Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1

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From the series: Dreizehn -13- #1
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»Warum nicht?«

»Der Wurmgott sagte, wer die Zukunft kennt, kann sie verändern. Noch sind wir ihr einen Schritt voraus. Doch je mehr wissen, wann die Norn kommen wird, desto größer ist das Risiko, dass wir durch unser Handeln den Zeitpunkt ihres Erscheinens ändern.«

Waterstone genoss die musikalische Untermalung seines Heims. Hatte er sich anfangs beschwert, einer weiteren Person von außerhalb Zuflucht gewähren zu müssen, schloss er Amrei mit der Zeit ins Herz. Er bezeichnete sie Emily Moore, der Solistin der Treedsgower Philharmoniker, als ebenbürtig und bat sie mehr als einmal, ihm etwas vorzutragen.

Jasper hingegen nannte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Tunichtgut. Zugegebenermaßen zeigte sich der Izzianer nicht von der besten Seite. Er beteiligte sich, wenn überhaupt, nur widerstrebend an unserer Arbeit, durfte das Haus aber auch nicht verlassen, was dazu führte, dass er sich aus Langeweile weiter über Waterstones Vorräte hermachte. Er behauptete, zum Rauchen in die Kanalisation hinabzusteigen, doch haftete den Möbeln in seinem Zimmer ein unverkennbarer Geruch nach Zigarette an. Dazu kam, dass er sich an mehreren Abenden bis zur Besinnungslosigkeit betrank, bis Waterstone sich weigerte, June loszuschicken, um ihm Schnaps zu besorgen, und seinen Weinvorrat einschloss. Er hätte ihm wohl auch die Zigaretten verweigert, hätte Jasper nicht geschworen, dass er dann schnurstracks zum Konstabler gehen würde.

»Wozu brauchen wir ihn?«, beschwerte sich der Professor bei mir. »Er macht nur Ärger. Lass June ihn auf die andere Seite der Mauer bringen.«

»Ich bin mir sicher, dass er sich noch als nützlich erweisen wird«, entgegnete ich. »Er hat ein traumatisches Erlebnis hinter sich. Gib ihm ein wenig Zeit.«

Jasper reagierte spöttisch, wenn ich die Beschwerden des Professors an ihn weitergab. »Der Mann hat einen Stock so tief im Arsch, dass du ihn in seinem Rachen sehen kannst«, meinte er. »Wer, denkt er, bin ich? Einer seiner Zöglinge, die er belehren kann?«

»Du bist sein Gast«, knurrte ich, darum bemüht, nicht die Geduld zu verlieren. Probleme der Art, die sich mit Gewalt lösen ließen, waren mir eindeutig lieber.

Die Einzige, der gegenüber Jasper sich wie ein Gentleman verhielt, war Amrei. Die Violinistin reagierte zurückhaltend, auch wenn ich ihr anzumerken glaubte, dass ihr die Aufmerksamkeit gefiel. Wann immer ihn die Langeweile dazu trieb, stieg der Izzianer in den Keller hinab, um Amrei in ein Gespräch zu verwickeln.

»Willst du deinen Vater nicht wissen lassen, dass es dir gut geht?«, hörte ich ihn die Violinistin fragen, als ich den Keller auf dem Weg zur Bibliothek von Ad Etupiae durchquerte. »Er macht sich sicher Sorgen um dich.«

Amrei zögerte. »Der Wurmgott hat mir davon abgeraten.« Sie klang erstickt. »Er meinte, mein Vater würde mir nicht glauben, wer ich bin. Er würde es für einen schlechten Scherz halten und mich fortschicken. Ich werde wohl früher oder später zu ihm gehen, aber auf keinen Fall bevor wir die Norn geschlagen haben. Unser Widersehen könnte mich durcheinanderbringen.«

