Ich bin für dich da (E-Book)

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Ich bin für dich da (E-Book)
Font:Smaller АаLarger Aa


Cathrin Reisenauer, Nadine Ulseß-Schurda

Ich bin für dich da

Über die Gestaltung pädagogischer Beziehungen

ISBN Print: 978-3-0355-1128-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-1129-1

Zeichnungen: Eva Rust, www.evarust.ch

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Für alle Schülerinnen und Schüler, die

immer wieder bereit waren und sind, ihre

Erfahrungen mit uns zu teilen. Von euch

können wir am meisten lernen.

Almut Sopper

Bela Pfahl

Carina Walder

Emilia Jung

Nina Kappacher

Paula Wolf

Valentina Bramböck

Ohne euch würde es dieses Buch nicht so

geben. Für eure Offenheit, eure Ehrlichkeit

und euren Mut möchten wir uns von

ganzem Herzen bedanken.

«Every child deserves to be warmly greeted,

to have their name used positively,

and to be hugged, high-fived, hand-shaked,

or at least smiled at by their teacher, daily.

This is the bare minimum.»

Dwayne Reedl

INHALT

Vorwort

Einleitung

TEIL 1 ANERKENNUNG IN DER SCHULE – AUF DEN PUNKT GEBRACHT

TEIL 2 DIE GESTALTUNG PÄDAGOGISCHER BEZIEHUNGEN

1. Ich nehme dich wahr

2. Ich begegne dir

3. Ich trete dir gegenüber

4. Ich spreche dich an

5. Ich gebe dir Rückmeldung

6. Ich versage dir

7. Ich bin für dich da

TEIL 3 DIE AUFGABE BIN ICH

Eine Sammlung von Erinnerungsgeschichten

Literaturverzeichnis

VORWORT

«Mensch sein heißt ja niemals, nun einmal so und nicht

anders sein müssen – Mensch sein heißt immer, immer

auch anders werden können.»

