Stalins Alpinisten

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Stalins Alpinisten
Font:Smaller АаLarger Aa

CÉDRIC GRAS







STALINS ALPINISTEN





Der Fall Abalakow





Aus dem Französischen von Manon Hopf












INHALT





Abalakow







ERSTER TEIL: PICKEL UND SICHEL







Aus bürgerlichem Hause







Das Fontainebleau von Sibirien







Erbauer der strahlenden Zukunft







Die Gesellschaft für proletarischen Tourismus







Die 29. Einheit







Pik Stalin







Pik Lenin







Eroberung des Nützlichen







Schiffbruch am Khan Tengri







ZWEITER TEIL: DIE ORGANISATION DER KONTERREVOLUTIONÄREN ALPINISTEN







Frohes Jahr 1937!







Ein Bruder unter Arrest







Der große Zusammenbruch







Artikel 58







Die Kaukasische Front







Auf zum Himalaya!







Verbrechen oder Unfall?







DRITTER TEIL: WITALI ABALAKOW







Spartak Moskau







Tauwetter







Gipfel des Sieges







Everest-Nordwand







Das Scheitern des

Kommunism







Patriarch







Acht sowjetische Frauen







Everest 1982







Epilog







Dank







Quellen







Bildnachweis








Doch nichts Besseres als eine Wahrheit, die unwahrscheinlich wirkt!





Stefan Zweig,

Magellan





ABALAKOW



Lange habe ich mich gesträubt. Ich habe schon immer nach der Geschichte hinter der Geschichte gesucht: Stalin, den Gulags und allem, was im Westen als exotisch dargestellt wird. Ich bin kreuz und quer durch Russland gereist, um es heute klarer zu sehen. Ich wollte nie, wie es gegenwärtig allzu üblich ist, mich der berühmten Namen Verstorbener bedienen, um eine fade Reise in der heutigen Zeit aufzuwerten. Ich weigerte mich, die Geschichte heranzuziehen, um eine Gegenwart, die manchmal nicht an die Vergangenheit heranreicht, interessanter zu machen. Doch man interessiert sich nicht ungestraft für Eurasien. Das rote Jahrhundert lauert überall. Die Sowjetunion hat eine gewaltige Dramaturgie entwickelt, erschütternde Schicksale und launische Fügungen. Das wird immer ihr größter Erfolg bleiben. Aus ihr werden die Schriftsteller nach wie vor ausgiebig schöpfen.



Wenn ich heute der Versuchung erliege, Schwarzweißbilder heranzuziehen, dann nicht wegen der erstbesten Anekdote. Diese Geschichte lässt mich nicht mehr los, weil sie jede meiner Leidenschaften anspricht. All die Jahre im Osten, die Berge, die mich als Heranwachsenden stets begleiteten, meine Reisen durch Zentralasien. Sie kam zu mir wie eine Katharsis, wie eine Selbstverständlichkeit. Und mir wurde bewusst, wenn nicht ich, würde sich niemand sonst dieser unglaublichen Geschichte annehmen. Ich wollte nicht, dass sie im Dunkeln verschwindet. Schließlich fühlte ich mich verpflichtet, sie ans Licht zu bringen. Daraufhin versank ich jeden Tag tiefer in fiebrige Recherchen, gefesselt von diesen verrückten Lebensgeschichten aus jenen Jahrzehnten, die nicht weniger verrückt waren, in einem Land, das es schon immer war.



So kam es, dass ich eines Tages im Herbst in der ohrenbetäubenden Metro der Hauptstadt aller russischen Staaten saß. An der Station Frunsenskaja, die in der Moskwa-Schleife liegt, komme ich wieder an die frische Luft. Ich blicke auf Beton und große Bäume, die ihr welkes Laub abwerfen. Ich frage nach der Bolschaja Pirogowskaja. Dort befindet sich heute das Staatsarchiv. Zügigen Schrittes versuche ich mir nochmal klarzumachen, warum ich hier bin. Warum beschäftige ich mich seit so vielen Monaten mit diesen beiden in Vergessenheit geratenen Alpinisten? Was bringt einen dazu, im Leben Unbekannter herumzuschnüffeln? Und mit welchem Recht übrigens, wenn nicht dem, der wahren Geschichte auf den Grund zu gehen?



