David Copperfield

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From the series: Klassiker bei Null Papier
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Mr. Cre­akle hielt dann noch un­ter Ton­gays As­sis­tenz eine Rede, in der er Steer­forth dank­te, dass er, wenn auch viel­leicht ein we­nig zu warm, das An­se­hen von Sa­lem­haus und sei­ne Un­ab­hän­gig­keit ver­tei­digt hat­te… Er wand sich durch bis zu dem Punk­te, wo er Steer­forth die Hand schüt­tel­te, wäh­rend wir drei­mal Hoch rie­fen, ich weiß nicht mehr für wen, aber ich glau­be für Steer­forth. We­nigs­tens rief ich mit, ob­wohl ich sehr nie­der­ge­schla­gen war. Dann wichs­te Mr. Cre­akle den klei­nen Tom­my Tradd­les durch, weil er über Mr. Mells Fort­ge­hen ge­weint hat­te, statt in das Hoch ein­zu­stim­men, und kehr­te wie­der zu sei­nem Sofa oder sei­nem Bett, oder wo er sonst her­ge­kom­men, zu­rück.

Wir wa­ren uns jetzt selbst über­las­sen und sa­hen ein­an­der rat­los an. Ich emp­fand so viel Ge­wis­sens­bis­se und Reue über das Ge­sche­he­ne, dass nur die Furcht, Steer­forth, der mich oft an­sah, möch­te es für un­freund­schaft­lich oder, bes­ser ge­sagt, für pflicht­wid­rig hal­ten, wenn ich wein­te, mei­ne Trä­nen zu­rück­hielt. Er war sehr böse auf Tradd­les und sag­te, es freue ihn, dass er es ge­kriegt habe.

Der arme Tradd­les, der schon wie­der über das Sta­di­um hin­aus war, wo er den Kopf auf das Pult zu le­gen pfleg­te und sei­nem Ver­druss wie­der mit ei­nem Hau­fen Ge­rip­pe Luft mach­te, sag­te, es sei ihm ganz wurst, aber Mr. Mell sei Un­recht ge­sche­hen.

»Wer hat ihm Un­recht ge­tan, du Mäd­chen?« frag­te Steer­forth.

»Wer denn sonst als du.«

»Was hab ich denn ge­tan?« frag­te Steer­forth.

»Was du ge­tan hast«, gab Tradd­les zur Ant­wort. »Du hast sei­ne Ge­füh­le ver­letzt und ihn um sei­ne Stel­le ge­bracht.«

»Sei­ne Ge­füh­le«, wie­der­hol­te Steer­forth ver­ächt­lich. »Sei­ne Ge­füh­le wer­den sich schon wie­der er­ho­len, drauf will ich wet­ten. Sei­ne Ge­füh­le sind nicht wie dei­ne, Fräu­lein Tradd­les. Und was sei­ne Stel­le be­trifft, die so glän­zend war, was? – so wer­de ich doch na­tür­lich nach Hau­se schrei­ben und da­für sor­gen, dass er Geld be­kommt, Pol­ly.«

Uns kam die­ser Vor­satz Steer­forths, des­sen Mut­ter, eine rei­che Wit­we, ihm in al­lem nach­gab, sehr hoch­her­zig vor. Wir freu­ten uns alle, dass Tradd­les be­schämt war, und ho­ben Steer­forth in den Him­mel, be­son­ders, als er uns gnä­digst er­klär­te, dass er al­les nur un­sert­we­gen ge­tan und uns durch sein selbst­lo­ses Be­neh­men einen Rie­sen­dienst er­wie­sen hät­te.

Aber ich muss ge­ste­hen, als ich abends im Dun­keln eine Ge­schich­te er­zähl­te, schi­en mir Mr. Mells Flö­te mehr als ein­mal trau­rig in den Ohren zu klin­gen, und als end­lich Steer­forth schlief und ich in mei­nem Bet­te lag, mach­te mich der Ge­dan­ke, die Flö­te wer­de jetzt wo­an­ders ge­spielt, ganz elend.

Ich ver­gaß Mr. Mell bald über der Be­wun­de­rung Steer­forths, der in leich­ter Di­let­tan­te­nart und ohne Buch, denn er schi­en al­les aus­wen­dig zu wis­sen, ei­ni­ge der Lehr­stun­den über­nahm, bis der neue Leh­rer er­schi­en. Die­ser kam aus ei­ner La­tein­schu­le und speis­te, be­vor er sein Amt an­trat, bei dem Di­rek­tor, um Steer­forth vor­ge­stellt zu wer­den.

Steer­forth fand großen Ge­fal­len an ihm und nann­te ihn eine Leuch­te. Wenn ich auch nicht be­griff, was für ein Ge­lehr­ten­ti­tel das wäre, brach­te ich ihm doch große Ehr­furcht ent­ge­gen und zwei­fel­te nicht im Ge­rings­ten an sei­nen groß­ar­ti­gen Kennt­nis­sen, ob­wohl er sich nie sol­che Mühe mit mir gab, wie Mr. Mell; aber ich war ja auch gar nicht zu rech­nen.

Noch ein un­ge­wöhn­li­ches Er­eig­nis in die­sem Se­mes­ter mach­te einen tie­fen Ein­druck auf mich, der noch im­mer fort­lebt, – aus ver­schie­de­nen Grün­den fort­lebt.

