling im Jahr 2009 und die von mir handgeschriebenen Papierhäufchen aus den vergangenen vier Jahren sind zu einem Berg herangewachsen. Ja, es ist beinahe vollbracht. Ningyuan ist mit mir zum Gipfel des Datun Shans3 gefahren. Sie möchte mit mir die bevorstehende Veröffentlichung meines Buches feiern. Hierzu hat sie uns einen besonderen Ort ausgesucht. Genau hier vor mir, eingerahmt von den fruchtbaren grünen Bergen, die Taipei kesselförmig umschließen, schauen wir über die Bucht, in der der Tamsui4 in die Straße von Formosa mündet, in die herrliche Weite des offenen Meeres. So frei muss das Leben sein!

Hier oben denke ich intensiv an meinen Mann, Yuchang, der schon zu Beginn meiner Arbeit an diesem Buch schwer erkrankte. Ich frage mich nun, ob er meine Sicht auf diese zumeist gemeinsamen und wechselvollen Jahre geteilt und ob dieser Blick zurück ihm den gleichen Frieden des Geistes und des Herzens geschenkt hätte wie mir. Mein einzig verbliebener Wunsch ist es, dass unsere drei Söhne meine Freude über die Vollendung dieses Buches wahrhaftig teilen mögen. Mein Leben ist erfüllt.

Juni 2009

1 „Juliu He“ wurde wörtlich übersetzt: Der Mächtige Strom. Das ist auch der chinesische Originaltitel des vorliegenden Romans.

2 „Yakou Hai“ aus dem Chinesischen wörtlich übersetzt: Bucht des Schweigens.

3 „Datun Shan“ ist der namensgebende Vulkan der Datun-Vulkane, einer Vulkanlandschaft ca. 15 km nördlich von Taipei, deren höchster Berg, Berg der Siebensterne, sich ca. 1.100 Meter über den Meeresspiegel erhebt.

4 Tamsui (Danshui) ist der gleichnamige Bezirk und Hafenstadtteil, wo der Danshui-Fluss in die Taiwan-Straße mündet, ca. 40 km nördlich von der Stadt Neu-Taipei.

Kapitel I

Heimat nur in Liedern

Vorspann

Im letzten Jahr des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden zwei Personen, die später meine Eltern werden sollten, in Dörfern geboren, die etwa zehn Kilometer voneinander entfernt in der Flussebene des Liao in der Mandschurei lagen. Das Gebiet, in das sie hineingeboren wurden, ist ein riesengroßes fruchtbares Weideland. Eigentlich sollte es die ideale Heimat der Hirten mit ihren Rindern und Schafen sein. Aber in der Geschichte Chinas sind seit 2000 Jahren unzählige Kriege auf diesem endlosen Weideland ausgetragen worden, und so kam es, dass während der Blütezeiten der Han- und Tangdynastien auch eine Vielzahl an Kriegshelden aus dem Volke der Han entstammte. Die Mongolen und die Mandschus wiederum eroberten von hier aus ganz China und gründeten die Yuan- und Qingdynastien, die mehr als 400 Jahre über das Land herrschten. Die Familie der Chi stammte aus dem Han-Volk und hatte ihren Ursprung in Taiyuan, in der Provinz Shanxi. Nachdem sie in die Mandschurei ausgewandert war, ließ sie sich im Kreis Tieling, was so viel wie Eisenberg bedeutet, in der Provinz Liaoning nieder. Unser Gutshof Fanjiatun lag in der Nähe von Hetu’ Ala. Der Überlieferung nach dort, wo „der Drache der Qing-Herrscher aufgestiegen“5 war. Die Provinzhauptstadt Shenyang (Mukden) lag nur eine Stunde Bahnfahrt von uns entfernt.