Viktor Frankl

In diesem Buch werden sechs pädagogische Praktiken vorgestellt, die den Aufbau und die Gestaltung professioneller und entwicklungsfördernder Beziehungen durch Anerkennung in den Mittelpunkt stellen. Wer in der Schule erfolgreiches Lernen will, muss die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern gestalten. Pädagogische Beziehungen bewegen sich dabei im Spannungsfeld von Nähe und Distanz und stellen deshalb eine große Herausforderung in der Beziehungsgestaltung dar. Für die vorliegenden Betrachtungen ist der häufig verwendete Begriff der professionellen Distanz irreführend. So kommt das Wort Distanz vom Lateinischen distantia und bedeutet Abstand oder Entfernung; distare bedeutet auseinanderstehen, getrennt oder entfernt sein. Um eine pädagogische Beziehung zu beschreiben, ist die Betonung der pädagogischen Nähe wichtig. Deshalb werden hier Möglichkeiten aufgezeigt, wie eine professionelle Nähe in Schule und Unterricht aufgebaut werden kann und Lernen ermöglicht wird. Erfolgreiches Lernen verstehen wir dabei nicht als bloßes fachliches Lernen und Wissensaneignung, zum erfolgreichen Lernen in der Schule gehört auch Persönlichkeits- und Herzensbildung. Lernen und Bildung hat die Sicherung einer friedvollen und humanen Zukunft für uns alle zum Ziel. Dafür braucht es Menschen, die verantwortungsbewusst, beziehungsfähig, anerkennend und selbstbewusst sind. Darum sollen Schülerinnen und Schüler sich als Subjekt eigener Lernprozesse erleben und nicht als Objekt der Belehrung. Menschliche Entwicklung passiert nicht linear, kann auch nicht von außen gesteuert werden und geht von der sozialtheoretischen Einsicht aus, dass Individuen sich in und durch Beziehungen zu anderen Menschen entwickeln (vgl. Hegel, 1807/1970). In Schulen heutzutage zeigt sich vermehrt, dass Kinder und Jugendliche ein großes Bedürfnis nach Begegnung, Kommunikation und Gemeinschaft haben. Das pädagogische Handeln von Lehrerinnen und Lehrern hat also große Bedeutung, denn durch ihre LehrerInnen können SchülerInnen lernen, sich in einem Wir zusammenzufinden. Hannah Arendt (1972, 194) schreibt in Vita Activa, dass Macht eigentlich niemand alleine besitzt, «sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, wenn sie sich zerstreuen». Für Carolin Emcke (2016, 218) wäre das die schönste Beschreibung von einem Wir in einer demokratischen Gesellschaft: «Dieses Wir ist immer ein Potential und nicht etwas Unveränderliches, Messbares, Verlässliches. Das Wir definiert niemand alleine. Es entsteht, wenn Menschen zusammen handeln, und es verschwindet, wenn sie sich aufspalten.» Auch in einer Schule kann ein solches Wir entstehen, das Sich-in-Verbindung-bringen mit den mitlebenden Anderen wird zur zentralen pädagogischen Aufgabe. So wird ausgehend von einem humanistisch-systemischen Menschenbild der Mensch sowohl als Individuum wie auch als soziales Wesen betrachtet. Schule und Unterricht müssen von einer menschenrechtlich begründeten Pädagogik her gedacht werden. Lehrende stellen als pädagogisch Handelnde ein signifikantes Gegenüber für die Entwicklung und das Lernen von SchülerInnen dar. Anerkennung spielt für die Frage nach dem Aufwachsen in einer Demokratie eine zentrale Rolle. Eine Demokratie ist auf die humane Sozialisation ihrer Bürgerinnen und Bürger angewiesen und hat nicht nur rechtliche, materielle oder strukturelle Dimensionen, sondern auch persönliche. Die Erfahrung von Anerkennung ist die Voraussetzung für Selbstachtung und Freiheit. Annedore Prengel beispielsweise (2013, 13) bezeichnet es als «gesellschaftliche und persönliche Gestaltungsaufgabe», wenn Beziehungen in gesellschaftlichen Hierarchien Anerkennungsbeziehungen sein sollen. Wenn hier eben jene Anerkennungsbeziehungen betrachtet werden, dann geht es nicht darum, sich an unterschiedlichen pädagogischen «Schulen» auszurichten. Die Aufmerksamkeit wird auf das jeweilige Tun der Lehrerin und des Lehrers gelegt und es stellt sich dabei nicht die Frage nach richtiger oder falscher Denkweise. Das Kind steht im Mittelpunkt des Geschehens und all unserer Überlegungen als PädagogInnen, denn mit Janusz Korczak (2015, 27) gedacht ist das Kind ein Experte für Schule und Lernen: «Ohne Mitwirkung von Experten bewältigen wir das Ganze nicht, und Experte ist das Kind.» Bei aller Unterschiedlichkeit der Kinder, mit denen wir im täglichen Handeln zu tun haben, stellt sich die Frage, was beim Kind ankommen muss, um sich zu entwickeln und um ein tragfähiges Selbstkonzept auszubilden. Ausgehend von unseren Forschungen würden wir diese Frage kurzum damit beantworten, dass ein Kind Anerkennung erfahren muss.

EINLEITUNG

«Das Kind hat eine Zukunft, aber es hat auch eine

Vergangenheit: denkwürdige Ereignisse, Erinnerungen,

viele Stunden einsamer, wichtiger Überlegungen. Es

erinnert sich und vergißt, nicht anders als wir, es schätzt

und missachtet, kann logisch denken – und irrt sich aus

Unwissenheit. Bedächtig vertraut und zweifelt es.»

Janusz Korczak

Anerkennung, was ist damit gemeint? Ist Anerkennung wertschätzendes Verhalten von LehrerInnen, SchülerInnen wohlbehütet in eine rosarote Traumwelt gehüllt, ohne wirkliche Rückmeldung, sondern ausschließlich mit Lob und Bestärkung durch die Schulzeit zu führen? Ist Anerkennung das, was Kinder brauchen, um sich immer wohl und glücklich zu fühlen? Bekommen Kinder und Jugendliche dadurch Mut und Kraft, im Leben zu bestehen? Oder ist es die Aufgabe von uns LehrerInnen, Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg zu autonomen, kritischen Menschen, die Verantwortung übernehmen können, zu bestärken, ihnen Grenzen zu setzen und sie zu begleiten?