Ei­nes Nach­mit­tags, als wir alle in ei­nem Zu­stand ärgs­ter Ver­wir­rung und Angst wa­ren, weil Mr. Cre­akle so fürch­ter­lich um sich schlug, kam Ton­gay her­ein und rief laut:

»Be­such für Cop­per­field.«

Mr. Cre­akle wech­sel­te mit ihm ein paar Wor­te über den Rang des Be­suchs und das Zim­mer, in das man die Gäs­te wei­sen soll­te, und sag­te dann zu mir, – ich war wie üb­lich auf­ge­stan­den und ganz ver­blüfft vor Er­stau­nen – ich soll­te die Hin­ter­trep­pe hin­auf­ge­hen und einen rei­nen Kra­gen an­zie­hen, ehe ich ins Spei­se­zim­mer gin­ge. Ich ge­horch­te in ei­ner Auf­re­gung, wie ich sie noch gar nicht ge­kannt hat­te, und als ich an die Tür des Be­suchs­zim­mers kam und der Ge­dan­ke in mir auf­blitz­te, es könn­te viel­leicht mei­ne Mut­ter sein, – bis da­hin hat­te ich nur an Mr. und Miss Murd­sto­ne ge­dacht – ließ ich die Klin­ke wie­der los und blieb ste­hen und hol­te tief Atem, be­vor ich ein­trat.

Zu­erst sah ich nie­mand. Aber da ich ein Hin­der­nis an der Tür fühl­te, blick­te ich da­hin­ter und er­kann­te zu mei­nem Er­stau­nen Mr. Peg­got­ty und Ham, die mit ih­ren Hü­ten in der Hand vor mir knix­ten und ein­an­der an die Wand drück­ten. Ich muss­te la­chen, aber mehr aus Freu­de, sie zu se­hen, als über ih­ren An­blick. Wir schüt­tel­ten uns herz­lich die Hän­de, und ich lach­te und lach­te, bis ich mein Ta­schen­tuch her­aus­zie­hen und mir die Au­gen wi­schen muss­te.

Mr. Peg­got­ty, der wäh­rend des gan­zen Be­suchs kein ein­zi­ges Mal den Mund zu­mach­te, leg­te große Teil­nah­me an den Tag, als er das sah, und gab Ham einen Rip­pen­stoß, da­mit der et­was sa­gen soll­te.

»All wed­der lus­sig, Masr Davy?« frag­te Ham mit sei­nem ge­wohn­ten Grin­sen. »Wat sünn Sej grot woren.«

»Bin ich ge­wach­sen«, frag­te ich und trock­ne­te mir die Au­gen. Ich wein­te über nichts Be­son­de­res, nur das Wie­der­se­hen mit den al­ten Freun­den ent­lock­te mir Trä­nen.

»Grot woren? Masr Davy! ob hej grot woren is!« sag­te Ham.

»Ob hej grot woren is«, wie­der­hol­te Mr. Peg­got­ty.

Sie lach­ten ein­an­der an, bis ich mit­la­chen muss­te, und dann lach­ten wir alle drei, bis mir wie­der die Trä­nen ka­men.

»Wis­sen Sie, wie es Mama geht, Mr. Peg­got­ty«, frag­te ich, »und mei­ner lie­ben, lie­ben, al­ten Peg­got­ty?«

»Un­ge­mein«, sag­te Mr. Peg­got­ty.

»Und der klei­nen Emly und Mrs. Gum­mid­ge?«

»Un­ge­mein«, sag­te Mr. Peg­got­ty.

Es trat eine große Pau­se ein. Um sie zu be­en­den, hol­te Mr. Peg­got­ty zwei un­ge­heu­re Hum­mern, eine rie­si­ge Krab­be und einen großen Se­gel­lein­wand­beu­tel voll Cre­vet­ten aus sei­nen Ta­schen und häuf­te sie auf Hams Ar­men auf.

»Weil Sie das ger­ne ha­ben, wis­sen Sie«, sag­te er, »ha­ben wir uns die Frei­heit ge­nom­men! Und die Alte hat se ge­kocht. Mrs. Gum­mid­ge hat se ge­kocht. Ja­woll«, füg­te er lang­sam hin­zu, wie mir schi­en, weil er von nichts an­ders zu re­den wuss­te. »Wahr­haf­tig, Mrs. Gum­mid­ge hat se ge­kocht.«

Ich drück­te ihm mei­nen Dank aus, und Mr. Peg­got­ty fuhr fort, Ham hil­fe­su­chend an­bli­ckend, der die Kreb­se an­grins­te, ohne einen Ver­such zu ma­chen, ihn zu un­ter­stüt­zen:

»Wi ka­men mit Flut und güns­ti­gen Wind in een von uns Yar­mouth­boo­ten nach Gra­ve­send. Mien Schwes­ter hett mich den Na­men von dem Ort hier schre­wen und schrewt, wenn ick nach Gra­ve­send kom­me, soll ick heröwer kom­men und nach Masr Davy fra­gen, un jem een schoin Gruß von ehr brin­gen un Gu­tes wün­schen un seg­gen, dass sej un­ge­mein gut geit. Lütt Emly soll an mien Schwes­ter schrie­wen, wenn ick wed­der to hus bün, dat ick Sej se­hen heww und dat Sej woll sünn; un so war et en ganz lus­si­gen Rund­gang.«

Ich muss­te erst ein we­nig nach­den­ken, was Mr. Peg­got­ty sa­gen woll­te, dann dank­te ich ihm herz­lich und sag­te, rot wer­dend, – wie ich fühl­te, – die klei­ne Emly wer­de sich wohl auch ver­än­dert ha­ben, seit­dem wir zu­sam­men Mu­scheln und Kie­sel am Stran­de ge­sucht hat­ten.