In meiner Kindheit hörte ich bei meiner Großmutter immer von älteren Verwandten, Tieling liege am Ende der Großen Mauer. Im 17. Jahrhundert, nachdem sich die Qing-Herrschaft in Peking etabliert hatte, befahl der erste Kaiser Kangxi den Weiterbau der Großen Mauer einzustellen, denn das Feindbild der Chinesen außerhalb der Langen Mauer entwickelte sich bereits zum Herrn des Hauses, und wovor sollte man sich noch schützen? Angefangen bei der ersten Qin- über die Han-, Tang- und Song- bis zur Mingdynastie hatte China immer erhebliche Grenzprobleme mit dem Norden gehabt. Am Ende der Mingdynastie gelang es den Mandschu-Armeen, in die Reichsmitte Chinas einzudringen; nicht einmal die tausende Kilometer lange Große Mauer konnte ihnen Einhalt gebieten. Zuzeiten der Späten Qingdynastie und des Anfangs der Republik China waren die drei mandschurischen Provinzen im Nordosten mit ihrem riesigen Weideland, das eine Fläche von 1.230.000 Quadratkilometern ausmachte, zwar integraler Bestandteil Chinas, aber China war durch Konflikte mit der Außenwelt und Unruhen im Inneren bereits stark geschwächt. Die Grenzzwischenfälle mit dem Nachbarn Russland häuften sich und für Japans expansionistisches Interesse an einer „Neuordnung im Kreis Groß-Ostasiens“6 bot es ebenfalls ein einladendes Ziel. Der Reichtum an natürlichen Ressourcen brachte der Mandschurei großes Unheil und verheerende Katastrophen. Doch die unnachgiebige Seele des kriegerischen Nomadenvolkes blieb am Ende unbesiegbar.

Ich wurde in eine leidvolle Zeit hineingeboren. Mein Leben war eine einzige Wanderschaft. Für mich gibt es kein heimisches Fleckchen Erde, wohin ich zurückkehren kann. Für mich existiert die Heimat nur in den von Sehnsucht ergriffenen Gesängen. Und diesen Liedern lauschte ich schon während meiner Kindheit – lauschte meiner Mutter, die häufig voller Schwermut sang. Es war immer dasselbe Lied: „Su Wu, der Schäfer vom Baikalsee. Er lebte als Gefangener neunzehn lange Jahre, umgeben von Eis und Schnee …“7 20 Jahre später, tausende Kilometer von der Heimat entfernt, in der subtropischen, schneefreien Stadt Taizhong auf Taiwan, unweit vom nördlichen Wendekreis des Krebses, sang sie noch immer dieses Lied, diesmal an der Wiege meines Sohnes. Da sagte ich zu ihr: „Aber Mutter, kannst du denn nichts anderes singen?“, woraufhin sie das Lied „Frau Meng Jiang klagt an der Großen Mauer“8 anstimmte, das von ihrem großen Schmerz über den bitteren Verlust des Ehemannes handelte.

Mutter war 19 Jahre alt, als sie mit Vater verheiratet wurde und zur Familie Chi kam. Einen Monat später ging Vater bereits zum Studium ins Ausland. Er kam nur einige wenige Male während der Sommerferien nach Hause. Unmittelbar nach seiner endgültigen Rückkehr aus dem europäischen Ausland schloss er sich General Guo Sunglings Revolutionsbewegung in der Mandschurei an. Er wurde schließlich ins Exil verbannt. Etliche Jahre lang war es ihm verboten, nach Hause zurückzukehren und seine Familie zu besuchen. Während all dieser Zeit musste meine Mutter sich und uns Kinder ganz allein durchbringen. Die schiere Hoffnungslosigkeit des langen Wartens hatte tatsächlich sehr viel Ähnlichkeit mit der verzweifelten Lage des Han-Beamten Su Wu und dessen historisch belegter Verbannung. Während all der langen Jahre konnte auch er nichts anderes tun als zu warten und dafür zu sorgen, dass aus seinen Lämmern Schafe heranwuchsen.

Als Mutter bereits 30 Jahre alt war, wurde es ihr endlich gestattet, die drei Tage und zwei Nächte dauernde Bahnfahrt über den Shanhai-Guan9, einen weitläufigen Berg- und See-Pass, ins Landesinnere zu unternehmen, um doch noch ein gemeinsames Leben mit unserem Vater zu beginnen. Von nun an begleitete sie ihren Mann von Ort zu Ort. Dabei entfernten sie sich immer weiter von der Heimat. Es verwundert also kaum, dass Mutter wirklich kein anderes Wiegenlied kannte außer „Su Wu, der Schäfer vom Baikalsee“.