Die Akademiker in meinem Bekanntenkreis prophezeiten mir Schwierigkeiten auf allen Ebenen. „Du wirst sehen“, sagten sie voraus, „die Akten über die Säuberungen sind unter Verschluss. Russland unter Putin kehrt die Opfer des Stalinismus unter den Teppich. Man wird dir nicht das Geringste zeigen.“ Ich hatte mich also auf die Willkür der Beamten eingestellt, darauf, dass ich alle möglichen Stempel sammeln müsste, dass ich meine gesammelten Russischkenntnisse und mein gesamtes Wissen über die internationale Bürokratie für diese außergewöhnliche Spurensuche brauchen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, über diese beiden Kerle zu schreiben, ohne das Kafkaeske ihrer Prozesse gelesen, ohne den Geruch des Papiers eingeatmet zu haben, das man zu lügen und zu töten nötigte.



Zuvor hatte es mich einige Mühe gekostet, die Akte P-8594 ausfindig zu machen, in ihr befand sich der Schlüssel. In der Lubjanka, dem historischen Hauptquartier des KGB, war sie nicht mehr. Sie war ins Staatsarchiv verlegt worden, und ich hatte gleich einen detaillierten Antrag gestellt. Dann musste ich Geduld haben. Ein oder zwei Monate lang. Als die Antwort auf sich warten ließ, rief ich an. Ich fragte eine knarzende Stimme nach der Abteilung für die „Opfer der Säuberungen“ des Stalinschen Terrors. „Wir haben keine anderen“, erwiderte schlechtgelaunt eine Dame. Übrigens, mein Antrag sei jetzt bewilligt, ich könne kommen, wann ich wolle.



Da bin ich nun, in der Bolschaja Pirogowskaja, vor diesem riesigen sowjetischen Gebäude voll mit sortierten, schrecklichen Geheimnissen, am frühen Morgen eines Tages, dessen Himmel ich nicht zu Gesicht bekommen werde. Auf der rechten Seite der Eingangshalle kann man über ein altes Telefon die Archivare kontaktieren. Ich wähle eine der Nummern auf der Liste, die daneben an der Wand hängt. Es klingelt, worauf eine Stimme grüßt, wie man in Russland eben grüßt. Sie grüßt nicht. Sie lenkt, sie befiehlt, sie ordnet an. Sie kündigt mich bei der Zuständigen für die Passierscheine an, die mit Mühe meinen ausländischen Namen dechiffriert.



Dann soll ich den Innenhof durchqueren bis zum Gebäude 7. Dort bedeckt das erste gefallene Laub die Schwelle eines Eingangs, der hundert anderen gleicht. Im zweiten Stock erwartet mich zwischen hohen Regalen meine Ansprechpartnerin – freudlos, aber hilfsbereit. Das Zimmer ist schlecht beleuchtet. Ich setze mich an einen kleinen Tisch in der Nähe eines Fensters, das ein wenig Licht hereinlässt. Sie bringt mir die Akte. Dann bittet sie mich mit Nachdruck „nichts zu stehlen“, um anschließend merkwürdigerweise zu erwähnen, dass sie sich gegen Mittag mit einem Agenten des FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit) treffen werde. Ich sage, das sei perfekt. Dass der FSB mich wahrscheinlich besser kennt als ich mich selbst. Ich werde allmählich vergesslich, nachdem ich schon seit fünfzehn Jahren dieses Land bereise.



Darauf lässt sie mich allein.



Hier war ich also. Seit acht Monaten verfolgte ich die Spur dieser beiden Männer. Der Brüder Abalakow.



Ich öffnete die Akte. Ich warf einen Blick auf die Liste derjenigen, die bereits vor mir dagewesen waren. Nur zwei Namen von vor ungefähr zehn Jahren. Sie waren mir schon unter Artikeln aufgefallen, die sich mit dem Alpinismus in der UdSSR beschäftigten. Sonst niemand, zumindest seit der Verlegung der Akte ins Staatsarchiv.