Eine wichtige Rolle auf dem Weg zu verantwortungsbewussten Erwachsenen spielt, in welcher Weise die Kinder von Lehrenden angesprochen werden: als fähige Menschen, die selbst wissen, was gut für sie ist, oder als unmündige Kinder, denen ein allwissender Lehrer gegenübersteht, als Personen, die lernen und sich weiterentwickeln wollen, oder als «Faulpelze», die sich in der Schule nur eine entspannte Zeit machen wollen und nur Unfug im Kopf haben? Durch die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche angesprochen werden, wird eine Realität mitgeschaffen, die in dieser Form davor unter Umständen noch nicht existiert hat, oder aber eine bereits existierende Realität weiter festgeschrieben. Zentral für die weiteren Ausführungen ist es, dass, wann immer LehrerInnen ihre SchülerInnen ansprechen, pädagogische Handlungen vollzogen werden. Dabei ist keine Wertung im Sinne von positiv oder negativ, absichtsvoll oder unabsichtlich, gerecht oder ungerecht impliziert. Vielmehr ist es wichtig zu verstehen, dass alles, was Lehrerinnen und Lehrer tun, wirkt.

 

Kinder brauchen für ihr Lernen und ihre Entwicklung ein Gegenüber, auf das sie sich verlassen können und das sie führt. Lehrerinnen und Lehrer können und sollen ein solches Gegenüber für Kinder sein. Im Folgenden werden pädagogische Handlungen betrachtet und systematisiert, damit Lehrerinnen und Lehrer Schlussfolgerungen über ihr eigenes Handeln ziehen und pädagogische Handlungen bewusster setzen können. Die sozialtheoretische Einsicht, dass erst Erfahrungen der Anerkennung es Individuen ermöglichen, Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung auszubilden, hat im pädagogischen Diskurs eine beachtliche Resonanz gefunden. Nicole Balzer und Norbert Ricken (2010, 35) gehen davon aus, dass «pädagogisches Handeln grundsätzlich mit Fragen und Problemen der Anerkennung verbunden ist». Ihre These untermauern sie, indem sie über Erfahrungsberichte von ermutigenden oder demütigenden Erziehungs- und Schulszenen verdeutlichen, dass wechselseitige Wahrnehmungen und Adresssierungen, Bewertungen und Rückmeldungen jeglicher Art im pädagogischen Geschehen «bedeutsam» sind.

Eine Antwort auf die Frage, welche Bedeutung Anerkennung für Schülerinnen und Schüler haben kann, geben die Kinder und Jugendlichen in diesem Buch selbst. Fast zweihundert Schülerinnen und Schüler im Alter von 10 bis 19 Jahren erinnerten sich an Begegnungen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern, dabei erzählen, überlegen und diskutieren sie, wie und wodurch ihre Lehrerinnen und Lehrer zu ihrer Entwicklung und zu ihrem Lernen beigetragen haben. Begegnungen, an die sich die Kinder und Jugendlichen sehr gerne und weniger gerne erinnert haben, wurden schriftlich festgehalten und von uns in einem Forschungsprozess analysiert. Theoretische Überlegungen von Judith Butler und Axel Honneth leiteten unseren Arbeitsprozess und konnten dadurch zum tieferen Verständnis des pädagogischen Handelns beitragen.1 Sechs Anerkennungspraktiken konnten rekonstruiert werden, die das pädagogische Handeln in der Schule grundlegend beschreiben und einen gestaltenden Einfluss auf pädagogische Beziehungen haben. Diese sechs Praktiken scheinen auf den ersten Blick sehr einfach, Handlungen eben, wie sie täglich in der Begegnung mit Menschen vollzogen werden. Durch die Schilderungen der Schülerinnen und Schüler wird aber bewusst, welche große Wirkmacht einzelne und kleine Handlungen haben, die Lehrerinnen und Lehrer in pädagogischen Räumen tätigen.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die sechs zentralen Praktiken: Wahrnehmen


Praktik
Anerkennen als Wahrnehmen Begegnen Gegenübertreten Ansprechen Rückmelden Versagen