Noch bevor ich mein 20. Lebensjahr erreicht hatte, war ich bereits vom nordöstlichen Abschnitt des Liao-Flusses bis nach Südchina gewandert, von dort aus am Jangtse-Jiang 10 und Min Jiang11 entlang Richtung Südwesten bis nach Dadu He12. In dem acht Jahre andauernden Widerstandskrieg gegen Japan existierte meine Heimat für mich weiterhin nur in den Liedern. Unzählige Menschen aus allen Himmelsrichtungen Chinas waren nach Chongqing13 unterwegs, und sie sangen gegen ihre wachsende Verzweiflung an, während sie auf der Suche nach Rettung jeden noch so abgelegenen Fluchtweg probierten, immer wieder hilflos umherirrten und sich selbst durch knietief verschlammte Pfade kämpften, oftmals inmitten der Bombenhagel und begleitet vom Donnern der Kanonen. Was waren das für Lieder, die sie sangen? Was waren das für Lieder, die sie nicht aufgeben ließen?

Es war das Lied:

„Zehntausend Meilen lang ist die Große Mauer,

Zehntausend Meilen lang …

Jenseits der Mauer, dort liegt meine Heimat …“14

Doch wie sollte ich mir eine solche Heimat vorstellen?

„Meine Heimat liegt im Nordwesten am Sungari-Fluss …

unendlich sind dort die saftigen Weiden,

unzählig die Herden von Vieh darauf …“

Während wir diese Lieder sangen, sehnte sich ein jeder nach dem eigenen Heimatfluss, der einem dann so unbeschreiblich schön vor Augen schwebte, wie der Yongding-Fluss, der Gelbe Fluss, der Han, der Huai, der Gan, der Xiang, der Gui, der Yi oder all die anderen herrlichen Flüsse des Landes. So begleitete mich meine Heimat in den sich stets fortbewegenden Strömungen:

„Unter meinem Holzfenster rauschet Nacht für Nacht der Fluss dahin, sein Schluchzen jedoch bleibt, es flutet mir durch Herz und Seele!“

1 - Der Anfang

Ich wurde am Tag des Laternenfestes15 im Jahre 1924 geboren. Um diese Jahreszeit herrscht in meiner Heimat, der Provinz Liaoning, eine strenge Kälte mit Temperaturen von minus 20 bis minus 40 Grad Celsius. Meine Mutter war während der Schwangerschaft sehr krank gewesen, weshalb ich schon mit einer schwachen Konstitution zur Welt kam. Als Säugling kränkelte ich häufig, und eines Tages, ich war kaum ein Jahr alt, bekam ich sehr hohes Fieber, welches sich nicht mehr senken lassen wollte. Mein Zustand wurde immer kritischer. Am Ende konnte ich kaum noch atmen. Mutter saß auf dem Kang, einem beheizten Bett aus Lehmziegeln, welches bei uns im Nordosten Chinas gebräuchlich war, und presste mich ganz fest an sich. Eine Verwandte, die angereist war, um bei uns das Frühlingsfest zu feiern, sagte zu ihr: „Das Kind ist doch so gut wie tot. Es atmet kaum noch. Warum hältst du noch an ihr fest? Lass es doch einfach sein!“ Meine Mutter konnte nicht aufhören, bitterlich zu weinen, aber sie gab mich auch nicht her. Es war bereits Mitternacht, als meine Großmutter schließlich den Beschluss fasste: „Schickt einen der Diener in die Stadt, um einen Arzt zu holen. Mal sehen, ob der das Mädchen noch retten kann!“ Der Diener ritt also zu einem etwa fünf Kilometer weit entfernten Städtchen und fand auch tatsächlich einen Arzt, der nicht nur reiten konnte, sondern auch noch willens war, sich mitten in der Nacht und bei Eiseskälte zu unserem Landgut zu begeben. Und so wurde ich tatsächlich gerettet. Der sterbende Säugling, den Mutter beharrlich umklammert gehalten hatte, gewann bald wieder an Lebenskraft und sollte diese zurückgewonnene Vitalität nie wieder verlieren.