Dann stürzte ich mich wissensdurstig auf 350 Seiten Untersuchungsmaterial. Ich hatte Hunderte von Fragen. Aus welchen Gründen wurde Witali Abalakow, der bekannteste sowjetische Alpinist, Opfer des Großen Terrors? Hatte er unter Folter seine Seilkameraden denunziert? Und vor allem: Hatte er seinen eigenen Bruder verraten? Jewgeni Abalakow, Stern am Himmel des Alpinismus, heldenhafter Bezwinger des gewaltigen Pik Stalin.

 



Ich hatte mich so lange danach gesehnt, Licht in diese Geschichte zu bringen.



Doch war ich recht bald froh, wirklich erst am Ende meiner Recherchen in die Archive gegangen zu sein. Denn um diese Geschichte richtig zu verstehen, muss man in das Sibirien des beginnenden letzten Jahrhunderts zurückkehren.





ERSTER TEIL





AUS BÜRGERLICHEM HAUSE



Wir befinden uns im Jahr 1920. Der Bürgerkrieg hat gerade Sibirien erfasst. Das heilige Russland bricht in seine fahlen und unermesslichen Weiten auseinander. Die Weißen drängen die Roten zurück, die Roten metzeln die Weißen nieder und die Bolschewiki haben gerade Krasnojarsk erobert, eine verschlafene Holzstadt am Ufer des Jenisseis, mit Schildern auf Altslawisch, zerzausten Muschiks

1

 und chinesischen Waren. In einem stattlichen Haus in der damaligen Leninstraße – oder heißt sie noch Straße Mariä Verkündung? – sitzt eine ungewöhnliche Familie am Abendtisch, als es laut an der Tür klopft. Es trommelt sogar, und als die Tür aufgeht, erscheint im Türrahmen ein Soldat der Revolution und zeigt stolz einen Haftbefehl.



Das Dokument mit dem Stempel der neuen Herrscher des Landes erwähnt den Namen Iwan Abalakow, Eigentümer des Hauses. Er ist ein angesehener Geschäftsmann, somit ein Volksfeind schlechthin. Sein Schicksal ist besiegelt. Seit Ausbruch der Oktoberrevolution weiß man nur zu gut, wie diese abendlichen Besuche enden. Wer zur Bourgeoisie gehört, wird im Eilverfahren hingerichtet. Zwei junge Heranwachsende stürzen zum Eingang, um zu verhindern, dass dieser Iwan Abalakow abgeführt wird. Er ist ihr Onkel väterlicherseits und hat sie bei sich aufgenommen. Die beiden heißen Witali und Jewgeni, vierzehn und dreizehn Jahre alt, zwei Waisen, deren hohe Bestimmung noch niemand erahnt, während sich der angestaute Klassenhass unter dem Joch der Zaren entlädt.



Der Rotgardist beschließt, Onkel sowie Neffen wegen Behinderung der Arbeiter- und Bauernjustiz zu verhaften, weil er, der einfache Bürger, von jetzt an alle Rechte hat. Also greift er sich die Sprösslinge dieser „kapitalistischen“ Patchworkfamilie. Wahrscheinlich war dies der Abend, an dem Witali und Jewgeni auf einmal erwachsen wurden, als sich das kommunistische Ideal ihren jugendlichen Köpfen derart unrühmlich zeigte. Die Tür schließt sich vor ihrer mütterlichen Tante, der Frau, die sie großzieht, die keine anderen Kinder hat und die nicht aufgibt. Sie bricht nicht vor Ikonen und Kerzen kniend in Tränen aus. Nein, lieber holt sie nachts auf der Straße den mutigen Soldaten ein. Sie lässt, während der Soldat scheinbar die Sterne betrachtet, Wodka und Sakuski

2

 in seine Manteltasche gleiten. Schließlich hat auch die Revolution eine menschliche Seite. So rettet sie die beiden Brüder, die ins Haus zurückgehen, um einstimmig für das Heil ihres Onkels zu beten, der bald zum Tode verurteilt wird. Seine Strafe wird wie durch ein Wunder umgewandelt in Zwangsarbeit im Lager, und im Dezember desselben Jahres wird er sogar begnadigt. Die Bolschewiki haben ihre Meinung geändert, denn sie brauchen gebildete Leute. Man weist ihm eine Stelle als Buchhalter in einer Fabrik zu und deklassiert, proletarisiert und entbürgerlicht, gehört er von nun an zu den fleißigen Arbeitermassen.