»Is een grot Dee­ren woren; sej is«, sag­te Mr. Peg­got­ty. »Fra­gen Sie ihn.« Er mein­te Ham, der won­ne­strah­lend über sei­nem Cre­vet­ten­beu­tel nick­te und sei­ne freu­di­ge Zu­stim­mung aus­drück­te.

»Ehr soit Ge­sicht!« sag­te Mr. Peg­got­ty und sein eig­nes glänz­te wie ein Licht.

»Die Ge­lehr­sam­keit«, sag­te Ham.

»Ehr Hand­schrift«, sag­te Mr. Peg­got­ty. »Schwarz wie Koh­le. Un so grot. Von wi­tem to se­hen.«

Es war wirk­lich eine Lust, wel­che Be­geis­te­rung über Mr. Peg­got­ty kam, wenn er an sei­nen klei­nen Lieb­ling dach­te. Er steht wie­der vor mir mit sei­nem wet­ter­har­ten haa­ri­gen Ge­sicht, strah­lend vor freu­di­ger Lie­be und Stolz, dass es sich gar nicht be­schrei­ben lässt. Sei­ne ehr­li­chen Au­gen leuch­te­ten auf und glänz­ten, als ob et­was Schim­mern­des ihre Tie­fen auf­rühr­te. Sei­ne brei­te Brust hob sich vor Ent­zücken. Sei­ne großen star­ken Hän­de ball­ten sich un­will­kür­lich bei sei­nem Ernst zu­sam­men, und er gab dem, was er sprach, Nach­druck durch Be­we­gun­gen sei­nes Arms, der mir, dem Knirps, wie ein Schmie­de­ham­mer vor­kam.

Ham mein­te es eben­so ernst­haft. Ich glau­be, sie wür­den noch mehr von ihr er­zählt ha­ben, wenn sie nicht durch das un­ver­mu­te­te Er­schei­nen Steer­forths in Ver­le­gen­heit ge­ra­ten wä­ren. Als mich die­ser in ei­ner Ecke mit zwei Frem­den spre­chen sah, brach er das Lied ab, das er eben laut sang, und sag­te: »Ich wuss­te nicht, dass du hier bist, klei­ner Cop­per­field.« Es war nicht das ge­wöhn­li­che Be­suchs­zim­mer und er woll­te vor­bei­ge­hen.

Ich weiß nicht, ob es der Stolz war, einen Freund wie Steer­forth zu be­sit­zen, oder der Wunsch, ihm zu er­klä­ren, wie ich zu sol­chen Be­kann­ten, wie Mr. Peg­got­ty käme, was mich ver­an­lass­te, ihn her­bei­zu­ru­fen.

»Bit­te, Steer­forth«, sag­te ich, »hier sind zwei Schif­fer aus Yar­mouth, so gute, lie­be Leu­te, Ver­wand­te mei­ner al­ten Kinds­frau, die von Gra­ve­send ge­kom­men sind, um mich zu be­su­chen.«

 

»O! O!« sag­te Steer­forth und dreh­te sich um. »Freut mich, Sie zu se­hen. Wie geht es Ih­nen?«

Es lag et­was Un­ge­zwun­ge­nes in sei­nem We­sen, – et­was Fri­sches, Mun­te­res, aber gar nichts An­ma­ßen­des, das im­mer be­stri­ckend auf alle wirk­te. Im­mer noch kommt es mir vor, als ob sei­ne Hal­tung, sei­ne Leb­haf­tig­keit, sei­ne ge­win­nen­de Stim­me, sein hüb­sches Ge­sicht und eine ge­wis­se ihm in­ne­woh­nen­de An­zie­hungs­kraft einen Zau­ber aus­üb­ten, dem nur we­ni­ge wi­der­ste­hen konn­ten. Es ent­ging mir nicht, wie sehr er ih­nen ge­fiel und wie sich ihm im Au­gen­blick ihre Her­zen er­schlos­sen.

»Sie müs­sen auch zu Hau­se sa­gen, Mr. Peg­got­ty, dass Mr. Steer­forth sehr freund­lich zu mir ist, und dass ich ohne ihn gar nicht wüss­te, was an­fan­gen.«

»Un­sinn«, lach­te Steer­forth. »So et­was dür­fen Sie ih­nen dort nicht sa­gen.«

»Und wenn Mr. Steer­forth ein­mal nach Nor­folk oder Suf­folk kommt, Mr. Peg­got­ty«, sag­te ich, »und ich bin auch dort, so brin­ge ich ihn ganz ge­wiss mit nach Yar­mouth, um ihm Ihr Haus zu zei­gen. Du hast noch nie so ein Haus ge­se­hen, Steer­forth. Es ist aus ei­nem Schiff ge­macht.«

»Aus ei­nem Schiff, wahr­haf­tig?« sag­te Steer­forth. »Das ist das rich­ti­ge Haus für so einen tüch­ti­gen Schif­fer.«

»Ja­woll, Sir, is es auch«, sag­te Ham grin­send. »Ha­ben recht, jun­ger Gen­lmn. Masr Davy, der Gen­lmn hat recht. N fi­xer Schip­per. Ja­woll. Dat is hej.«

Mr. Peg­got­ty fühl­te sich nicht we­ni­ger ge­schmei­chelt als sein Nef­fe, wenn ihm auch sei­ne Be­schei­den­heit ver­bot, ein per­sön­li­ches Kom­pli­ment so laut auf sich zu be­zie­hen.

