Im Winter werden Teenagerträume wahr

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Dann schoss sein Sperma aus dem Schlitz der Eichel und klatschte gegen die Wand. Philipp wurde schwarz vor Augen, so intensiv waren die Gefühle, die durch seinen Körper rasten.

Als er seine Augen wieder öffnete, durch das Loch in der Wand blickte, war der Duschraum leer. Amelie hatte den Raum verlassen.

Philipp setzte sich auf die Toilettenschüssel und atmete tief durch. Er empfand die letzten Minuten als das schönste Erlebnis seines Lebens. Amelie war in seinen Augen eine Göttin, perfekt gewachsen.

Nach einigen Minuten verließ er die enge Kabine und trat an den Ausgang. Er öffnete die Tür einen Spalt breit und wartete. Es dauerte nicht lange, dann verließ Amelie die Mädchenumkleide. Schnell verließ er die Männertoiletten und trat in den Flur.

Amelie erschrak. „Ja, wo kommst du denn her?“, wunderte sie sich, als sie Philipp entdeckte.

Er lächelte sie an. „Aus dieser Tür“, erwiderte er schelmisch. „Das nenne ich Zufall.“

Amelie strahlte ihn aus ihren dunklen Augen an. „Nun sag bloß, du machst hier Gymnastik!“

„Aber sicher! Was hast du denn gedacht?“

Philipp streckte seine Hände vor. „Wieder sauber. Was meinst du, sollen wir noch irgendwo etwas trinken? Mir ist ziemlich kalt.“

„Und mir ist ziemlich warm“, verriet ihm Amelie schmunzelnd. „Ich lade dich ein. Immerhin hast du meine Vespa wieder flottgemacht."

„So war das nicht gedacht. Eigentlich wollte ich dich einladen.“

Amelie prustete los. „Wenn wir uns noch lange darüber streiten, wer hier wen einlädt, wird nichts mehr aus unserem Kneipenbesuch. Meine Tante ist ziemlich streng.“

„Okay! Wir vertagen die Verhandlung. Wo gibt es denn hier eine passable Kneipe?“

„Zwei Straßen weiter. Es ist eine nette Bar. Ab und zu gehen wir nach dem Kurs hin.“

Wenig später fuhren sie hintereinander die Straße entlang. In der Bar war um diese Zeit noch nicht viel los, sodass Philipp und Amelie sofort einen freien Tisch ergattern konnten.

Philipp bestellte sich einen Glühwein, während Amelie nach einer Abkühlung verlangte.

„Wie heißt du eigentlich?“, meinte Amelie plötzlich.

„Bin ich ein Volltrottel!“ Philipp schlug sich an die Stirn. „Normalerweise bin ich nicht so unhöflich, aber ich habe wirklich vergessen, mich dir vorzustellen.“

Er erhob sich lachend und machte eine tiefe Verbeugung. „Ich heiße Philipp Pienen, und gehe das letzte Jahr ins Gymnasium. Im Herbst möchte ich Medizin studieren.“

Amelie ging auf seinen Tonfall ein. „Und ich heiße Amelie Schachten und gehe ebenfalls ins Gymnasium.“

Philipp ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.

„Habe ich das richtig verstanden? Du lebst bei deiner Tante?“

Im selben Augenblick bereute er seine neugierige Frage, denn Amelie' Gesicht verdüsterte sich.

„Ja“, erwiderte sie knapp. „Ich lebe seit fast zehn Jahren bei ihr.“

Hastig nahm sie einen Schluck Mineralwasser. Philipp hätte sich ohrfeigen können. Jetzt hatte er ihre schöne Stimmung verdorben! Krampfhaft versuchte er, die Unterhaltung fortzusetzen.

„Was hältst du von Karate?“

„Karate?“ Amelie sah ihn verständnislos an. „Wie kommst du denn darauf?“

„Nun, ich habe mich im Studio danach erkundigt. Aber der Kurs ist ziemlich teuer.“

„Ich weiß. Eigentlich hätte ich mir meinen Gymnastikkurs auch nicht leisen, aber mein Vater hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt.“

„Wann hast du denn Geburtstag?"

Gespannt wartete er auf ihre Reaktion, und diesmal hatte er nicht ins Fettnäpfchen getreten.

„Im Oktober. Am neunzehnten, um es genau zu sagen.“

„Dann haben wir beide an dem Tag ein Fest“, erwiderte Philipp strahlend. „Ich habe Namenstag und du Geburtstag. Der neunzehnte Oktober ist der Namenstag von Philipp.“

Amelie stimmte in sein Lachen ein.