Die Suche nach brauchbaren Schriftstücken über die Alchemie sollte sich als eine der härtesten Geduldsproben meines Lebens herausstellen. Die Bibliothek hätte nicht besser sortiert sein können, doch die schiere Menge an Werken stellte ein ernüchterndes Problem dar. Allein zum Thema Alchemie gab es tausende Bücher. Zu meiner immensen Erleichterung gelang es Waterstone, eine Ausgabetafel neben dem Register an der Wand zu reaktivieren, die gezielt Teile der synaígischen Matrix sichtbar machte. Norin hatte sie mit keinem Wort erwähnt, weshalb ich vermutete, dass sie erst zu einem späteren Zeitpunkt dort angebracht worden war. Zwar zeigte mir auch Rocíos Trank die Runenmatrix, doch präsentierte sie sich durch das dritte Auge als ein unsteter Fluss aus Schriftzeichen. Sich darin zu orientieren, war genauso schwer, wie einen Crayon auf der Fingerspitze zu balancieren. Welcher Ausschnitt der Runenmatrix auf der Tafel sichtbar wurde hingegen, ließ sich über eine Formel auf einer in mehrere Glieder unterteilten Leiste am unteren Tafelrand einstellen. Manche Glieder ließen sich herausnehmen und durch andere ersetzen. Unter anderem konnte man so das Register der Bibliothek in goldenen Schriftzeichen auf der granitgrauen Oberfläche anzeigen lassen und sogar nach Stichworten suchen.

Während ich die Tage damit verbrachte, Bücher zu wälzen, fragte ich mich, wie sich jemand freiwillig dazu entschließen konnte, studieren zu gehen. Wie Malcolm und Clive mir berichteten, verbrachten sie abgesehen von gelegentlichen Ausschweifungen so ihren Alltag. Ich hingegen stieß schon nach nur wenigen Vierteln an meine Grenzen, und wäre es nicht für Emily gewesen, hätte ich wohl längst aufgegeben. Die Energie, die in meiner Vergangenheit regelmäßig in handfeste Auseinandersetzungen geflossen war, staute sich vor den langweiligen und Schutz bietenden Mauern des Universitätsviertels. Ich erwischte mich mehrmals dabei, wie ich mit dem Gedanken spielte, ins Hafenviertel zu gehen und mich mit Damon zu prügeln, bloß um ein bisschen Dampf abzulassen. Nach zwei Monaten der ergebnislosen Suche ließ die Vorstellung, dass die Hibridia sich einen schlechten Scherz mit mir erlaubt hatte, als sie mir die Bibliothek von Ad Etupiae gezeigt hatte, mich ernsthaft zweifeln, dass ich auf dem richtigen Weg war. Sie hatte mir damals verkündet, dass ich die Antwort auf meine Fragen hier oder gar nicht finden würde.

Als ich am Abend des ersten Blätterfalls in die Bibliothek hinabstieg, um das jüngste alchemistische Werk gegen das nächste auf meiner Liste auszutauschen, traf ich Waterstone vor der Ausgabetafel beim Register an. Er und Bennett verbrachten viel Zeit damit, sie auf weitere Funktionen zu erforschen. Unter anderem war es ihnen gelungen, sich den Energiebedarf aller in der Bibliothek vorhandenen synaígischen Verbraucher ausgeben zu lassen.

»Bei Zuris!«, rief der Professor erschrocken, als ich ihn grüßte. »Schleich dich doch bitte nicht so an, Albert.« Er nannte mich immer noch bei meinem Decknamen; vermutlich, weil Bennett es nicht gutheißen würde, dass er mit einem der meistgesuchten Verbrecher des Landes zusammenarbeitete.

Waterstones Blick fiel auf das Buch in meinen Händen. »Immer noch keinen Erfolg?« Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht darum herumgekommen, dem Professor zu erzählen, wonach ich suchte. Aller Wunder zum Trotz, zu denen die Synaígie befähigte, hatte Waterstone daraufhin bloß den Kopf geschüttelt und achselzuckend kommentiert: »Wenn du deine Zeit vergeuden möchtest, werde ich dich nicht aufhalten.«

Auch jetzt bedachte er mich mit einem mitleidigen Blick, den ich ihm am liebsten vom Gesicht gewischt hätte. Offenbar erwog er, einmal mehr zu versuchen, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Dann jedoch seufzte er und wandte sich wieder der Tafel zu. Ich warf das Buch auf den wachsenden Haufen neben dem Register. Längst hatte Waterstone aufgegeben, mir den Anstieg des Energieverbrauchs aufzuzeigen, der durch meinen nachlässigen Umgang mit den Werken der Bibliothek entstand, oder mich dafür zu rügen, dass ich sie nicht wieder einsortierte.