Diese Szene habe ich aus einem Artikel, der erst 2018 erschienen ist und den ich im

Arbeiter von Krasnojarsk

 ausfindig gemacht habe, einem im Sterben liegenden Blatt, das von einigen Pensionierten geführt wird, die über eine Welt lamentieren, die die ihrige vergisst. Eine alte Dame brachte darin einen Zeugenbericht aus zweiter Hand über eine ferne Freundin, deren Großmutter mit der Tante der Abalakows verkehrte … Wahrscheinlich bin ich der Einzige gewesen, der diese unvollkommene Erinnerung in der letzten Ecke eines kaum gelesenen sibirischen Blattes fieberhaft verschlungen hat. Aber mit welcher Erleichterung! Sie ließ eine Kindheit in einem neuen Licht erscheinen, die von allen anderen sowjetischen Quellen politisch kompatibel erzählt wurde. Und diesen Fallen galt es auszuweichen. Laut offizieller Literatur sollten die Helden gleich mit dem ersten Schluck Muttermilch Bolschewisten gewesen sein. Aber als treue Söhne von Kosaken konnten die Brüder Abalakow nur in Liebe zum Zaren und im Weihrauch der orthodoxen Kirchen erzogen worden sein. Hier musste man beginnen.



Die sowjetische Geschichtsschreibung lässt nämlich, beschämt über die bürgerliche Herkunft ihrer jungen Helden, gerade diese Ereignisse diskret aus. „Es waren harte Zeiten“, ist die Ausrede, „wegen der Koltschak

3

-Truppen.“ Einer erwähnt, dass „die Abalakow-Brüder im Dorf, beim Flößen, im Haus arbeiten mussten“. Er hütet sich davor zu erwähnen, dass der Grund dafür die Konfiszierung der Dampfmühle und des Geschäfts ihres Onkels im Zuge seiner Verhaftung war. Das Wohngebäude, ein Blockhaus, damals auf 9471 Rubel geschätzt und damit ein Vermögen, wurde verstaatlicht. Eine bolschewistische Verwaltung hat sich dort niedergelassen und es ist schwer nachzuvollziehen, wo die bisher privilegierten Waisen ab diesem Zeitpunkt leben.



Es ist also ein schwieriger Start in einer Gesellschaft, in der nur die soziale Herkunft zählt. Eine Schande, über die in der Presse der UdSSR gnadenlos geschwiegen wurde; man kann auch nicht damit rechnen, dass die Brüder Abalakow unter diesen Umständen von ihrer Kindheit erzählen, die auf brutale Weise in Armut endete. Sie selbst behaupteten immer, dass sie von einfachen Leuten abstammten. Sie hatten ihr Leben lang keine andere Wahl, als ihre Abstammung von „Geschäftemachern“ zu leugnen, und damit ihren Onkel und ihre Tante ebenso wie ihre Eltern, die sie kaum kannten. Schenkt man ihnen Glauben, so ist ihr Vater Jäger oder Holzfäller gewesen. Doch die Ermittlungsarbeiten, die das Volkskommissariat für Inneres der UdSSR, das schreckliche NKWD, während der Stalinschen Säuberungen durchführen ließ, belegen das exakte Gegenteil. Sie waren die Söhne eines wohlhabenden Kaufmanns, der Goldförderungen am unteren Jenissei besaß. Heute weiß man, dass sie den Namen eines Geschäftsmannes der dritten Gilde trugen, der mit handwerklichen Erzeugnissen, Fellen und Pelzen handelte. Was ihre Mutter betrifft, die bei Jewgenis Geburt im Kindbett starb, weiß man, dass sie aus Irkutsk stammte, aus der Familie Glotowych, Reeder von Dampfschiffen.