„Das ist wirklich komisch!“

„Komisch? Das sollte dich eher nachdenklich stimmen, Amelie“, begann er mit todernstem Gesicht. „Denk doch mal nach! Bestimmt war es kein Zufall, dass wir uns getroffen haben.“

Amelie kniff die Augen zusammen. „Sag mal, spinnst du?“

Philipp lachte. „Nein, keine Sorge. Ich mache manchmal dumme Scherze, weißt du. Ich mag es, wenn die Leute lachen. Es wird viel zu wenig gelacht. Die meisten nehmen alles so tierisch ernst, dabei kann man doch so viel Spaß haben."

Amelie sah ihn verwirrt an. So richtig klug wurde sie nicht aus ihm, aber seine Art gefiel ihr. Allein wie er ihre Tante zu dem tollen Weihnachtsbaum überredet hatte!

„Ich bin froh, dass Tante Charlotte den Baum genommen hat", meinte sie.

Jetzt war es an Philipp, sie verwirrt anzusehen. „Du machst aber Gedankensprünge!“

„Siehst du, Philipp, so hat jeder seine Eigenarten. Ich mache öfter solche Sprünge, und du machst deine Späße.“

„Ich stelle fest, dass es sehr interessant ist, sich mit dir zu unterhalten, Amelie.“

„Danke für die Blumen! Leider wird nicht mehr viel aus einer Unterhaltung, denn ich muss jetzt gehen. Du weißt ja: meine Tante.“

Amelie griff in ihre Tasche, doch Philipp kam ihr zuvor.

„Bitte, lass mich bezahlen.“

„Also gut, wenn du unbedingt willst.“

„Ja, und ich will noch mehr. Sehen wir uns wieder?“

Amelie wurde verlegen und beugte sich noch tiefer über ihre Sporttasche. Trotzdem sah Philipp die leichte Röte, die ihr Gesicht überzog.

„Von mir aus. Wir könnten uns vielleicht nach der Schule treffen“, schlug Amelie leise vor.

„Das geht leider nicht. Ich muss doch Weihnachtsbäume verkaufen. Vor sechs Uhr abends kann ich nicht.“

Amelie hob den Kopf. „Dann komme ich morgen auf den Weihnachtsmarkt“, verkündete sie zu seinem Erstaunen. „Wir könnten anschließend noch ein wenig bummeln, ja?“

„Super! Ich freue mich sehr. Ab sechs Uhr habe ich frei. Dann bleiben uns noch drei Stunden. Außer meinem Stand habe ich noch nicht viel vom Weihnachtsmarkt mitbekommen.“

„Also abgemacht! Ich hole dich kurz vor sechs ab.“

Auf der Straße streckte sie ihm lächelnd die Hand entgegen.

„Bis morgen, Philipp! Und nochmals vielen Dank!“

Erst als sie um die Ecke verschwunden war, ging Philipp zu seinem alten Auto.

3

Amelie hatte ihre Vespa zu Hause gelassen. Tief in Gedanken versunken schlenderte sie in Richtung Marktplatz, wo die vielen kleinen Holzbuden für den Weihnachtsmarkt aufgebaut worden waren. Die engen Geschäftsstraßen waren hell erleuchtet.

Unzählige Glühbirnen, zu Sternen, Kerzen oder als Lichterkette angeordnet, verbreiteten ein warmes Licht. Auch die Schaufenster waren weihnachtlich dekoriert und zogen die Kunden wie magisch an. Immer wieder blieb Amelie stehen, um die verschiedenen Auslagen zu betrachten.

Sie liebte die Adventszeit, nur vor Weihnachten selbst fürchtete sie sich. Heiligabend und der erste Weihnachtstag führten ihr immer wieder vor Augen, wie einsam sie in Wirklichkeit war, denn außer ihrer Tante und ihrem Vater hatte sie keine Verwandten.

Ihre Mutter war schon vor Jahren gestorben, und ihren Vater, der bei der Bundeswehr beschäftigt war und meistens im Ausland aufhielt, bekam sie nur noch selten zu Gesicht.

In den letzten Jahren hatte sich der Verdacht erhärtet, dass er die Feiertage freiwillig bei einem Auslandseinsatz verbrachte. Bestimmt mochte er Weihnachten nicht! Sie selbst musste an den Feiertagen immer an ihre Mutter denken.