»Warte mal!«, rief der Professor, als ich mich anschickte, ein weiteres Mal zwischen den turmhohen Regalreihen abzutauchen. »Sieh dir das hier bitte einmal an.« Ich wandte mich um und ließ den Blick über die goldenen Schriftzeichen auf der Ausgabetafel wandern. Wie immer, wenn ich in die Bibliothek hinabstieg, hatte ich mir zuvor das dritte Auge durch Rocíos Trank öffnen lassen. Flüsternd teilten mir die Runen ihre Bedeutung mit. Die Ausgabetafel zeigte den Energiebedarf der Verbraucher an.

»Fällt dir irgendwas auf?«, fragte Waterstone.

»Der Energieverbrauch in Gang 13 ist höher als in allen anderen Gängen«, erwiderte ich.

Waterstone nickte. »Ich kann nicht genau sagen, wo in dem Gang, daher wollte ich ihn aufs Geratewohl abfahren.«

»Das nächste Buch auf meiner Liste befindet sich auch dort«, entgegnete ich. »Wir können zusammen gehen.«

Wenig später betraten wir einen der Aufzüge. Die Kabine ließ sich über ein simples Steuerkreuz bedienen, das sie entlang eines rasterförmigen Schienennetzwerks lenkte. Jeder von Schienen eingegrenzte Bereich wurde durch eine Zahl als Höhenmarker und einen Buchstaben als Tiefenmarker gekennzeichnet. Das Register verriet, in welcher Kombination aus Zahlen und Buchstaben welches Buch zu finden war.

Während wir langsam vorwärtsfuhren und anschließend aufstiegen, erwachten synaígische Lampen an den Unterseiten der Regalbretter zum Leben, sobald die Kabine in ihre Nähe gelangte, und verloschen, wenn wir sie hinter uns ließen – noch etwas, das nicht hier gewesen war, als Norin diesen Ort betreten hatte. In regelmäßigen Abständen passierten wir Reihen von Löchern im Metall der Schienen – gerade groß genug, dass eine Zigarette hineingepasst hätte. Waterstone, der Werke über die Bibliothek studiert hatte, vermutete, dass es sich dabei um ein Abwehrsystem gegen Enerphagen handelte. Sogenannte Silberfischfolklore machten sich offenbar liebend gerne über Schriftstücke aller Art her. Dabei vernichteten sie die Materie des Papiers, weshalb der Schaden irreversibel war. Die Folklore-Vernichter lockten die Geschöpfe mit synaígischer Energie. Sobald sie versuchten, sich in eines der Löcher zu zwängen, fuhr eine dreißig Zentimeter lange Nadel aus Messing daraus hervor, spießte sie auf und jagte synaígische Stromstöße durch ihren Leib, bis sich ihre Substanz auflöste.

»Dort!«, rief Waterstone, während er sich aus der Kabine lehnte, und deutete nach oben. Auch ich steckte den Kopf ins Freie, sah aber außerhalb des Scheins der synaígischen Lampen nur Schwärze und die Flut aus Runen, die mir das dritte Auge offenbarte.

Dann zuckte ein Blitz durch die Dunkelheit, begleitet von einem fernen Knall.

 

»Hast du das gesehen?«, fragte Waterstone aufgeregt. Ich nickte, war für meinen Teil aber nur beunruhigt. Hinter allem eine Gefahr zu vermuten, war Teil meines Wesens. Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf, und eine ungute Vorahnung brachte jede Zelle meines Körpers in Alarmbereitschaft.

»Sei vorsichtig«, murmelte ich und legte die Rechte auf den Griff meines Revolvers.