Laut Statistik betrug die Sterberate von Säuglingen zu jener Zeit um die 40 Prozent. Ein Leben wie das meine war also vergleichbar mit einem flackernden Öllämpchen im Wind. Die Liebe meiner Mutter jedoch und die Hilfe aller guten Menschen um uns herum waren wie ein Lampenschirm, der diese winzige, beinahe erlöschende Flamme vor dem Wind schützte. Einige Tage später kam der Arzt erneut in unser Dorf, um einen seiner Patienten zu besuchen. Meine Mutter brachte mich zu ihm und dankte ihm aufs Herzlichste: „Sie haben dieses Kind gerettet. Ihr Vater studiert in Deutschland und hat ihr noch keinen Namen gegeben. Würden Sie ihr nun einen Namen geben, um diese schicksalhafte Patenschaft des Glücks zwischen ihnen zu besiegeln?“ Der Arzt wählte für mich den Namen „Pang-Yuan“ (Bangyuan) und ließ mir damit bereits seinen zweiten Segen zu Beginn meines Lebens zuteilwerden.

Erst als Erwachsene erfuhr ich, dass sich mein Name aus der Verszeile „Jene, die mit Gott im Herzen alt wird“ herleitete, welche aus dem „Buch der Lieder“16 stammte: „Ihre klaren Augen strahlen voller Liebe und wohlgeformt ist ihre hohe Stirn. Wahrhaft, sie ist eine Person von großer Schönheit! Sie ist die Prinzessin unseres Landes.“ Wie großzügig er war, dass er mir solch einen Segen gab. Den Namen einer Frau, die etliche Jahrhunderte zuvor gelebt hatte und für ihre Tugendhaftigkeit bekannt blieb. Er erwies mir damit eine Ehre, die ebenso groß wie furchteinflößend war. Ich, die ihr halbes Leben in dieser modernen Welt darum gekämpft hat, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen, denke oft an jenen Arzt im Bergdorf meiner Heimat. Ich hoffe, dass er weiß, wie hart ich gearbeitet habe, um mich der Ehre seiner Segnungen würdig zu erweisen. Jener Segnungen, die er mir in einer Zeit zuteilwerden lassen hatte, wo das Leben eines Mädchens keinen Pfifferling wert war.

2 - Familie Chi aus Tieling

Während meiner Kindheit erlebte ich die Welt als einen Ort ohne Vater. Als ich zwei Jahre alt war, sah ich ihn zum ersten Mal, doch das war nur eine flüchtige Begegnung. Mein Vater befand sich damals auf der Flucht, und eines Nachts, während draußen ein eisiger Schneesturm tobte, schlich er sich ins Haus und war im Morgengrauen bereits wieder verschwunden. Zwei Tage später brachten Großmutter und Mutter meinen älteren Bruder und mich zu einem nahegelegenen Dorf, welches noch kleiner war als das unsrige. Dort mussten wir uns eine Zeitlang bei Verwandten verstecken, weil die Truppen von Marschall Zhang Zuolin17 den Auftrag hatten, meinen Vater Chi Shiying festzusetzen. Als Verbündeter des abtrünnigen Generals Guo Sungling18, der einen Putschversuch gegen den Marshall unternommen hatte, war er der Verschwörung mitschuldig und sollte daher, gemeinsam mit seiner gesamten Familie, hingerichtet werden. Während wir uns dort versteckt hielten, schrie ich jeden Abend, wenn es dunkel wurde: „Ich will nach Hause, ich will nach Hause!“ Für Großmutter und Mutter war es eine unerträgliche Situation, da mein Verhalten alles noch schwieriger machte und sie befürchten mussten, unsere Verwandten in Gefahr zu bringen. Um dies zu vermeiden, beschlossen alle gemeinsam, dass wir wieder nach Hause zurückkehren sollten, und so legten wir unser Schicksal in Gottes Hände.

Der erste Vorfahre der Chi-Familie, von dem ich Kenntnis habe, war als Beamter des Landkreises Xugou in der Provinz Shanxi Anfang des 18. Jahrhunderts nach Fengtien19 versetzt worden, wo er sich nach einigen Jahren dauerhaft niederließ. Innerhalb dieser Ahnenreihe gehörte mein Vater zur inzwischen achten Generation. Unser Gut befand sich in Xiao Xishan, was Klein-Westberg bedeutet, weil es westlich der Stadt Fanjiatun lag und etwa 2,5 km von der Luanshi-Berg-Bahnstation entfernt war. Unser Grundbesitz hatte eine Fläche von etwa 400 Tian20, also ungefähr 4000 Mu21, was umgerechnet etwa 267 Hektar Ackerland sind. Nach damaligen Verhältnissen zählten wir zu den durchschnittlichen Großgrundbesitzern.