Um zu zeigen, wie im zweiten Abschnitt dieses Buches die Gestaltung pädagogischer Beziehungen durch Anerkennungspraktiken beschrieben wird, betrachten wir hier kurz und beispielhaft die Praktik des Ansprechens: An einer ersten Erinnerungsgeschichte eines 12-jährigen Schülers zeigen wir auf, welch große Bedeutung es hat, wie und als wen Lehrerinnen und Lehrer Schülerinnen und Schüler ansprechen. Das Verb ansprechen impliziert auch, jemanden als etwas zu bezeichnen. Durch die Adressierung, das Ansprechen also, wird nicht nur eine existierende Realität beschrieben und bestätigt oder verstärkt, sondern es wird auch – und oft vor allem – eine Realität eingeführt, die noch nicht existiert. Es wird Schülerinnen und Schülern also aufgezeigt, was oder wer sie sind, und vielmehr noch, wohin sie sich bewegen können und was oder wer sie werden können. So wirken Lehrerinnen und Lehrer auf die Subjektwerdung des Kindes ein, das geschieht oft unbewusst.

Meine Erinnerung spielte in der 3. Klasse Volksschule. Ich, mein Freund Markus, meine Klasse und unsere Lehrerin Frau XY waren beteiligt. Die erste Mathe-SA hatten wir geschrieben. Ich saß ganz normal auf meinem Stuhl. Plötzlich stürmte mein Freund Markus zu mir und sagte: «Komm mal mit.» Ratlos ging ich mit ihm hinaus. Ich sah aus der Tür und es stand tatsächlich die ganze Klasse vor mir und sang: «Happy Birthday to you!» Ich war überrascht. Es gratulierte mir jeder einzelne, auch die Lehrerin, sie sagte: «Alles Gute, du großer Bursche!» Ich glaube, dieser Spruch meiner Lehrerin war der Anfang meiner Jugend.

In dieser kurzen Szene wird deutlich, wie sehr diese positive Ansprache Schülerinnen und Schüler beeinflusst. Es wird auch aufgezeigt, wie sehr Lehrerinnen und Lehrer über die Institution Schule hinauswirken und auf die Subjektwerdung des Kindes einwirken. Die Aussage «Ich glaube, dieser Spruch meiner Lehrerin war der Anfang meiner Jugend» markiert dies besonders. Der Schüler wird durch die Bezeichnung «großer Bursche» als etwas angesprochen, das er noch nicht ist, aber auf dem Weg ist, zu werden. Das folgende Beispiel eines 13-jährigen Schülers zeigt, dass durch Adressierungen aber auch eine Realität geschaffen werden kann, die ich als LehrerIn vielleicht gar nicht möchte. Man kann dabei auch an die zahlreichen Adressierungen denken, die die Rolle eines Klassenclowns oder eines Unruhestifters zementieren.

Ein Lehrer, der die Klasse neu übernimmt, möchte in seiner ersten Stunde die Namen der Schülerinnen und Schüler lernen. Dazu setzt er sich auf das Lehrerpult und spricht alle Schülerinnen und Schüler von der ersten Reihe bis zur letzten Reihe einzeln an. Er schaut die Kinder an, fragt sie nach ihren Namen, beobachtet genau, wie sie dasitzen, was sie tun, wie sie ihre Arbeitsmaterialien auf ihrem Platz angeordnet haben, um sich ihre Gesichter und Namen einzuprägen: «Paula, bei dir schaut alles sehr ordentlich aus. Du bist sicher eine brave und fleißige Schülerin. Paula, die Brave.» Die Kinder sind gespannt, was der Lehrer für sie bereithält, wie er sie sieht, wie er sie einschätzt. «Moritz, bei dir habe ich schon gemerkt, dass du kluge Fragen stellst. Dich kenne ich schon aus Vertretungen, da bist du mir auch schon aufgefallen. Moritz, der Kluge.» «Oh, und da sitzt also Felix. Von dir habe ich schon viel gehört. Wenn ich dich anschaue, dann weiß ich, dass das mit dir kein leichtes Jahr wird.»