Das letzte Fest, das sie gemeinsam erlebt hatten, war traumhaft gewesen. Ihre Mutter hatte eine riesige Tanne geschmückt und im Wohnzimmer aufgestellt. Jedes Zimmer, auch die Diele war festlich dekoriert gewesen, und Amelie glaubte noch heute, den Duft der Plätzchen zu riechen, der durch das ganze Haus gezogen war.

Schon in der Adventszeit hatte sie mit ihrer Mutter, die immer lustige Geschichten erzählt hatte, stundenlang in der Küche gesessen und gebacken oder gebastelt. Das letzte Weihnachtsfest würde für immer in ihrem Gedächtnis haften bleiben, jede Kleinigkeit, jede winzige Begebenheit war ihr gegenwärtig. Schon am Heiligabend hatte sie das Wohnzimmer nicht mehr betreten dürfen.

„Das Christkind ist da“, hatte ihre Mutter ihr erklärt. „Wenn du neugierig bist, wird es böse und nimmt alle Geschenke wieder mit."

Amelie hatte mit klopfendem Herzen zugehört und ihre Ungeduld bezähmt. Nein, das Christkind durfte man nicht ärgern! Sie war in ihr Zimmer gegangen und hatte mühsam die Geschenke eingepackt, die sie für die Eltern gebastelt hatte.

Als sie später in die Küche gekommen war, hatte ihre Mutter sie in die Arme genommen und sich mit ihr in die gemütliche Essecke gesetzt.

Um die Wartezeit zu verkürzen, hatte sie aus ihrer eigenen Kindheit erzählt. Eigenartig konnte Amelie sich nicht daran erinnern, wo ihr Vater an diesem Nachmittag gewesen war. Er war erst gegen Abend in die Küche gekommen, um mit ihnen zu Abend zu essen.

Anschließend hatten sie gemeinsam einen langen Spaziergang gemacht. Damals hatte Luna, ihr Cockerspaniel, noch gelebt.

Amelie seufzte und ging weiter. Warum musste sie ausgerechnet heute an das letzte gemeinsame Weihnachtsfest denken? Während sie in Richtung Weihnachtsmarkt schlenderte, wanderten ihre Gedanken wieder zurück in die Vergangenheit.

Drei Monate später war ihre Mutter gestorben. Es war schrecklich gewesen, und Amelie hatte tagelang geweint. Ihr Vater hatte das Haus verkauft und war schon zwei Wochen später wieder zu einem Auslandseinsatz aufgebrochen. Amelie hatte er bei Tante Charlotte, seiner Schwester, zurückgelassen.

Eines Tages war auch Luna verschwunden gewesen. Bis heute hatte sie keine Ahnung, was aus dem Hund geworden war. Entschlossen schob Amelie die trüben Gedanken beiseite.

 

Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Ihre Mutter war tot, und ihren Vater sah sie zweimal im Jahr. Sie konnte froh sein, dass Tante Charlotte sie aufgenommen hatte, denn sonst wäre sie unweigerlich in einem Kinderheim gelandet.

Amelie war auf dem Weihnachtsmarkt angelangt und bahnte sich einen Weg durch die dichte Menschenmenge.

»I'm dreaming of a white Christmas«, tönte aus einem Lautsprecher und Amelie lief ein Schauer über den Rücken.

Weiße Weihnacht — wie sehr wünschte sie sich das. Schön seit Jahren lag zu Weihnachten kein Schnee mehr. In diesem Jahr sah es allerdings ganz so aus, als ob es eine weiße Weihnacht geben würde. Schon seit Tagen war der Himmel mit dunklen Wolken verhangen, und es war eisig kalt.

„Ich rieche Schnee", pflegte Lisa, ihre Freundin, in jeder Pause zu sagen. Amelie war nicht sicher, ob sie wirklich Schnee roch oder es nur behauptete, denn Lisa wollte in den Weihnachtsferien Skiurlaub machen. Vor einem Karussell blieb Amelie stehen.

Eine Weile sah sie den Kindern zu, die mit strahlenden Gesichtern und glänzenden Augen Kreise drehten. Etwas wie Eifersucht schlich sich ein, als sie die Eltern der Kinder sah, die am Rand des Karussells warteten. Schnell wandte Amelie sich ab. Jetzt bereute sie es, dass sie so früh losgegangen war, Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bis sie Philipp abholen konnte. Philipp?