»Vorsichtig?«, wiederholte Waterstone und lachte nervös. »Was kann uns hier schon erwarten?«

Wieder blitzte es über uns.

Ich überlegte, die Kabine anzuhalten, entschied mich aber dagegen. So würde ich dem Feind nur verraten, dass wir etwas ahnten. Vielleicht konnten wir zu unserem Vorteil nutzen, dass er glaubte, uns überraschen zu können.

»Hör auf, mich verrückt zu machen, Albert«, sagte der Professor, als ich mich beim nächsten Blitz mit wachsamer Miene hinter die hüfthohen Kabinenwände duckte. Inzwischen waren wir der Quelle so nahe, dass wir einen Regen gelber Funken sehen konnten, der jeden Blitz begleitete. Ich legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete dem Professor, ebenfalls in die Hocke zu gehen, indem ich am Ärmelsaum seines Sakkos zog. Waterstone blickte mit hochgezogenen Brauen zu mir hinab. Seine Miene änderte sich schlagartig, als wir ein Röcheln wie aus der Kehle eines Untoten hörten. Er kauerte sich in eine Ecke der Kabine und starrte mich mit aufgerissenen Augen an. Noch einmal legte ich einen Finger auf die Lippen. Auf Höhe des Blitzes angelangt wanderte meine Hand zum Steuerkreuz, um die Kabine anzuhalten. Ich ignorierte Waterstones stummes Kopfschütteln und wir kamen mit einem Ruck zum Stehen.

Wieder blitzte es. Wir waren der Quelle nun so nahe, dass einer der Funken in unsere Kabine trudelte. Die Hand auf dem Griff der Pistole wagte ich, einen Blick über den Kabinenrand zu werfen. Das Licht der synaígischen Lampen fiel auf einen Mann, der von einem der Folklore-Vernichter aufgespießt worden war. Die dünne Messingnadel hatte sich in seine nackte Brust gebohrt und ragte aus seinem Rücken. Er musste das selbstmörderische Unterfangen auf sich genommen haben, an dem Bücherregal hinaufzuklettern. Anders war nicht zu erklären, wie er hierhergelangt war. Seine Haut war weiß wie die eines Perlsüchtigen und spannte sich über einen muskulösen Oberkörper. Auf seinem Oberarm befand sich ein Brandzeichen in Form einer Waage. Er lebte noch. Mit beiden Händen umklammerte er die Nadel, die in seinem Leib steckte. Gerade, als er die Armmuskeln anspannte, um sich davon herunterzuschieben, jagte der Folklore-Vernichter einen weiteren synaígischen Schlag durch seinen Körper. Es knallte, gelbe Lichtbögen umspielten den Unbekannten und Funken regneten in die Tiefe. Sein Leib erschlaffte und einige Sekunden lang hing er wie ein Hühnchen am Spieß da und atmete röchelnd.

Ich zog meine Pistole und richtete sie auf den Mann. »Hey!«, rief ich. Der Unbekannte wandte den Kopf und erst jetzt bemerkte ich, dass dort, wo seine Augen hätten sein sollen, nur leere schwarze Höhlen waren. Der Mann bleckte die Zähne, die lang und nadelspitz waren, und streckte seine Hände mit Fingern, die in klauenähnlichen Nägeln endeten, nach mir aus. Meine Stimme schien ihn wild zu machen. Er strampelte in der Falle, warf den Kopf hin und her und schlug durch die Luft, bis ein weiterer Stromstoß ihn kurzfristig aller Kraft beraubte.

»Wer … was ist das?«, fragte Waterstone heiser, der sich gerade so weit hinter seiner Deckung hervorwagte, dass er das Monster sehen konnte.

»Ein Experiment deines geschätzten Kollegen Schwarzberg«, entgegnete ich grimmig. Vor dem Massenausbruch aus Sankt Laplace waren sie im Keller der Nervenheilanstalt eingesperrt gewesen. Angeblich hatte Schwarzberg dort seine misslungenen Experimente eingeschlossen, doch fragte ich mich in diesem Moment, ob es sich nicht in Wahrheit um das genaue Gegenteil handelte.