Und es wurde kein leichtes Jahr, von dieser Szene hat der Schüler immer wieder gesprochen. Auf die Frage hin, warum der Schüler gerade in den Stunden mit dem neuen Lehrer so auffällig ist, hat der Schüler nur geantwortet, dass er ja nichts anderes mache, als sein Lehrer von ihm erwarte. So wirken Adressierungen. Wenn man pädagogische Handlungen betrachtet, zeigt sich grundlegend, wie wichtig es für Lehrende ist, zu hinterfragen, wie das ankommt, was sie im und außerhalb des Unterrichts in ihren Begegnungen mit den ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schülern tun, was sie sagen, was sie nicht sagen, aber in ihrer Mimik und Körpersprache zeigen, welche Handlungen sie setzen. Lehrerinnen und Lehrer können, weil das Anerkennen ein kommunikativer Akt ist, in ihrem pädagogischen Tun nicht nicht anerkennen, sie adressieren ihre Schülerinnen und Schüler fortwährend. Und eine gute Absicht aufseiten der Lehrenden bedeutet noch lange nicht, dass die Adressierung bei den Schülerinnen und Schülern eine positive Wirkung hat. Deshalb ist es zentral, eine reflexive Haltung einzunehmen, die auf die Schülerin und den Schüler ausgerichtet ist. Durch dieses Gerichtetsein auf das Gegenüber und Sich-seiner-Verletzbarkeit-bewusst-Sein bildet Anerkennung den Grundstein einer Ethik des Klassenzimmers. Wir Lehrerinnen und Lehrer arbeiten, damit Kinder lernen und sich entwickeln. Weil Lernen aber kein vorwiegend kognitiver Akt ist, sondern ein emotionaler, ist es grundlegend, über das pädagogisch anerkennende Handeln eine Lernbeziehung zu Schülerinnen und Schülern aufzubauen. Darauf könnte sich auch Arthur Schopenhauers Aussage beziehen, wenn er sagt: «Was das Herz nicht hineinlässt, kann der Verstand nicht aufnehmen.» Dem Aufbau pädagogischer Beziehung durch anerkennendes Handeln widmet sich dieses Buch.

Im ersten Abschnitt des vorliegenden Buches wird Anerkennung grundlegend betrachtet und ein Anerkennungsbegriff entfaltet, der Anerkennung als Subjektivierungsgeschehen und als grundlegend für pädagogisches Handeln versteht. Im zweiten Abschnitt werden sechs Anerkennungspraktiken zur Gestaltung pädagogischer Beziehungen dargestellt und von Schülerinnen und Schülern betrachtet, reflektiert und kommentiert. Im dritten Abschnitt wird aufgezeigt, wo uns unser Wissen über Anerkennung hinführen kann, und pädagogische Haltungen werden beschrieben. Zum Abschluss möchten wir unseren Leserinnen und Lesern noch ein paar Möglichkeiten zur Reflexion geben, denn wir gehen davon aus, dass die pädagogische Praxis Reflexion braucht, um sich eigene Werte, Haltungen und Glaubenssätze bewusst zu machen, sie zu hinterfragen und an ihnen zu arbeiten, wenn manche unserer Handlungen von unseren eigentlichen Werten abweichen.


TEIL 1 ANERKENNUNG IN DER SCHULE – AUF DEN PUNKT GEBRACHT

«Ich glaube, das größte Geschenk, das ich von jemandem

bekommen kann, ist, dass er mich sieht, mir zuhört,

mich versteht und mich berührt. Das größte Geschenk,

das ich einem anderen Menschen machen kann, ist, ihn

zu sehen, ihm zuzuhören, ihn zu verstehen und ihn zu

berühren. Wenn das gelingt, habe ich das Gefühl, dass

wir uns wirklich begegnet sind.»