»Woll, Sir«, sag­te er mit ei­nem Kat­zen­bu­ckel und in sich hin­ein­la­chend und die Zip­fel sei­nes Ta­schen­tuchs ver­le­gen in die Wes­te stop­fend: »Schoin Dank, Sir, schoin Dank. Ick dau mien Schul­dig­keit an Bord.«

»Auch der Bes­te kann nicht mehr, Mr. Peg­got­ty«, sag­te Steer­forth, der so­fort den Na­men auf­ge­fasst hat­te.

»Wet­te, Sej do­ons auch«, sag­te Peg­got­ty und schüt­tel­te Steer­forth die Hand, »und do­ons ge­hö­rich. – Ganz ge­hö­rich! Schoin Dank, Sir. Dank Ih­nen, Sir, dat Sej mich so fründ­lich auf­ge­nom­men hew­wen. Ick bün schlecht und recht, Sir, heißt, hof­fe, bün recht, ver­ste­hen Sej? An mien Hus is noch vell to sehn, Sir, aber Sej sün will­komm, wenn Sej een­mal mit Masr Davy kommn, ick bün wie een Pa­gütz, dat bün ick«, sag­te Peg­got­ty. Er mein­te da­mit wahr­schein­lich eine Schne­cke und spiel­te auf sei­ne Lang­sam­keit im Fort­ge­hen an, denn er hat­te nach je­dem Satz ver­sucht, fort­zu­ge­hen, war aber im­mer wie­der um­ge­kehrt. »Awer ick segg Sej beid Ad­jüs und wünsch Sej veel Glüch.«

Ham wie­der­hol­te die­sen Ge­fühls­aus­bruch, und wir schie­den von bei­den auf das herz­lichs­te. Ich fühl­te mich an die­sem Abend so ver­sucht, Steer­forth von der hüb­schen klei­nen Emly zu er­zäh­len, aber ich fürch­te­te von ihm aus­ge­lacht zu wer­den.

Ich er­in­ne­re mich, dass ich viel und un­ru­hig über Mr. Peg­got­tys Wort nach­dach­te, dass sie ein großes Mäd­chen ge­wor­den sei, ver­warf aber die­sen Ge­dan­ken spä­ter als Un­sinn.

Wir schlepp­ten die Kreb­se, »dat Tüch«, wie Peg­got­ty es be­schei­den be­nannt hat­te, un­be­merkt in un­ser Zim­mer und hiel­ten an die­sem Abend ein großes Fes­tes­sen. Tradd­les kam da­bei nicht gut weg. Er war ein zu großer Pech­vo­gel, als dass er sich ei­nes Es­sens, das je­dem an­de­ren Men­schen be­kam, lan­ge hät­te er­freu­en kön­nen. Es wur­de ihm in der Nacht schlecht – ganz mi­se­ra­bel schlecht – nach der Krab­be, und nach­dem er schwar­ze Trop­fen und blaue Pil­len in ei­ner Men­ge ge­schluckt hat­te, dass Dem­ple, des­sen Va­ter Arzt war, mein­te, es wäre ge­nug, um ei­nes Pfer­des Ge­sund­heit zu un­ter­gra­ben, wur­de er durch­ge­hau­en und be­kam sechs Ka­pi­tel aus dem grie­chi­schen Te­sta­ment auf, weil er sich zu beich­ten wei­ger­te.

Den Rest des Se­mes­ters füllt ein Schwall von Erin­ne­run­gen aus an die ewi­gen Pla­gen und Müh­se­lig­kei­ten un­se­res täg­li­chen Le­bens, an den schwin­den­den Som­mer und den Wech­sel der Jah­res­zei­ten, an die küh­len Mor­gen, wenn man uns aus den Bet­ten läu­te­te und den kal­ten, kal­ten Ge­ruch der dunklen Näch­te, wenn wir wie­der ins Bett muss­ten, an die schlecht be­leuch­te­te und schlecht ge­heiz­te Abend­schul­stu­be und die Mor­gen­klas­se, die wei­ter nichts war als eine große Frös­tel­ma­schi­ne, – an die Ab­wechs­lung zwi­schen ge­koch­tem Rind­fleisch und Rin­der­bra­ten, ge­koch­tem Ham­mel­fleisch und Ham­mel­bra­ten, an But­ter­bro­te, Schul­bü­cher mit Eselsoh­ren, zer­bro­che­ne Schie­fer­ta­feln, Schreib­hef­te mit Trä­nen­fle­cken, an spa­ni­sche Rohr- und Li­neal­hie­be, Ohren­beu­tel, reg­ne­ri­sche Sonn­ta­ge, Talg­pud­dings und die schmut­zi­ge Tin­tenat­mo­sphä­re, die al­les um­gibt.