»Schwarzberg hat …«, setzte Waterstone an, doch ein Schuss aus meinem Revolver verwandelte den Rest des Satzes in einen Schrei. Die Kugel riss Schwarzbergs Experiment den halben Kopf weg. Blutige Fetzen sprenkelten die Buchrücken und verloren sich in der Tiefe. Die Bewegungen des Monsters erschlafften. Waterstone wandte den Blick ab, als sich die Nadel des Folklore-Vernichters wieder ins Loch der Schiene zurückzog und der Tote lautlos hinabstürzte. Ich sah ihm nach, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Er löste sich nicht in schwarzen Rauch auf, wie Nikandros es nach seinem Tod getan hatte. Also war er kein Enerphag gewesen? Wieso hatte der Folklore-Vernichter dann auf ihn reagiert?

»Du … du hast ihn getötet«, stammelte Waterstone. Er sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden.

»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte ihm die Chance gegeben, sich aus der Falle zu befreien?«, entgegnete ich. Ich war dem Gedanken nicht abgeneigt gewesen, mich ein paar Stunden lang der Aura des Wesens zu widmen. Doch eine meiner grundlegendsten Überlebensregeln lautete, nicht zu zögern. Töte deine Feinde, ehe sie dich töten. »Du kannst beruhigt sein: Ich bezweifle, dass der unglückliche Mann, der er einmal war, bevor er Schwarzberg in die Hände fiel, noch existierte. Ich vermute, dass ein Enerphag in ihm steckte. Nur das erklärt, warum der Folklore-Vernichter ihn aufgespießt hat.«

»Ein Enerphag? In ihm? Du meinst, sie können … von … von Menschen Besitz ergreifen?« Es kostete ihn offenbar große Mühe, den Satz zu Ende zu bringen.

»Für gewöhnlich nicht.« Nicht, wenn ich Norins Memoiren trauen durfte. »Schwarzberg muss es irgendwie gelungen sein, den natürlichen Schutzmechanismus des Verstandes dieser Männer und Frauen zu umgehen.«

»Es gibt noch mehr davon?« Der Professor sah aus, als würde ihm schlecht.

Ich erwiderte seinen Blick mit ernster Miene und nickte. »Viel mehr.«

»Woher weißt du das?«

»Ich war dort. Ich habe sie gesehen.«

»Du warst dort? Wann?« Waterstones Augen weiteten sich, als ihm offenbar ein Licht aufging. »Du hast doch nichts mit dem Massenausbruch zu tun, oder?«

»Ich habe damit zu tun …«, sagte ich, und Waterstone stöhnte auf. »… aber nicht ich habe die Irren befreit. Das waren ein Kerl namens Uther und Schwarzberg selbst.«

»Schwarzberg …«, murmelte Waterstone. »Das kann nicht sein. Er ist ein ehrenwertes Mitglied des Senats der Treedsgow University.«

Ich schnaubte freudlos. »Ich verstehe nicht viel von Ehre, aber Schwarzberg ist ohne Zweifel die Personifikation des Gegenteils.«

Der Professor schüttelte den Kopf. »Du musst dich irren. Was hattest du überhaupt in der Anstalt zu suchen? Woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?« Während er im Folgenden jeden Gedanken verbalisierte, der ihm durch den Kopf ging, fiel mein Blick auf ein Buch hinter ihm, dessen Rücken aus der Reihe der anderen hervorstach. Ich ging an ihm vorbei und zog es aus dem Regal. Ein zusammengefaltetes Stück Papier steckte wie ein Lesezeichen darin. Es war beschriftet: nicht mit Runen, auch nicht mit guntrischen Buchstaben, nein, nicht einmal die Handschrift war mir fremd. Als ich das Papier herauszog und auseinanderfaltete, erkannte ich, dass ich nicht nur die nächste Seite von Williams Tagebuch gefunden hatte, sondern die nächsten beiden. Ich ballte die Hand zur Faust, wobei ich die Seiten zerknüllte, und blickte mit wütender Miene dorthin, wo vorhin noch eines von Schwarzbergs Experimenten gehangen hatte. Hatte dieses Monster die Seiten hier platziert? War Schwarzberg derjenige, der sie mir zukommen ließ? Aliona hatte angedeutet, dass mich jemand für seine Zwecke missbrauchte. Es wäre mir wohl egal gewesen, solange ich am Ende bekam, was ich wollte. Wenn es sich jedoch dabei um Schwarzberg handelte, änderte das alles. Ich war mir nicht sicher, ob ich den ehemaligen Leiter von Treedsgows Nervenheilanstalt nicht sogar noch mehr hasste als Damon, den Banditenanführer.