Der Gedanken an ihn erhellte Amelies Gesicht. Er war sehr nett. Ganz anders als die Jungs, die sie bisher kennengelernt hatte. Sie hatte vor einigen Monaten ihre Beziehung mit Hannes beendet. Der Junge dachte nur an Fußball und Sex. Das empfand Amelie nicht als Grundlage einer Beziehung. Er war ein arroganter Angeber, der nach der Trennung allen erzählte, sie wäre eine geile Fotze im Bett. Sie war froh, mit diesem Typen Schluss gemacht zu haben.

Und Simon? Er war auf Hannes gefolgt. Sie kannten sich schon von der Grundschule her und waren zusammen aufs Gymnasium gegangen. Simon war immer eine Art Bruderersatz für sie gewesen. Leider war er vor einem Jahr nach Österreich gezogen. Sie hatten eine kurze, sehr leidenschaftliche Beziehung geführt, deren Grundlage die sexuelle Befriedigung war. Amelie liebte den Sex, wenn sie den Jungen mochte. Mit Simon war sie noch immer in Kontakt. Sie schrieben sich per eMail oder über WhatsApp regelmäßig Neuigkeiten aus ihrem Leben.

Amelie seufzte wieder. Was war bloß mit ihr los? Warum musste sie nur immer an früher denken? Angewidert beobachtete Amelie einen alten Mann, der reichlich betrunken war.

Gierig verschlang er eine Bratwurst, während er gefährlich von einer Seite zur anderen schwankte. Als er ihren Blick bemerkte, verzog er den Mund zu einem Lächeln, das seinen zahnlosen Mund entblößte.

Hastig wandte Amelie sich ab und lief weiter. Vor einem Stand mit Weihnachtskugeln machte sie halt. In Gedanken ging sie den eigenen Bestand an Baumbehang durch. Nein, sie brauchte nichts mehr. Und doch reizte es sie, wenigstens ein neues Stück zu kaufen. Bisher hatte sie nur den Schmuck der Mutter verwendet.

Da ihre Tante in all den Jahren nur einen kleinen Baum gekauft hatte, war immer viel zu viel dagewesen. In diesem Jahr konnte sie endlich einmal allen Baumschmuck verwenden. Und doch wollte sie ein neues Teil haben eins, das sie selbst gekauft und bezahlt hatte.

Ihr Blick fiel auf eine wunderschöne Glaskugel, in deren Mitte ein kleines Bäumchen hing.

„Handarbeit“, erklärte die Verkäuferin, die sie aufmerksam beobachtete. „Alle unsere Kugeln sind handgemacht.“

Amelie lächelte der freundlichen Verkäuferin zu.

„Das sieht man. Sie unterscheiden sich sehr von denen, die im Supermarkt oder im Internet angeboten werden.“

„Ich weiß. Leider sind sie auch nicht ganz billig.“

„Was kostet diese Kugel da?“

„Fünfundzwanzig Euro.“

Amelie erschrak. Nein, so viel Geld konnte sie unmöglich für eine einzige Kugel bezahlen.

Die Verkäuferin schien zu ahnen, was in ihr vorging, denn plötzlich beugte sie sich vor.

„Wenn Sie sie haben wollen, kommen Sie doch am letzten Tag vorbei. Dann werden viele Sachen reduziert. Ich könnte Ihnen die Kugel zur Seite legen.“

Amelie biss sich auf die Lippen. Der Vorschlag hörte sich verlockend an, aber um wie viel würde die Kugel herabgesetzt werden? Schnell erkundigte sie sich.

„Vierzig Prozent sind üblich. Überlegen Sie es sich!“

„Darf ich Ihnen nachher Bescheid sagen?“

Die Verkäuferin nickte zustimmend. In Gedanken versunken schlenderte Amelie weiter. So langsam wurde es Zeit, zu Philipp zu gehen.

Schon von weitem sah sie ihn inmitten der vielen Bäume stehen. Heute hatte er einen dicken Schal um den Hals geschlungen, und seine Hände steckten in Wollhandschuhen.

Unwillkürlich musste Amelie schmunzeln. Sein Anblick vertrieb all die trüben Gedanken, die sie eben noch belastet hatten.

In einiger Entfernung blieb sie stehen und sah ihm zu. Er lachte viel und schien sich blendend mit seinen Kunden zu unterhalten.