DAS FONTAINEBLEAU VON SIBIRIEN



Der Name Abalakow hat zwei Gesichter, es ist der Familienname zweier Helden, zu zwei Vornamen. Witali und Jewgeni, zwei Jungs, die später in der gesamten UdSSR als die „Brüder Abalakow“ bekannt sein werden, als die, die die Wolkenmeere durchstreifen. Es wird der Tag kommen, an dem der eine sich bereit machen wird, den Everest zu besteigen, während die Witwe des anderen ihren „Eroberer der Substratosphäre“ beweinen wird. Die Propagandapresse konnte dem sowjetischen Leser nicht erklären, dass diese Männer die Oktoberrevolution zunächst gehasst hatten. Die Ikonen des Kommunismus konnten nichts anderes als echte Proletarier sein. Von ihrer Jugend hat sie also nur ihre Eskapaden in den legendären Stolby im Gedächtnis behalten.



Stolby

 bezeichnet so etwas wie „Säulen“, „Blöcke“ oder „Boulder“. Man findet dort ein Archipel aus Syenitfelsen, die in der unmittelbaren Nähe von Krasnojarsk aus dem Boden ragen. Weil sich der Ort gut zum Klettern eignet, wird er oft als das Fontainebleau von Sibirien bezeichnet, ich muss aber sagen, dass die Stolby bei Weitem den berühmten Sandstein der Pariser Umgebung übertreffen. Man wandert dort zwischen Felswänden, in denen die Kletterer hängen, zwischen verfallenen Gräbern und herumschweifenden Bären. Die jungen Russen kommen hierher, um wochenlang am Fuß der Kletterrouten zu kampieren, die sie so lange wiederholen, bis sie sie in- und auswendig kennen. Heute noch heißt einer dieser schwindelerregenden Felsen, an dem sie trainieren, der Kommunar, und man kann ihn über die Abalakow-Route besteigen. Über den Stolby schwebt überall der schützende Geist Witalis und Jewgenis.



Die Stolby strahlen eine nonkonformistische Atmosphäre aus, etwas Anarchistisches, vergleichbar vielleicht mit dem ursprünglichen nordamerikanischen Yosemite. Ein subversiver Geist ist dort spürbar, der auf das Zarenreich zurückgeht, als das Klettern Seite an Seite mit der Utopie in seinen Kinderschuhen steckte. Die Utopie, die damals in Mode war, hieß „Sozialismus“. Die Deportierten und Anarchisten trafen sich im Schutz der Taiga und der Höhlen. Schenkt man den sowjetischen Autoren, die ich bis zum Überdruss gelesen habe, Glauben, malten diese in Großbuchstaben „Nieder mit der Zarenherrschaft!“ oder „Der Gouverneur ist ein Ganove!“ oben auf die Felsen. Die Polizei konnte nicht anders, als mit der Pistole zu drohen, damit sie diese Parolen, die außerhalb der Reichweite der Polizei lagen, selbst wieder entfernten. Wenn sie nicht gleich auf die knallroten Symbole feuerten, die die makellose Landschaft befleckten.



Naja, natürlich wurde das leicht übertrieben dargestellt, damit der Alpinismus besser in die sowjetische Mythologie hineinpasst. Dass sie den ersten roten Dissidenten Schutz geboten haben, verlieh den Felsformationen einen fast heiligen Charakter und adelte die Brüder Abalakow. Ich bezweifle, dass sich Witali und Jewgeni dort an den Debatten über den Klassenkampf beteiligten. Ich will aber gerne glauben, dass sie in ihrem Alter, in den Felsen hängend, andere Wege suchten als jenen der Diktatur des Proletariats.



Die einzige Brücke über den Jenissei war der Transsibirischen Eisenbahn vorbehalten, also mussten sie jedes Mal den breiten Fluss mit einem Kahn überqueren und dann etwa zwanzig Kilometer zu Fuß zurücklegen. In den Stolby angekommen, biwakierten sie unter hohen Bäumen und Wänden mit einer Unbekümmertheit, die an Leichtsinn grenzte.