Andererseits wusste ich nicht mit Sicherheit, ob Schwarzbergs Experiment die Seiten hierhergebracht hatte. Vielleicht war es gekommen, um zu verhindern, dass ich sie fand. Bei der Vorstellung, dass der Folklore-Vernichter seine Mission zum Scheitern gebracht hatte, spürte ich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Weg meine Kehle hinauf. So oder so würde ich die Seiten lesen.

Während Waterstone noch immer auf mich einredete, betätigte ich das Steuerkreuz und die Kabine setzte sich wieder in Bewegung. Die nächsten Seiten von Williams Tagebuch hatten den Grund, aus dem ich hierhergekommen war, aus meinen Gedanken vertrieben. Ich holte ein Zigarettenetui aus der Brusttasche meines Hemdes, steckte mir eine Zigarette zwischen die Lippen und entzündete sie mit einem Streichholz. Dann ließ ich mich auf dem Boden der Kabine nieder und widmete mich den Tagebuchseiten. Waterstone begriff, dass keines seiner Worte zu mir durchdrang, und stellte sein zusammenhangloses Geplapper ein.

Das Tagebuch

5. Winterwinde 1713, Stahltag

Ich wünsche mir mein altes Leben zurück, in dem ich noch nichts von der Alchemie wusste. In dem Geister und Zauberei nur Geschichten waren, und in dem niemand, den ich liebe, gestorben war …

»Wir haben es fast geschafft, William«, sagte M-Punkts Marionette. »Uns fehlt noch eine wichtige Zutat: eine Lotinsrose.«

»Wo wachsen solche Rosen?«, fragte ich müde. Ich wünschte mir nichts sehnlicher herbei als den letzten Tag, den ich in Gesellschaft der untoten Emily und der verwesenden Marionette verbringen würde.

»Sie wachsen nur, wenn ein Opfer gebracht wird. Sobald du das getan hast, kann ich dir sagen, wo.«

»Was für ein Opfer?«

»Dein engster Freund.«

»Wie bitte?«

»Du musst deinen engsten Freund opfern, um das Mädchen zurückzubekommen, das du liebst.«

»Opfern? Ich … soll ihn töten?« Ed? Ich blickte zu der Marionette auf. Hoffte, dass ich sie falsch verstanden hatte. Sie nickte ungelenk, und ich erschauerte. »Das kann ich nicht«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Ich bin kein Mörder.«

Die Marionette betrachtete mich eine Weile schweigend und mit ausdrucksloser Miene. »Macht es dich nicht ebenso zum Mörder, wenn du Emily die Chance verwehrst, ins Leben zurückzukehren?«, entgegnete sie schließlich. Was für eine absurde Logik!

»Es muss eine andere Möglichkeit geben!«

»Es gibt keine andere Möglichkeit.« Wir maßen einander mit Blicken.

Dann schüttelte ich den Kopf. »Ich bin raus.« Die Verzweiflung trieb mir Tränen in die Augen. All die schrecklichen Stunden, die ich in diesem Kellerloch verbracht hatte, für nichts!