Virginia Satir

Lehrerinnen und Lehrer sind wichtige AkteurInnen im Feld Schule und ein bedeutendes Gegenüber für ihre Schülerinnen und Schüler. Der Mensch ist auf ein Du angewiesen; die Menschen, mit denen, und die Gesellschaft, in der ein Mensch lebt, sind eng mit seiner Identitätsentwicklung verbunden. In der Auseinandersetzung mit anderen Menschen erfolgt unser Werden zu dem, was wir sind. Für unsere Persönlichkeitsentwicklung brauchen wir ein Gegenüber und dieses Gegenüber sind in der Schule nicht nur die Mitschülerinnen und Mitschüler, sondern in ganz besonderem Maße die Lehrerinnen und Lehrer. Sie als Persönlichkeiten, ihre Kompetenzen und ihr Handeln haben großen Einfluss, nicht nur auf das Lernen ihrer SchülerInnen. Darin liegt eine große Chance, aber auch ein gewisses Risiko, denn damit sind nicht nur das momentane Wohlbefinden und der momentane Lernerfolg, sondern auch künftige Bildungswege, Berufs- und Lebenschancen verbunden. Schule als Sozialisationsinstanz ist ein Ort, an dem sich die Entwicklung und Subjektwerdung der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen auch vollzieht, ein Ort, an dem die jungen Menschen wichtiger Teil einer Gemeinschaft sind und das Leben in dieser lernen. Lehrerinnen und Lehrer sind an diesem Ort pädagogisch handelnd tätig, haben die Aufgaben, den Kindern und Jugendlichen nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch, sie durch Partizipation, Sozialität und Integration auf ihrem Weg zu mündigen Erwachsenen zu begleiten. Lehrerinnen und Lehrer nehmen eine Vorbildfunktion in der Schule ein – sie dienen als Modell und zeigen, wie Menschen miteinander umgehen können oder welche Werte wichtig sind. Wie irritierend ist es manchmal für SchülerInnen, wenn sie sehen, dass von ihnen Werte wie respektvolles und rücksichtsvolles Verhalten in der Schule gefordert werden, ihr Lehrer oder ihre Lehrerin sich ihnen gegenüber aber abwertend verhält? Es ist nicht möglich, sich als Lehrperson aus dem Geschehen herauszunehmen – als ganze Person werden wir mit unserem Tun in unseren Werten und Haltungen für SchülerInnen sicht- und greifbar. Wenn das, was wir lehren, mit dem, was wir leben, übereinstimmt, trägt dieses authentische Verhalten zu unserer Autorität bei. Es ist entscheidend, wie unterrichtet und wie miteinander umgegangen wird, erst auf diesem Wie kann das Was aufbauen.

In ersten Teil dieses Buches wird auf das pädagogische Handeln eingegangen, um darauf aufbauend einen Anerkennungsbegriff zu entfalten, der in pädagogischem Handeln per se enthalten ist, jedoch mit seinen Auswirkungen, Facetten und Wirkweisen oftmals im Schatten von didaktischen oder methodischen Überlegungen steht.2 Damit stellt das Buch keine neue Forderung an Lehrerinnen und Lehrer, was sie im Unterricht zu tun hätten, sondern vielmehr bietet dieses Buch die Möglichkeit, das alltägliche Tun im Klassenzimmer in einem neuen Licht zu betrachten und damit die eigenen Handlungen zu reflektieren und bewusster zu steuern. Insbesondere wird erläutert, wie Lehrerinnen und Lehrer durch anerkennendes Handeln zur Identitätsentwicklung ihrer SchülerInnen beitragen und welche besonderen Rahmenbedingungen dafür in der Schule vorgefunden werden.

 

Was kennzeichnet pädagogisches Handeln?

Max Weber (1984, 19) definiert Handeln als «ein menschliches Verhalten […], wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden». Dieses Handeln wird dann zu pädagogischem Handeln, wenn es sich auf Lernen bezieht (Prange & Strobel-Eisele 2006). In dem hier verwendeten Verständnis von pädagogischem Handeln wird allen Lehrenden grundsätzlich attestiert, pädagogisch zu handeln, auch wenn die Wirkung dieses Handelns für das Lernen unter Umständen nicht förderlich ist. Pädagogisches Handeln ist dabei ein soziales Handeln, das an einem Gegenüber orientiert ist. Das pädagogische Handeln von Lehrerinnen und Lehrern ist dabei nicht nur durch subjektive Theorien von Schule und Unterricht, Menschenbildern und das eigene Normen- und Wertesystem bestimmt, sondern unterliegt darüber hinaus institutionellen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Diskursen. Pädagogisches Handeln zeichnet sich nach Ricken (2009, 87) dadurch aus, dass «LehrerInnen SchülerInnen in bestimmter Weise ansprechen und adressieren, darin diese als jemanden wahrnehmen und zu jemandem machen». Damit zeigt sich ein zwingender Zusammenhang zwischen pädagogischem Handeln und Anerkennung.