Sicher ist, dass ihr Schicksal hier seinen Ursprung nimmt, in diesem Chaos aus Syenit, das durch die Baumkronen scheint. Zumindest in diesem Punkt stimmt die offizielle Überlieferung überein. Die Brüder Abalakow verbrachten ihre Jugend in diesem Gestein, an das sie sich schmiegten und wo sie der Schwerkraft zu trotzen und ihre Kunststücke über dem Abgrund zu vollbringen lernten. Angeblich verpassten seine Kameraden Jewgeni den Spitznamen „Tamias“. Das

Tamias sibiricus

 ist ein kleines endemisches Streifenhörnchen. Denn Jewgeni erschloss Routen dort, wo bisher noch keine Galosche die Flechten vom Felsen gekratzt hatte. Witali, obwohl um ein Jahr älter, folgte ihm, so gut er konnte. Auf den wenigen Fotografien aus dieser Zeit ist er weniger kräftig und schlanker. Er selbst wird sich später als beinahe kränklich beschreiben und sagen, dass er sein Überleben einzig seinem eisernen Willen verdanke, der legendär werden sollte. Ihre Tante ließ ihn mütterlich sibirischen Kräutersud trinken. Schon damals ist der kleine Jewgeni derjenige, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er ist der Jüngste, der eindeutige Liebling, und auch ich bin in diese Falle getreten und habe mich dabei ertappt, dass ich Jewgeni Witali vorziehe. Ich habe den Künstler Jewgeni bewundert, den seiltänzerischen Kletterer, den untadeligen Helden. Und ich habe vor dem Ingenieur Witali, dem Schweigsamen, der beinahe zum Gulag verurteilt wurde, das Gesicht verzogen. Obwohl mich eigentlich ein Männerlächeln kaum berührt. Jewgeni war bekannt für sein freundliches Gesicht, und sein Bruder sollte sich sein Leben lang damit zufriedengeben, bei allem immer der Zweite zu sein, bei den Frauen, bei Stalin, dem Volk und sogar vor dem Tod.





ERBAUER DER STRAHLENDEN ZUKUNFT



Nach dieser vom Klettern und vom Aufstand der Bolschewiki geprägten Kindheit begeben sich die Brüder Abalakow nach Moskau. Eine Reise, die heute noch vier Tage und vier Nächte mit der Transsibirischen Eisenbahn dauert. All die Ebenen, der Ural und wieder Ebene um Ebene und endlich die neue Hauptstadt der Sowjets. Witali packt 1925 seine Koffer. Er, der in Krasnojarsk in ihrem in eine Werkstatt umgestalteten Zimmer Ski anfertigte, wird an der Mendeljew-Universität an der Fakultät für Mechanik zugelassen. Ein Jahr später legt Jewgeni seinen Schülerkittel ab, um am Moskauer Kunstinstitut zu studieren, wo er auf die lobende Empfehlung eines Zeichenlehrers der Schule Nummer 3 von Krasnojarsk hin aufgenommen wurde. Seit seiner Kindheit zeichnet er die eingeschneite Taiga, Stillleben und erstaunliche Selbstportraits, auf Schulhefte skizziert, so wie ein Meister vor seinem Spiegel.

 



In Moskau kennt niemand die beiden sibirischen Studenten und alles deutet darauf hin, dass sie sich dort, begünstigt durch die Anarchie, eine neue Biografie erfinden. Eine von bürgerlicher Herkunft und gesellschaftlich geächteter Verwandtschaft bereinigte Vergangenheit. Ihr Onkel hat ihnen sehr ans Herz gelegt, sich unter die Massen zu mischen, die den Kommunismus vorbereiten. Die Brüder Abalakow stellen sich überall als einfache und seit Langem verwaiste Kosakensöhne vor. Sie fallen niemandem auf. Die Macht der Sowjets scheint von Dauer zu sein, aber die Neue Ökonomische Politik des verstorbenen Lenin ist in vollem Gange. Durch sie kommen einige Händler vorläufig zu Wohlstand und die Stadt brodelt im Rhythmus der holprigen Straßenbahnen.