Ich er­in­ne­re mich noch so recht an die fer­ne Hoff­nung auf die Fei­er­ta­ge, die in all der lan­gen Zeit wie der ein­zig fes­te Punkt er­schi­en. Ein Punkt, der sich uns im­mer mehr nä­her­te und be­stän­dig grö­ßer wur­de, wie wir zu­erst Mo­na­te, dann Wo­chen und dann nur mehr Tage zähl­ten, wie ich dann an­fing, zu fürch­ten, dass ich nicht wür­de nach Hau­se rei­sen dür­fen, – in­des­sen, wie Steer­forth her­aus­brach­te, schon zu Hau­se an­ge­mel­det war, – und dann von dunklen Ah­nun­gen ge­quält wur­de, ich könn­te in­zwi­schen das Bein bre­chen. Wie end­lich der Tag der Abrei­se nä­her kam, von der zweit­nächs­ten Wo­che auf die nächs­te, dann auf die ge­gen­wär­ti­ge, auf über­mor­gen, mor­gen, heu­te, heu­te Abend, – wo ich in der Post­kut­sche in Yar­mouth sit­ze und nach Hau­se fah­re.

Ich schlum­me­re mei­len­wei­se in der Kut­sche und habe einen zu­sam­men­hän­gen­den Traum von al­len die­sen Din­gen. Aber wenn ich manch­mal auf­wa­che, ist die Ge­gend drau­ßen vor dem Fens­ter nicht der Spiel­platz von Sa­lem­haus, und was in mei­ne Ohren ruft, ist nicht Mr. Cre­akle, der eben Tradd­les prü­gelt, son­dern der Kut­scher, der die Pfer­de an­treibt.

8. Kapitel – Meine Ferien – Ein glücklicher Nachmittag

Als wir vor Ta­ge­s­an­bruch vor dem Gast­hof hiel­ten, aber nicht vor dem, wo mein Freund, der Kell­ner diente, wies man mir ein klei­nes, hüb­sches Schlaf­zim­mer zu, über des­sen Türe »Del­phin« stand. Ich fror sehr trotz des hei­ßen Tees, den sie mir un­ten vor ei­nem großen Feu­er ein­ge­schenkt hat­ten, und leg­te mich gern in das Bett des »Del­phins«, wi­ckel­te mich in die Bett­de­cke des »Del­phins« und schlief ein.

Mr. Bar­kis, der Fuhr­mann, soll­te mich mor­gen früh um neun Uhr ab­ho­len. Ich stand um acht Uhr auf, ein we­nig ver­schla­fen nach dem kur­z­en Schlum­mer, und war­te­te auf ihn noch lan­ge vor der Zeit. Er nahm mich auf, als ob seit un­serm letz­ten Zu­sam­men­sein nicht fünf Mi­nu­ten ver­stri­chen wä­ren und ich bloß in den Gast­hof ge­gan­gen sei, um Klein­geld ein­zu­wech­seln.

So­bald ich und mein Kof­fer im Wa­gen wa­ren und er sei­nen Platz ein­ge­nom­men hat­te, setz­te sich das fau­le Pferd in sei­nen ge­wohn­ten Trott.

»Sie se­hen sehr gut aus, Mr. Bar­kis«, fing ich an.

Mr. Bar­kis rieb sich sei­ne Ba­cken mit dem Är­mel und sah dann hin, als ob er dar­auf die Blü­te sei­nes Ge­sichts ab­ge­färbt zu se­hen er­war­te­te. Wei­ter gab er kein Zei­chen der Aner­ken­nung mei­nes Kom­pli­ments von sich.

»Ich habe Ihren Auf­trag aus­ge­rich­tet, Mr. Bar­kis«, sag­te ich, »und an Peg­got­ty ge­schrie­ben.«

»Hm«, mein­te Mr. Bar­kis.

Er schi­en ver­drieß­lich zu sein und ant­wor­te­te sehr kurz.

»Wars nicht rich­tig, Mr. Bar­kis?« frag­te ich nach ei­ni­gem Zö­gern.

»Nun, nein«, sag­te Bar­kis.

»Falsch aus­ge­rich­tet?«

»Aus­ge­rich­tet wars schon gut«, sag­te Mr. Bar­kis, »aber dann wars aus.«

Da ich nicht ver­stand, was er mein­te, wie­der­hol­te ich fra­gend:

»Dann wars aus, Mr. Bar­kis?«

»Wur­de nichts draus«, er­klär­te er und blick­te mich von der Sei­te an. »Kei­ne Ant­wort.«

»Sie er­war­te­ten also eine Ant­wort, Mr. Bar­kis?« sag­te ich und riss die Au­gen auf, denn das kam mir ganz über­ra­schend.

»Wenn ein Mensch sagt, er will«, sag­te Mr. Bar­kis und wen­de­te sei­ne Au­gen lang­sam wie­der auf mich, »heißts doch so viel wie, man war­tet auf Ant­wort.«

»Wirk­lich, Mr. Bar­kis?«

»Wirk­lich«, sag­te Mr. Bar­kis und ziel­te mit den Au­gen nach den Pfer­deoh­ren. »Der Mensch war­tet im­mer noch auf die Ant­wort.«

»Ha­ben Sie ihr das ge­sagt, Mr. Bar­kis?«

»Hm«, brumm­te Mr. Bar­kis und dach­te dar­über nach. »Hab mich noch nicht ent­schlos­sen. Sprach noch kei­ne sechs Wor­te mit ihr. Kanns ihr nicht sa­gen.«

»Soll ichs ihr viel­leicht sa­gen, Mr. Bar­kis?« frag­te ich schüch­tern.

»Könn­ten s schon, wenn Sie woll­ten«, sag­te Mr. Bar­kis wie­der mit ei­nem lang­sa­men Blick zu mir. »Dass Bar­kis auf Ant­wort war­tet. Hm, wie ist doch der Name?«

»Ihr Name?«

»Hm«, sag­te Mr. Bar­kis mit ei­nem Kopf­ni­cken.