In der kurzen Zeit verließ kein Kunde Philipps Stand, ohne einen Baum gekauft zu haben. Man konnte sich ausrechnen, wann sein Stand leer sein würde. Philipp begann, seine restliche Ware in die Bude zu räumen. Er musste ziemlich stark sein, denn er konnte mühelos vier Bäume gleichzeitig tragen. Langsam ging Amelie näher an seinen Verkaufsstand.

Philipp hievte gerade zwei Bäume mit Ballen hoch und wollte sie zu den anderen setzen, als er Amelie bemerkte.

„Toll, du bist ja schon da!“, freute er sich. „Ein paar Minuten noch, dann bin ich fertig. Mein Chef wird zufrieden sein.“

„Ich bin schon einige Zeit hier und habe mich umgesehen“, erzählte sie. „Kann ich dir helfen?“

Philipp sah sie amüsiert an. „Nein. Das ist keine Arbeit für dich! Manche Bäume sind ganz schön schwer. Trotzdem danke!“

Schnell räumte er den Rest ein und verschloss die Bude.

„Jetzt kann's losgehen!“

Langsam schlenderten sie an den einzelnen Buden vorbei.

„Das ist ein Rummel!“, bemerkte Philipp mehrmals staunend. „Magst du Weihnachtsmärkte?“

„Ja, ich komme jedes Jahr. Und du?“

„Ich arbeite seit zwei Jahren als Baumverkäufer. Mein Chef ist super. Er zahlt gut und ist auch sonst sehr nett. Ich spare für ein neues Auto. Mein altes stammt noch aus dem Mittelalter und benimmt sich manchmal entsprechend.“

„Wie meine Vespa. Aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen.“

„Bist du hungrig? Ich weiß, wo es die besten Bratwürste gibt.“

Unwillkürlich musste Amelie wieder an den Betrunkenen denken. Nein, eine Bratwurst konnte sie beim besten Willen nicht essen.

„Ich mag Bratwürste nicht besonders.“

„Aha, worauf hast du dann Appetit?“

„Am liebsten würde ich eine Crêpes mit viel Nutella essen!“

„Hört, hört! Aber kein Problem, bei deiner perfekten Figur kannst du bedenkenlos solche Süßigkeiten vertragen...“

Philipp schwieg erschrocken. Hoffentlich war Amelie ihm nicht böse wegen seiner Bemerkung. Warum musste er auch immer gleich so vorlaut sein? Doch Amelie lächelte.

„Dann auf zum Crêpes Stand! Du kannst dir ja etwas Herzhaftes besorgen.“

„Nein! Ich esse sehr gerne Crêpes!“, rief Philipp theatralisch und rollte die Augen.

Amelie musste lachen. Mit den Crêpes in der Hand schlenderten sie weiter über den Weihnachtsmarkt.

„In diesem Jahr gibt es keine neuen Stände“, stellte Philipp plötzlich fest. „Die Geschenkbuden werden immer weniger, dafür haben Karussells und Imbissstände Hochkonjunktur. Nicht zu vergessen die Getränkestände mit Glühwein und Bier.“

„Genau daran habe ich eben auch gedacht. Vor Jahren war alles noch ganz anders.“

Philipp warf ihr einen Blick zu und lachte los.

„Wir reden wie zwei Rentner! Meine Großeltern lobten auch immer die gute alte Zeit, in der alles so anders und besser war.“

„Dann bin ich eben altmodisch, denn ich meine, dass vor Jahren die Weihnachtsmärkte viel schöner waren.“

Amelie blieb vor dem Stand mit den Weihnachtskugeln stehen.

„Wie gefällt dir diese Kugel?“

„Welche?“

„Hinten an der Wand hängt eine mit einem kleinen Christbaum drin. Siehst du sie?“

Philipp sah sich aufmerksam um, konnte die Kugel aber nicht entdecken. Ungeduldig wies Amelie in die angegebene Richtung.

Philipp ging in die Knie, um mit ihr auf gleicher Blickhöhe zu sein.

„Die rosafarbene?“

„Ja. Ich glaube, ich lasse sie mir zurücklegen.“

„Das Ding sieht nicht billig aus“, raunte Philipp ihr zu.

„Ich weiß, aber ich möchte sie unbedingt haben.“

Amelie wartete, bis die Verkäuferin bedient hatte.

„Ich möchte sie haben, die Kugel mit dem Bäumchen. Erinnern Sie sich?“

„Klar! Wie abgemacht?“

Amelie nickte dankbar. „Ja, wie abgemacht. Ich komme am letzten Tag gleich nach der Schule.“

Als sie sich abwandte, lief Philipp hinter ihr her.