»William …!«

»Ich hätte längst zum Konstabler gehen sollen!« Ehe die Marionette etwas erwidern konnte, floh ich aus dem Raum. Das Flämmchen der Hoffnung, Emily je lebend wiederzusehen, war verloschen. Erst jetzt wurde mir klar, dass nicht die Liebe, die ich für sie empfand, der alleinige Grund war, warum ich sie ins Leben zurückholen wollte. Sie war diejenige, die mein Leben wieder richten konnte. Wäre sie bei mir, würde sie meine Hände halten und mir versichern, dass ich nicht verrückt geworden war – dass das, was ich erlebt hatte, Teil einer Welt war, die sich den Blicken der meisten entzog.

Zu Hause erwartete mich Ed mit einer Flasche dannischem Whisky. »Wir haben seit Vierteln kaum gesprochen, Mann«, sagte er. »Ich mache mir Sorgen um dich. Ich kann ja verstehen, dass Emilys Verschwinden dich mitnimmt, aber du musst auch an dich selbst denken.«

»Ich weiß, wo Emily ist, Ed«, sagte ich, ohne nachzudenken. Ich konnte das, was im Keller der Universität vor sich ging, nicht länger für mich behalten.

»Du weißt, wo sie ist?«, wiederholte Ed ungläubig. Ich nickte. Die Stimme der Vernunft ignorierend bedeutete ich ihm stumm, mir zu folgen.

Wenn er erst sieht, was ich gesehen habe, wird er nie wieder in sein normales Leben zurückkehren können, dachte ich. Doch ich wollte mit dem Wissen um die übernatürlichen Dinge, die existierten, und dem Horror im Keller der Universität nicht länger alleine sein. Wir verließen die Wohnung und betraten wenig später Raum 21.

»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Ed, während ich nach der Gasleuchte tastete. »Wo kommen die ganzen Fliegen her?« Er erstarrte, als die Flamme zum Leben erwachte, und er die in der Luft schwebende Marionette sah. Sie rührte sich nicht.

»Ist das ein Trick?« Er ging einmal um die schwebende Gestalt herum und sah zu mir. »William … ist er … ist er tot?« Seine Hände zitterten. »Erklär mir, was hier los ist!«

Ich hatte gerade den Mund zu einer Antwort geöffnet, als die Marionette urplötzlich zum Leben erwachte. Ihre Hände schnellten vor und schlossen sich um Eds Kehle.

 

»Nein!« Panisch blickte ich mich um. Ich packte den Kolben einer Retorte vom Arbeitstisch und schleuderte sie nach der Marionette. Das Glas zerbrach an ihrem Schädel. Splitter bohrten sich in ihre Gesichtshaut und Augen, aber sie ließ nicht locker. Ed würgte und zerrte an ihren Händen. Als er damit keinen Erfolg hatte, kämpfte er sich die Marionette hinter sich herziehend zum Arbeitstisch vor. Nackte Angst beherrschte seinen Blick. Hektisch suchte er zwischen den Instrumenten und Glasgefäßen nach etwas, mit dem er sich verteidigen konnte. Er schob mehrere Gegenstände über die Tischkante, ehe er ein Messer fand. Soeben stürmte ich vor, um die Marionette von hinten zu packen, als Ed sich herumwarf und blind zuschlug. Er zog mir die Klinge quer übers Gesicht. Ich schrie vor Schreck und Schmerz auf und stolperte rückwärts. Blut lief mir in die Augen und verschleierte meine Sicht. Die Klinge hatte meine rechte Augenbraue zerteilt, den Nasenflügel geöffnet und die Lippen gespalten. Wimmernd presste ich mir die Hände aufs Gesicht, während Eds Würgen schwächer wurde.

»Lass ihn los!«, rief ich, wischte mir Tränen und Blut aus dem Auge und stürmte vor. Ich packte die Marionette um die Hüften und zerrte an ihr, wie um die unsichtbaren Fäden zu trennen, durch die sie gelenkt wurde. Ich schlug mit den Fäusten auf sie ein und zerrte an ihren Fingern, die sich unerbittlich um Eds Kehle schlossen. Doch die Marionette ließ erst von ihm ab, als er sich nicht mehr rührte. Schluchzend ging ich vor meinem toten Freund auf die Knie. Rief seinen Namen und tastete nach seinem Puls. Das durfte nicht wahr sein!