»Peg­got­ty.«

»Tauf­na­me, Vor­na­me?« frag­te Mr. Bar­kis.

»Nein, das ist nicht ihr Tauf­na­me. Ihr Vor­na­me ist Kla­ra.«

»So«, sag­te Mr. Bar­kis.

Mei­ne Ant­wort schi­en ihn au­ßer­or­dent­lich stark zum Nach­den­ken an­zu­re­gen, denn er saß lan­ge grü­belnd da und pfiff in­ner­lich.

»Hm«, fing er end­lich wie­der an, »sa­gen Sie Peg­got­ty: Bar­kis war­tet; und sagt sie, wor­auf? sa­gen Sie: auf Ant­wort. Sagt sie: wor­auf? sa­gen Sie: Bar­kis will.«

Die­se au­ßer­or­dent­lich knap­pe Er­klä­rung be­glei­te­te Mr. Bar­kis mit ei­nem freund­schaft­li­chen Rip­pen­stoß, dass mir die Sei­te weh tat. Da­rauf hock­te er wie­der wie ge­wöhn­lich ru­hig auf sei­nem Platz und blieb in die­ser Stel­lung, bis er eine hal­be Stun­de spä­ter ein Stück Krei­de aus der Ta­sche hol­te und in­nen an die Wa­gen­de­cke schrieb: Kla­ra Peg­got­ty –. Of­fen­bar als Pri­vat­no­tiz.

Was für ein selt­sa­mes Ge­fühl, sich der Hei­mat zu nä­hern, die ei­nem fremd ge­wor­den ist! Je­der Ge­gen­stand, den man er­blickt, er­in­nert einen an das alte, lie­be Va­ter­haus. Es kam mir al­les wie ein Traum vor, den ich nie mehr wie­der träu­men könn­te. Die Tage, wo mei­ne Mut­ter, ich und Peg­got­ty ein­an­der al­les wa­ren und noch nie­mand sich zwi­schen uns ge­drängt hat­te, er­stan­den un­ter­wegs vor mei­nen Au­gen mit so trau­ri­gen Erin­ne­run­gen, dass ich am liebs­ten um­ge­kehrt wäre und in Steer­forths Ge­sell­schaft ver­ges­sen hät­te. Aber ich war jetzt an­ge­kom­men und stand bald vor un­serm Hau­se, wo die kah­len, al­ten Ul­men ihre vie­len Hän­de in die kal­te Win­ter­luft hin­aus­streck­ten und Fet­zen von den al­ten Krä­hen­nes­tern vom Win­de fort­ge­weht wur­den.

Der Fuhr­mann lud mei­nen Kof­fer an der Gar­ten­tür ab und ver­ließ mich. Ich ging den Fuß­steig nach dem Hau­se zu, sah nach den Fens­tern und fürch­te­te je­den Au­gen­blick, Mr. oder Miss Murd­sto­ne zu er­bli­cken. Es zeig­te sich je­doch kein Ge­sicht, und ich trat lei­se und schüch­tern ein.

Gott weiß, aus wie frü­her Kind­heit die Erin­ne­rung stam­men muss­te, die beim Klang der Stim­me mei­ner Mut­ter wie­der wach wur­de, als ich den Fuß in den Flur setz­te. Sie sang lei­se. Ich glau­be, ich muss in ih­ren Ar­men ge­le­gen und sie so sin­gen hö­ren ha­ben, als ich noch ein Säug­ling war. Das Lied kam mir neu und doch so alt vor, dass es mein Herz zum Über­strö­men er­füll­te. Es war mir wie ein al­ter Freund, der nach lan­ger Ab­we­sen­heit zu­rück­kehrt.

Aus der Wei­se, wie mei­ne Mut­ter das Lied sang, schloss ich, dass sie al­lein sei, und ich trat lei­se ins Zim­mer. Sie saß beim Feu­er und säug­te ein Kind, des­sen win­zi­ge Händ­chen an ih­rem Hal­se ruh­ten. Ihre Au­gen hin­gen an sei­nem Ge­sicht und sie sang ihm et­was vor. Ich sah so­fort, dass sie al­lein war.

Ich sprach sie an. Sie fuhr auf und stieß einen Schrei aus. Aber als sie mich er­kann­te, nann­te sie mich ih­ren lie­ben Davy, ihr ge­lieb­tes Kind, kam mir ent­ge­gen, knie­te vor mir nie­der und küss­te mich und leg­te mei­nen Kopf an ihre Brust ne­ben das klei­ne We­sen, das sich an sie an­klam­mer­te, und leg­te sei­ne Händ­chen an mei­ne Lip­pen.

Ich woll­te, ich wäre ge­stor­ben mit die­sem Ge­fühl im Her­zen. Ich hät­te bes­ser für den Him­mel ge­passt, als je­mals spä­ter.

»Es ist dein Brü­der­chen«, sag­te mei­ne Mut­ter und lieb­kos­te mich. »Davy, mein hüb­scher Jun­ge, mein ar­mes Kind.« Dann küss­te sie mich im­mer mehr und mehr und um­schlang mei­nen Na­cken. Dann kam Peg­got­ty her­ein­ge­lau­fen, warf sich auf dem Bo­den ne­ben uns hin und war eine Vier­tel­stun­de lang halb von Sin­nen. Man hat­te mich nicht so zei­tig er­war­tet, und der Fuhr­mann war frü­her an­ge­kom­men als ge­wöhn­lich. Mr. und Miss Murd­sto­ne be­fan­den sich in der Nach­bar­schaft auf Be­such und wür­den, er­fuhr ich, nicht vor Abend zu­rück­kom­men. Das hat­te ich nicht zu hof­fen ge­wagt. Ich hät­te es nie für mög­lich ge­hal­ten, dass wir drei wür­den wie­der ein­mal un­ge­stört bei­sam­men sein kön­nen, und für dies eine Mal wa­ren für mich die al­ten ver­gang­nen Zei­ten zu­rück­ge­kehrt.