„Hey? Was war denn das für eine Vorstellung? Kennst du die Frau?“

„Du bist sehr neugierig, nicht wahr?“

Philipp zuckte die Schultern. „Stimmt! Man muss alles wissen, finde ich.“

„Muss man das wirklich? Manchmal bin ich sogar froh, dass ich nicht alles weiß.“

Philipp erwiderte nichts und führte sie an einen Stand mit gebrannten Mandeln.

„Magst du welche, oder hast du genug Süßes gehabt?“

„Ich sterbe für Mandeln“, verriet ihm Amelie lächelnd. „Aber jetzt bin ich dran.“

Ehe Philipp es verhindern konnte, hatte sie eine Tüte genommen und bezahlt.

„Sollten wir uns nicht ein wenig aufwärmen? Wir könnten in ein Café gehen, und etwas Warmes trinken. Ich bin reichlich durchfroren.“

„Ach, Gott, Philipp! Du musst ja wirklich Eisbeine haben. Wie lange stehst du schon auf dem Markt?“

„Vier Stunden. Mein Dienst dauert von zwei bis sechs. Dreimal wöchentlich und samstags.“

„Dann sollten wir wirklich in ein Café gehen. Außerdem ist mir auch ziemlich kalt. Ich fürchte, meine Freundin hat Recht. Es sieht nach Schnee aus.“

„Jetzt ist mir wohler!“

Philipp streckte seine Beine aus und lehnte sich zufrieden zurück. Ein kräftiger Schluck Glühwein hatte sein Innenleben erwärmt.

Diesmal hatte auch Amelie das heiße Getränk einem Glas Mineralwasser vorgezogen, und ihre Wangen sahen ganz rosig aus. Philipp zwinkerte ihr vergnügt zu.

„Verstehst du jetzt, weshalb die Trinkbuden Hochkonjunktur haben?“

„Es ist aber auch wirklich kalt geworden. Bestimmt bekommen wir Schnee!“

„Herrlich! White Christmas!“

„Meinst du das ehrlich, oder machst du wieder deine Späße?“

Philipps Augen blitzten vergnügt.

„Ich mag weiße Weihnachten. Mit Fußspuren im Schnee, Schlittenfahrt und Glockengebimmel. Zwei Pferde ziehen die Kutsche, in der der Nikolaus und das Christkind...“

Weiter kam er nicht, denn Amelie sprang empört auf.

„Also doch! Zum Narren halten kann ich mich selbst.“

Sie nahm ihre Handtasche und suchte nach ihrer Geldbörse. Philipp hielt schnell ihre Hand fest.

„Es tut mir leid“, meinte er zerknirscht. „Du musst das nicht persönlich nehmen, Amelie. Ich bin manchmal albern, aber das ist reinster Selbstschutz. Ich will nichts mehr tierisch ernst nehmen im Leben. Es geschehen doch genug schreckliche Dinge. Denk doch nur an die Anschläge von Paris oder die auf Charlie Hebdo.“

Seine nachtschwarzen Augen sahen sie so traurig an, dass Amelie unwillkürlich fröstelte. Oder war es die Berührung seiner Hand, die sie schaudern ließ? Sekundenlang sahen sie sich tief in die Augen.

Als Philipp sie anlächelte, senkte Amelie den Blick.

„Fangen wir noch einmal an", hörte sie ihn leise sagen.

Amelie sah auf seine Hand, die noch immer warm und fest auf ihrer lag. Seine Berührung war sehr angenehm.

„Willst du mich etwa wieder ärgern?“

„Nein, natürlich nicht. Ich will dich bestimmt nicht ärgern. Amelie, denn... äh...“ Philipp machte eine Pause und holte tief Luft. „... denn du gefällst mir, sehr sogar...“

Nachdem er den Satz ausgesprochen hatte, wagte Amelie erst recht nicht, den Kopf zu heben. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er nervös mit der linken Hand nach seinem Glas griff und einen Schluck daraus nahm. Schließlich räusperte er sich.

„Hast du mich eigentlich verstanden?“

 

„Ja“, flüsterte Amelie.

„Dann ist es gut.“

Philipp lehnte sich wieder zurück, ohne ihre Hand loszulassen. Erst nach geraumer Weile sprach er weiter.

„Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich das gesagt habe, aber es stimmt nun mal. Ich finde dich unheimlich nett, und...“ Er schluckte seine Worte herunter, wollte von der Perfektion ihres Körpers reden, von den süßen Brüsten, dem blonden Schamhaardreieck. Aber sie durfte nicht erfahren, dass er sie heimlich beobachtet hatte. „Ich würde mich sehr freuen, wenn... wir... Freunde sein könnten.“

Amelie schloss die Augen und schmunzelte. Seine Worte taten so gut! Alle anderen Jungs wollten nur Sex mit ihr, aber Philipp wünschte sich eine Freundschaft. Am liebsten hätte sie ihm noch länger zugehört, aber sie musste jetzt etwas sagen, denn seine Verlegenheit wuchs von Sekunde zu Sekunde.

„Ich mag dich auch, Philipp“, gestand sie ihm leise.

Mit einem Seufzer ließ Philipp ihre Hand los und legte einen Arm um ihre Schultern.

„Auf welche Schule gehst du eigentlich?“, erkundigte er sich.

„Ich gehe ins Geschwister-Scholl-Gymnasium — und du?“

„Ins Max-Born-Gymnasium. Sehr weit sind unsere Schulen nicht voneinander entfernt.“

„Nein, drei Straßen nur. Sonderbar, dass ich dich noch nie gesehen habe.“

„Seit zwei Jahren arbeite ich nachmittags. Abends muss ich meine Schularbeiten machen, und dann ist der Tag auch schon vorbei.“

„Ich bin auch viel zu Hause. Meine Tante ist ziemlich streng. Ab und zu bin ich bei meiner Freundin, aber das ist auch schon alles, was ich unternehme. Hast du noch Geschwister?“

Philipp brummte. „Nein, das war schlecht möglich. Meine Eltern ließen sich kurz nach meiner Geburt scheiden. Ich wohne mit meiner Mutter zusammen. Von meinem Vater höre ich nur zu Weihnachten etwas.“

„Mein Vater ist bei der Bundeswehr und ist ständig bei Auslandseinsätzen. Er kümmert sich nur wenig um mich. Sein Job ist ihm wohl wichtiger.“

Philipp bemerkte den bitteren Unterton in ihrer Stimme und verstummte. Zu gern hätte er sich nach ihrer Mutter erkundigt, aber er wollte nicht schon wieder zu neugierig erscheinen. Amelie sprach nach einer Weile von selbst weiter.

„Meine Mutter ist schon über zehn Jahre tot. Deshalb lebe ich bei meiner Tante. Sie ist die Schwester meines Vaters.“

„Jetzt verstehe ich. Ich habe mich schon gefragt, weshalb du bei ihr lebst.“

„Wo soll ich denn sonst hin? Mein Vater ist mit sich selbst beschäftigt, und andere Verwandte gibt es nicht. Meine Großeltern habe ich nie gekannt.“

„Die Eltern meines Vaters habe ich auch nicht gekannt. Ich arbeite, um meiner Mutter ein wenig zu helfen. Sie ist krank. Die Rente, die sie bekommt, ist so gering, dass man kaum davon leben kann. Mein Vater muss zwar Unterhalt bezahlen, aber große Sprünge können wir uns nicht erlauben.“

„Habt ihr denn noch Angehörige?“

„Ja, aber wir haben nur wenig Kontakt zu ihnen.“

Philipp atmete schwer, und Amelie spürte, dass ihn die Probleme sehr belasteten.

„Darf ich fragen, was deiner Mutter fehlt?“

„Klar! Sie hat Rheuma. Manchmal sind ihre Gelenke ganz steif. In dieser Jahreszeit hat sie furchtbare Schmerzen.“

„Kann man denn gar nichts tun?“

Philipp zuckte die Schultern.

„Ich bin kein Arzt. Ich weiß nur, dass sie schon jahrelang in Behandlung ist. Leider nur mit mäßigem Erfolg. Es gibt Tage, da kann sie sich kaum rühren. Im Sommer geht es viel besser.“

Philipp machte dem vorbei eilenden Kellner ein Zeichen.

„Möchtest du noch einen Glühwein?“

„Nein, lieber einen Cappuccino.“

Nachdem er die Bestellung aufgegeben hatte, wandte er sich wieder Amelie zu.

„Dann bist du Weihnachten mit deiner Tante allein?“

„Ja, denn mein Vater kommt bestimmt nicht. Seit meine Mutter tot ist, war er Weihnachten immer im Ausland.“

„Vielleicht möchte er nicht mehr an früher erinnert werden.“

„Mag sein. Ich könnte ihn sogar verstehen. Wenn ich an früher denke, werde ich auch immer traurig. Weihnachten ist es am schlimmsten. Meine Tante gibt sich viel Mühe, aber...“ Amelie schluckte.