Welchen Einfluss die Handlungen Lehrender auf ihre SchülerInnen ausüben, welche Wirkungen sie dabei erzielen, können Lehrerinnen und Lehrer jedoch nicht vollständig steuern. Das Ergebnis ist nicht nur von ihren Zielen, sondern besonders von den Schülerinnen und Schülern selbst abhängig. Die Wirkweise wird davon bestimmt, in welchem Rahmen und vor wem die pädagogischen Handlungen gesetzt werden, wie SchülerInnen diese interpretieren, wie sie darauf reagieren und schlussendlich, welche Anschlusshandlungen darauf erfolgen. Obwohl, wie wir festgestellt haben, pädagogisches Handeln absichtsvoll und mit einem subjektiven Sinn erfolgt, bleibt die «Differenz zwischen Handlungsintention und Handlungsergebnis einschließlich nicht-intendierter Folgen» bestehen und so ist es kaum möglich, «bestimmte Zielzustände treffsicher [zu] initiieren» (Combe & Kolbe 2008, 857). Um diese Unsicherheit pädagogischen Handelns zu minimieren, zeigt der systematisierte Blick auf die vielen Erinnerungsgeschichten, dass ein reflexiver Zugang zu pädagogischem Handeln das zielgerichtete Wirken der Lehrerinnen und Lehrer positiv beeinflussen kann. Die Frage, die sich dabei stellt, ist: Wer wird von wem vor wem als wer angesprochen? und daran anschließend: Wie kommt das, was ich als LehrerIn tue, bei den SchülerInnen an? Dadurch zeigt sich, dass die pädagogische Absicht und die Wirkung des pädagogischen Handelns häufig nicht kongruent sind, und so ist mit Martin Buber zu betonen, dass «[…] nicht die pädagogische Absicht, sondern die pädagogische Begegnung […] pädagogisch fruchtbar» sei. Diese pädagogische Begegnung ließe sich durchaus auch als Hilfsmittel für die eigene Reflexion nützen, wenn LehrerInnen die Bitte einer 12-jährigen Schülerin berücksichtigen: «Er [der Lehrer] sollte öfter fragen, wie es uns bei all dem geht.»

Ebenso formuliert Prengel (2013, 123), dass «pädagogische Beziehungen […] der Bildung inhärent» seien. Obwohl diese alleine noch keinen Lernerfolg sichern, sind ohne sie «persönliche Entwicklungs- und Lernprozesse sowie gesellschaftliche Demokratisierungsprozesse gefährdet». Lernen läuft über Beziehung. Nach dem Neurobiologen und Arzt Joachim Bauer ist der Kern aller menschlichen Motivation in Anerkennung, Wertschätzung und Zuwendung zu finden und zu geben. Um dies erreichen zu können, braucht es Zeit für LehrerInnen und SchülerInnen gemeinsam: «Eine gute Pädagogik erfordert […] eine Balance zwischen verstehender Zuwendung und Führung» (Joachim Bauer 2007,8).

Für John Hattie (2013, 139) ist der Blick auf die Lernenden ausschlaggebend und «es kommt nicht so sehr darauf an, ob Lehrpersonen exzellent sind oder von ihren Kolleginnen und Kollegen als exzellent eingeschätzt werden, sondern ob sie von ihren Lernenden für exzellent gehalten werden». Weiter schreibt Hattie (ebd.), dass es die Lernenden sind, «die in den Klassen sitzen und merken, ob ihre Lehrperson das Lernen mit ihren Augen sieht und ob die Qualität der Beziehung förderlich ist». Diese Beziehung, von der Hattie spricht, kann über Anerkennung aufgebaut und hergestellt werden. Wirkmächtige Facetten machen pädagogisches Handeln so bedeutend und bestimmte Praktiken der Anerkennung im täglichen Miteinander zeigen sich als besonders prägend und einflussnehmend auf Lernen, Entwicklung, Selbstverständnis, Subjektwerdung und Bildungswege von Schülerinnen und Schülern. Im Folgenden werden verschiedene Facetten von Anerkennungspraktiken im schulischen Alltag beschrieben, bevor im zweiten Kapitel sechs bedeutende Praktiken zur Gestaltung pädagogischer Beziehungen ein Netz für entwicklungsförderndes pädagogisches Handeln spannen.

Was wird unter Anerkennung verstanden?

Erinnerungen an schulische Erfahrungen sind besonders oft mit ermutigenden und auch demütigenden Erziehungsszenen verbunden und somit ist pädagogisches Handeln immer auch durch Fragen und Probleme der Anerkennung charakterisiert.