 

Wir speis­ten zu­sam­men beim Ka­min. Peg­got­ty woll­te uns be­die­nen, aber mei­ne Mut­ter litt es nicht, und sie muss­te sich mit zu Tisch set­zen. Ich hat­te mei­nen al­ten Tel­ler wie­der mit ei­nem brau­nen Kriegs­schiff un­ter vol­len Se­geln dar­auf, den Peg­got­ty sorg­fäl­tig auf­ge­ho­ben und für hun­dert Pfund nicht zer­bro­chen hät­te, wie sie sag­te. Ich hat­te mei­nen al­ten Trink­be­cher mit dem Na­men »Da­vid« drauf und mein al­tes Be­steck, das noch im­mer stumpf war.

Als wir bei Ti­sche sa­ßen, hielt ich es für den ge­eig­nets­ten Mo­ment, Mr. Bar­kis’ Auf­trag aus­zu­rich­ten. Ehe ich da­mit zu Ende kam, fing Peg­got­ty an zu la­chen und hielt die Schür­ze vors Ge­sicht.

»Peg­got­ty«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Was gibts denn?«

Peg­got­ty lach­te nur noch mehr und hielt ihre Schür­ze noch fes­ter vors Ge­sicht, als mei­ne Mut­ter sie weg­zie­hen woll­te. Sie saß da wie mit dem Kopf in ei­nem Sack.

»Was hast du denn, du dum­mes Ding?« frag­te mei­ne Mut­ter la­chend.

»Ach, der al­ber­ne Mensch«, rief Peg­got­ty. »Er will mich hei­ra­ten.«

»Wäre das nicht eine ganz gute Par­tie für dich?« frag­te mei­ne Mut­ter.

»Ach, ich weiß nicht«, sag­te Peg­got­ty. »Fra­gen Sie mich nicht. Ich möcht ihn nicht ha­ben, und wenn er von Gold wäre. Ich will über­haupt nie­mand ha­ben.«

»Also warum sagst dus ihm nicht, du kin­di­sches Ding?«

»Ihm sa­gen«, mein­te Peg­got­ty und sah un­ter ih­rer Schür­ze her­vor. »Er hat noch nie ein Wort da­von er­wähnt, er weiß ganz gut, warum. Wenn er sichs un­ter­ste­hen wür­de, würd ich ihm eine Ohr­fei­ge ge­ben.«

Ihr Ge­sicht war rö­ter, als ich es je ge­se­hen hat­te. Sie deck­te es gleich wie­der zu und brach in ein hef­ti­ges La­chen aus; und nach­dem sich die­ser An­fall zwei- oder drei­mal wie­der­holt hat­te, aß sie ru­hig wei­ter. Ich be­merk­te, dass mei­ne Mut­ter wohl lä­chel­te, wenn Peg­got­ty sie an­sah, aber im­mer erns­ter und nach­denk­li­cher wur­de. Mir war gleich auf­ge­fal­len, wie sehr sie sich ver­än­dert hat­te. Ihr Ge­sicht war im­mer noch sehr hübsch, aber es schi­en all­zu zart und sehr ver­grämt. Ihre Hand war so weiß und dünn, dass sie mir fast durch­sich­tig vor­kam. Aber jetzt trat noch eine an­de­re Ver­än­de­rung dazu, wie mir auf­fiel. Sie schi­en näm­lich sehr be­klom­men und auf­ge­regt. End­lich leg­te sie ihre Hand lie­be­voll auf die ih­rer al­ten Die­ne­rin und sag­te: »Lie­be Peg­got­ty, du ver­hei­ra­test dich jetzt nicht?«

»Ich, Ma’am«, er­wi­der­te Peg­got­ty und sah sie mit großen Au­gen an, »Gott be­wah­re, nein.«

»Jetzt noch nicht«, bat mei­ne Mut­ter zärt­lich.

»Nie«, rief Peg­got­ty aus.

Mei­ne Mut­ter er­griff ihre Hand und sag­te:

»Ver­lass mich nicht, Peg­got­ty; blei­be bei mir. Es wird viel­leicht nicht mehr lang nö­tig sein. Was soll­te ich ohne dich an­fan­gen!«

»Ich dich ver­las­sen, Herz­blatt«, rief Peg­got­ty. »Nicht um den gan­zen Erd­ball und sei­ne Frau. Wer hat das nur in das klei­ne tö­rich­te Köpf­chen ge­setzt?« Peg­got­ty war aus al­ter Zeit her ge­wohnt, mit mei­ner Mut­ter manch­mal wie mit ei­nem Kin­de zu spre­chen.