„Ich verstehe! Eine Tante ist eine Tante, und Eltern sind Eltern.“

Amelie nickte dankbar. „Ja, das habe ich gemeint. Seit Jahren wünsche ich mir einen Hund, aber sie erlaubt es nicht. Eltern wären bestimmt nicht so hartnäckig.“

„Vielleicht erlaubt der Hausbesitzer es nicht“, wandte Philipp ein.

„Unsinn! Über uns die Familie hat sogar einen Schäferhund. Und eine Nachbarin hat einen Dackel. Am Hausbesitzer liegt es nicht.“

„Warum schaffst du dir nicht ein anderes Tier an? Ein Meerschweinchen oder ein Kaninchen etwa.“

Amelie rückte ein wenig zur Seite, um Philipp besser sehen zu können.

„Ein Meerschweinchen ist zwar niedlich, auch ein Kaninchen, aber ich möchte einen Hund. Einen wie Luna. Das war mein Cocker, weißt du? Luna war immer bei mir. Er schlief sogar auf meinem Bett. Er war der beste Freund, den man sich vorstellen kann.“

„Und warum besorgst du dir nicht einen Hund aus dem Tierheim?“

„Erstens kann ich mir nicht gegen den Willen meiner Tante einen Hund holen, und zweitens...“

„Und zweitens?“

„Ich kann ich nicht ins Tierheim gehen“, erwiderte Amelie trotzig.

„Wieso denn nicht? Im Tierheim bekommst du einen Hund für ein paar Euro. Und du tust noch ein gutes Werk.“

„Ich weiß, Philipp, aber ich bringe es einfach nicht fertig. Verstehst du denn nicht? Am liebsten nähme ich alle Tiere mit nach Hause. Ich könnte mich nie entscheiden. Außerdem möchte ich unbedingt einen Cocker — einen ganz winzig kleinen. Jung muss er sein, denn...“

Wieder brach Amelie ab und biss sich auf die Lippen.

Philipp streichelte beruhigend ihre Schulter. Längst hatte er verstanden, weshalb es unbedingt ein Hundebaby sein musste.

„Was kostet denn so ein Cocker?“

„Ziemlich viel“, bekannte Amelie kleinlaut. „Ich kenne eine Frau, die Cocker züchtet. Ihre Hündin hat vor kurzem geworfen. Vom ganzen Wurf hat die Züchterin aber leider nur noch einen einzigen Welpen. Er heißt Rocky und ist unbeschreiblich süß. Am Wochenende war ich mit Lisa, das ist meine Freundin, bei der Frau und habe Rocky besucht. Leider kostet Rocky dreihundert Euro. Die kann ich niemals bezahlen.“

„Und wenn du noch einmal mit deiner Tante sprichst? Oder mit deinem Vater? Du bekommst doch bestimmt Weihnachtsgeschenke, oder?“

„Habe ich doch längst“, erwiderte Amelie heftiger als beabsichtigt. „Ich habe meinem Vater geschrieben, dass ich gern einen Hund hätte. Und mit Tante Charlotte habe ich stundenlang geredet. Sie meint, ich bräuchte dringend neue Kleidung. Und ein Hund kostet eine Menge Geld — Futter, Arzt und so. Dabei sind das nur Ausreden. Ich brauche keine Kleidung. Meine Tante will nur nicht, dass ein Hund ins Haus kommt. Dabei würde ich mich um ihn kümmern.“

„Am Vormittag, wenn du in der Schule bist, müsste sie deinen Hund aber versorgen“, gab Philipp zu bedenken.

„Nein! Das müsste sie nicht. Jedenfalls nicht unbedingt. Wenn ich etwas früher aufstehe, kann ich selbst mit ihm spazieren gehen.“

Amelie sah auf die Uhr.

„Um Himmels willen! Ich sitze hier und rede. Tante Charlotte wird sich Sorgen machen.“

„Bist du mit deiner Vespa da?“

„Nein. Ich habe mich nicht getraut. Heute Morgen sprang sie schon wieder nicht an. Es mag die Kälte sein.“

„Am Wochenende habe ich Zeit, Amelie. Wenn du willst, sehe ich mir deine Vespa einmal genau an.“

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