Anerkennung als wechselseitiges Adressierungsgeschehen

Anerkennung wird in diesem Buch als ein Adressierungsgeschehen verstanden, das Teil pädagogischen Handelns ist. Bestätigende und versagende, retrospektive und prospektive Adressierungen greifen ineinander und wirken besonders beim Herausbilden der Identität der Kinder und Jugendlichen. Dabei ist Anerkennen ein wechselseitiges Geschehen. Auch Lehrerinnen und Lehrer sind auf die Anerkennung von ihren SchülerInnen angewiesen. Das Begehren nach Anerkennung teilen beide, SchülerInnen und LehrerInnen. Beide sind zugleich anerkennungsgebend und anerkennungsnehmend. Erfahrungen der Anerkennung, von anderen gesehen und gehört zu werden, angesprochen zu werden, Rückmeldung zu erhalten, ermöglichen es Menschen, Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung auszubilden. Damit spielt Anerkennung für die Identitätsentwicklung und die Subjektwerdung eine zentrale Rolle.

Anerkennung als machtvolles Geschehen

Axel Honneth spricht sogar von einem Kampf um Anerkennung und damit verbunden von einem Kampf um Selbstachtung und Respekt. Zentral erscheinen dabei Adressierungen als machtvolles Geschehen. Wer entscheidet über Gesehen-Werden oder Nicht-gesehen-Werden? Wer hat die Macht, öffentlich jemanden als jemand anzusprechen? Wer entscheidet, was es wert ist, gesehen zu werden? Macht zeigt sich in der Anerkennungspraxis einerseits als machtvolles Handeln, anderseits zeigen sich auch die Auswirkungen der einzelnen Anerkennungspraktiken auf die Subjektwerdung als mächtig. Anerkennung darf deshalb nicht an spezifische Leistungen oder Eigenschaften geknüpft werden, sondern muss bedingungs- und voraussetzungslos gegeben werden. Helsper und Lingkost (2013, 132) sehen «als Kernstruktur der jeweiligen Schulkultur […] die konkret ausgeformten Anerkennungsverhältnisse und -beziehungen zwischen Lehrern und Schülern». Das heißt, dass sich Schulkulturen und damit auch Unterricht und pädagogisches Handeln nicht ohne Anerkennungspraktiken denken lassen. In Schulen zeigen sich diese ausgeformten Anerkennungsverhältnisse nicht nur im unterrichtlichen Tun, sondern auch im Leitbild, in der Führung, in der Kommunikation, in den Strukturen und Prozessen.

Anerkennung als identitätsstiftendes Geschehen

LehrerInnen adressieren ihre SchülerInnen immer als jemanden, tun dies vor jemandem und machen damit ihre SchülerInnen zu jemandem. Anerkennung ist damit als ein identitätsstiftender Vorgang zu sehen, wie auch das Beispiel in der Einleitung gezeigt hat. Schülerinnen und Schüler werden als bestimmte Identitäten anerkannt, zum Beispiel als guter Schüler/gute Schülerin in der positiven Ausprägung oder als fauler Schüler/faule Schülerin in der negativen Ausprägung. Damit zeigt sich die Kehrseite der Anerkennung, weil durch Adressierungen auch etwas festgeschrieben werden kann, was man gar nicht will. Vor allem in retrospektiven und prospektiven Adressierungen, die in den Praktiken des Ansprechens und des Rückmeldens erläutert werden, zeigt sich eine Möglichkeit der bewussten Gestaltung von Anerkennungshandlungen: Lehrerinnen und Lehrer können in der Gestaltung von Rückmeldungen, die vor allem zur schulischen Leistung gegeben werden, auf ihre Sprache achten, um es den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, zwischen der Leistung und sich als Personen zu trennen. Anerkennungshandeln kann dabei nie per se als gut oder schlecht bezeichnet werden, denn eine vorschnelle Kategorisierung in positive und negative Handlungen ist nicht zulässig, wenn man davon ausgeht, dass erst die bestimmte Situation in ihrer gesamten Verstrickung analysiert werden muss, um herauszufinden, was die Wirkung der Adressierung ist. Erst mit dem Einbeziehen der Sichtweisen der Adressierten sind Aussagen über negative oder positive Anerkennungshandlungen zulässig. Das, was auf die Adressierung folgt, eröffnet ein Spannungsfeld zwischen der Annahme der Adressierung auf der einen Seite und der individuellen Autonomie mit der Möglichkeit des Widerstandes auf der anderen Seite.

You have finished the free preview. Would you like to read more?