Mei­ne Mut­ter gab ihr kei­ne Ant­wort au­ßer ei­nem ein­fa­chen »Dank dir.«

»Ich Sie ver­las­sen? Das möcht ich se­hen. Peg­got­ty von Ih­nen fort­ge­hen, da möch­te ich sie mir beim Kra­gen neh­men. Nein, nein«, und Peg­got­ty schüt­tel­te den Kopf und ver­schränk­te die Arme. »Peg­got­ty nicht, mein Schatz. Frei­lich sind ein paar Kat­zen da, die sich drü­ber freu­en wür­den, aber sie sol­len sich nicht freu­en. Sie sol­len sich nur är­gern. Ich blei­be bei Ih­nen, bis ich ein al­tes buck­li­ges Weib bin. Und wenn ich zu taub und zu lahm und zu blind bin und eine Mum­mel­grei­sin ohne Zäh­ne, so geh ich zu mei­nem Davy und bit­te ihn, mich auf­zu­neh­men.«

»Und ich, Peg­got­ty«, sag­te ich, »ich wer­de froh sein, wenn du kommst, und wer­de dich emp­fan­gen wie eine Kö­ni­gin.«

»Gott seg­ne das gute Herz!« rief Peg­got­ty. »Ich weiß es ja.« Und sie küss­te mich schon im Voraus in dank­ba­rer Er­kennt­lich­keit für mei­ne künf­ti­ge Gast­freund­schaft. Dann deck­te sie sich wie­der das Ge­sicht mit der Schür­ze zu und lach­te noch ein­mal über Mr. Bar­kis; nahm dann das Baby aus der Wie­ge und schau­kel­te es, räum­te den Mit­tags­tisch ab und kam in ei­ner an­de­ren Hau­be her­ein mit ih­rem Ar­beits­käst­chen, dem El­len­maß und dem Stück­chen Wachs­licht. Ganz wie ehe­mals.

Wir sa­ßen beim Ka­min und un­ter­hiel­ten uns köst­lich. Ich er­zähl­te ih­nen von Mr. Cre­akles Stren­ge, und sie be­dau­er­ten mich sehr. Ich er­zähl­te ih­nen, was für ein fa­mo­ser Bur­sche Steer­forth sei und wie er mich in Schutz neh­me, und Peg­got­ty sag­te, sie wür­de zwan­zig Mei­len weit ge­hen, um ihn zu se­hen. Ich nahm den Säug­ling, als er wie­der auf­wach­te, auf mei­ne Arme und wieg­te ihn zärt­lich. Als er wie­der schlief, setz­te ich mich dicht ne­ben mei­ne Mut­ter, wie ehe­mals, und schlang die Arme um ih­ren Leib, leg­te mei­ne klei­ne rote Wan­ge auf ihre Schul­ter und fühl­te wie­der ihr schö­nes Haar mich um­we­hen wie ein En­gels­fit­tich und war sehr glück­lich. Wäh­rend ich so da­saß und ins Feu­er blick­te und al­ler­hand Bil­der in den glü­hen­den Koh­len sah, kam es mir fast vor, als wäre ich nie­mals von zu Hau­se weg ge­we­sen, und Mr. und Miss Murd­sto­ne er­schie­nen mir wie Ge­stal­ten, die ver­schwin­den müss­ten, wenn das Feu­er aus­gin­ge, und von al­len mei­nen Erin­ne­run­gen sei nichts wahr und wirk­lich, au­ßer mei­ner Mut­ter, Peg­got­ty und mir selbst.

Peg­got­ty stopf­te, so­lan­ge sie noch se­hen konn­te, und saß dann da, den Strumpf wie einen Hand­schuh über die lin­ke Hand ge­zo­gen und die Na­del in der an­de­ren, be­reit, so­fort wie­der an­zu­fan­gen, so­bald Licht kom­men wür­de. Ich kann mir nicht er­klä­ren, wes­sen St­rümp­fe Peg­got­ty ei­gent­lich im­mer flick­te, und wo­her die­se Un­mas­sen von not­lei­den­den St­rümp­fen nur ka­men.

»Ich möch­te ger­ne wis­sen«, sag­te Peg­got­ty, über die manch­mal ein An­fall selt­sa­men Wis­sens­durs­tes, ganz un­er­war­te­te Din­ge be­tref­fend, kam, »was aus Da­vys Groß­tan­te ge­wor­den ist.«

»Gott, Peg­got­ty«, be­merk­te mei­ne Mut­ter und er­wach­te wie aus ei­nem Traum, »was du für dum­mes Zeug re­dest.«

»Nun ja, aber ich möcht es doch gern wis­sen, Ma’am«, sag­te Peg­got­ty.

»Wie kann dir nur so je­mand in den Kopf kom­men? Kannst du dir nie­mand an­ders aus­su­chen?«

»Ich weiß nicht, wies kommt«, mein­te Peg­got­ty, »es liegt wahr­schein­lich an mei­ner Ein­fäl­tig­keit. Aber mein Kopf kann sich die Leu­te nicht aus­su­chen. Sie kom­men und ge­hen und sie kom­men nicht oder blei­ben, ge­ra­de, wies ih­nen ge­fällt. Ich möch­te wirk­lich ger­ne wis­sen, was aus ihr ge­wor­den ist.«

»Wie al­bern du nur bist, Peg­got­ty. Man soll­te wirk­lich mei­nen, du wünsch­test wie­der einen Be­such von ihr.«

»Gott sei vor«, rief Peg­got­ty.

»Also sprich nicht von sol­chen läs­ti­gen Din­gen«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Miss Betsey sitzt ge­wiss in ih­rem Häu­schen am Meer und geht gar nicht aus. Je­den­falls wird sie uns schwer­lich noch ein­mal heim­su­chen.«