Zwanzig Jahre alt in einem Land zu sein, das mit seiner schrecklichen Vergangenheit reinen Tisch macht, wie berauschend musste das sein! Bei der Ankunft der Abalakows verdrehen die Trugbilder der Oktoberrevolution allen die Köpfe. Ihnen steht die strahlende Zukunft bevor: Alles muss neu gemacht werden, alles ist möglich! Ich habe guten Grund zu glauben, dass in Witali und Jewgeni eine innere Umwälzung stattfindet. Auf einmal öffnen sie sich dieser Revolution, die ihren Onkel deklassiert und ihr Vermögen verstaatlicht hat. Ihr Ausbruch ist zwar brutal gewesen – wie hätte es auch anders sein können? –, aber ihr Zweck ist rein. In den Gemeinschaftswohnungen leben junge Leute, die darauf drängen, eine vorbildliche Zukunft zu entwerfen. Auch die Brüder Abalakow engagieren sich bei der Erbauung dieses siegreichen Sozialismus. Witali widmet sein konzentriertes und kartesianisches Wesen dem Fortschritt. Die UdSSR spricht von nichts anderem als von einer materiellen Zukunft, von Industrie und Fabriken. Man braucht tatkräftige Arbeiter und Konstrukteure mit Visionen …



Jewgeni seinerseits taucht in eine von jeder konservativen Last befreite Gesellschaft ein. Man hält sich für avantgardistisch. Die Kunst darf nicht mehr allein der Bourgeoisie vorbehalten sein. Die kulturelle Revolution ist auf dem Vormarsch. Sie fasziniert bis in den Westen, und das bis heute. Es sind sozusagen die Goldenen Zwanziger der Sowjetunion. Ein Auflodern, das bald wieder erlischt. Als Jewgeni nach Moskau kommt, ist das alles schon vorbei, Marc Chagall ist emigriert, Kasimir Malewitsch steht in der Kritik. Lenin ist seit zwei Jahren tot und einbalsamiert. Es ist schon das Ende des Futurismus, des Kubismus und jener Gemälde, die keine mehr sind. Im Hinterhalt lauert der Sozialistische Realismus. Jewgeni wird in den Kurs von Wera Muchina aufgenommen, der zukünftigen Bildhauerin der Skulptur

Arbeiter und Kolchosbäuerin

. Diese wird emblematisch für die stalinsche Bildgebung werden. In den Quellen wird diese frühe Begegnung zweier Figuren des sowjetischen Pantheons hervorgehoben, und ich habe hundertmal die lobenden Worte Wera Muchinas über den ernsten, konzentrierten Jewgeni Abalakow gelesen, über den sie niemals die geringste kritische Bemerkung machen musste. Später wird sie ihre Wertschätzung hinsichtlich seines „Talents“ und seiner „großen Bescheidenheit“ wiederholen. Hätte sie sich überhaupt abfällige Kommentare erlauben dürfen?



An der Universität lernen die Brüder Abalakow die Grundlagen einer neuen Ordnung kennen. Die Revolution behauptet, einen Musterbürger zu schmieden, so wie Gott den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Sie ist der Urknall einer neuen Welt, eines Universums, das sich im Namen der Internationalen immer weiter ausdehnt. Witali und Jewgeni gehören vielleicht nicht gerade zu denen, die den Marxismus Wort für Wort befolgen, und doch wird die UdSSR ihr Land, und nicht mehr Russland, denn die Sowjetunion ist ihre Epoche. Man muss verstehen, dass ein Ort nichts ist ohne ein Datum, dass das Eurasien der Zwanzigerjahre heute ein versunkener Kontinent ist. Und dass die beiden sich darauf vorbereiten, das Banner einer wunderbaren Utopie auf den höchsten aller Gipfel zu setzen.



Ich erinnere mich an eine großartige Passage in Iwan Bunins

Das Leben Arsenjews

. Eine Kämpferin von großer Schönheit, die sich von der Natur übervorteilt sieht, versucht sich zu verstümmeln, um mehr Gleichheit unter ihresgleichen herzustellen. Ich habe nie mehr eine passendere Allegorie für diese fanatische und selbstzerstörerische, jedoch Berge versetzende Revolution gefunden. Können wir uns das vorstellen, wir, für die der Sozialismus vor allem eine Art ist, unseren Lebensstandard zu rechtfertigen? Wir, die das Elend beklagen und dabei auf nichts verzichten wollen.



Ich habe keinen Zweifel, dass Witali in den 1920er-Jahren in einer Art streberhaftem Wettstreit lebt, während Jewgeni eine gewisse Moskauer Boheme für sich entdeckt. Sie bleiben jedoch die besten Komplizen, sobald es um ihre Eskapaden geht. Die sich in de