»Du Mistkerl!«, brüllte ich die über uns schwebende Gestalt an. Ihre Miene war leer wie immer. Glühende Wut ließ mich den Schnitt in meinem Gesicht vergessen. Schreiend sprang ich auf und fing an, mit allem, was ich fand, auf die Marionette einzudreschen. Reglos wie eine Puppe ließ sie meinen Hass über sich ergehen, bis ich von Trauer überwältigt erneut auf die Knie ging. Kaum dass meine Raserei ein Ende fand, schlängelten sich Flammen des Schmerzes aus der Wunde in meinem Gesicht und schlugen höher und höher.

»Du kannst mich hassen«, sprach die Marionette. »Aber lass den Tod deines Freundes nicht umsonst gewesen sein. Hilf mir, Emily wiederzubeleben.« Emily … Der Gedanke an sie gab mir Kraft. Zugleich verspürte ich erneut das Verlangen, M-Punkt dafür, dass er mich zwang, nach seinen Regeln zu spielen, bezahlen zu lassen. Ich erhob mich, wischte mir erneut das Blut aus dem rechten Auge und starrte die Marionette feindselig an.

»Das werde ich«, sagte ich. »Aber danach werde ich dich finden, M-Punkt, und den Tod meines Freundes rächen.« Das Gesicht der Marionette war ausdruckslos wie immer, doch ich glaubte, dass eine erschrockene Pause auf meine Worte folgte.

»Ich werde den Toten beseitigen«, sagte die Marionette schließlich, packte Ed am Handgelenk und hob ihn hoch. Sie schleifte ihn zu der großen Truhe neben der zugemauerten Eingangstür, öffnete sie und ließ ihn darin verschwinden. Ich wandte den Blick ab und kämpfte gegen den Drang an, mich zu einer Kugel zusammenzurollen und schluchzend auf dem Boden zu wiegen. Schweigend wartete ich darauf, dass sie mir sagte, was der nächste Schritt war.

»Was ist nun zu tun?«, fragte ich, nachdem die Marionette eine geschlagene Minute leblos in der Luft gehangen hatte. »Wo finde ich die Lotinsrose?«

»Gib mir einen Moment«, antwortete sie.

Mehrere Minuten vergingen in qualvoller Stille. Schließlich wandte sich die Marionette zu mir um.

»Du musst nach Vision gehen«, sagte sie tonlos. »Du findest die Rose in einer Höhle, die Iduns Herz genannt wird.«

»Vision? Wo ist das?« Die Marionette schwieg. »Antworte mir!« Doch die Gestalt verharrte leblos, während die Fliegen sich in großer Zahl über die Körperflüssigkeiten hermachten, die aus ihren unzähligen Schnitt- und Platzwunden liefen. Der Anblick verursachte mir Übelkeit. Ich gab dem Wunsch nach, Raum 21 zu entkommen, und floh nach draußen. Zurück in meiner und Eds Wohnung leerte ich die Flasche dannischen Whiskys und schlief an unserem Esstisch ein.

Es ist meine Schuld, Emily. Ich habe Ed in den Keller der Universität geführt. Ich redete mir ein, dass von M-Punkt keine Gefahr für ihn ausginge – dass nötig war, dass ich ihn töte, um dich wiederzubeleben. Ich habe sein Leben aufs Spiel gesetzt, bloß um das Wissen um übernatürliche Dinge zu teilen. Dabei hätte ich jeden anderen bitten können, mich dorthin zu begleiten … Oliver, Scott, Malcolm oder Clive …

Ich bin am Ende. Es tut mir so leid. Ich konnte deinen Tod nicht akzeptieren und habe alles nur schlimmer gemacht. Nun bin ich allein. Du und Ed, die beiden Menschen, die mir am nächsten standen, sind tot. Und jeder andere Mensch in Treedsgow lebt in einer anderen Welt – eine, die so normal und sorglos ist wie mein altes Leben.

W. D. Walker