Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1

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From the series: Dreizehn -13- #1
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End

Ich hob den Blick und atmete den Rauch des letzten Zuges aus. Meine Augen fixierten einen Punkt an der Fassade des gegenüberliegenden Hauses, ohne ihn zu sehen. Dass ein Folklore in den Leichnam meiner Schwester eingezogen war, waren höchst beunruhigende Neuigkeiten. Ich erinnerte mich lebhaft an Norins Beschreibung von Tieren, in deren Köpfen ein Enerphag steckte: Mutationen, Haarausfall und offene Wunden, in denen es von Würmern nur so wimmelte, hatten zu den gängigsten Begleiterscheinungen gezählt. Das musste bei Emily nicht auch der Fall sein, war sie doch ein Mensch, zudem tot und gefroren.

Ich las die letzten Zeilen noch einmal. Dass dieser M-Punkt Emilys Leichnam mit Leben gefüllt hatte, mochte erklären, warum sie nicht mehr in der Gefrierkammer war. Nur, wo war er hingegangen? Er konnte wohl kaum durch die Straßen von Treedsgow spaziert sein. Zumal sich die Frage stellte, ob der Verwesungsprozess außerhalb der Gefrierkammer nicht wieder einsetzte.

Wenn ich doch nur die nächste Seite schon hätte. Ich zweifelte nicht daran, dass sie mir früher oder später in die Hände fallen würde. Irgendjemand ließ sie mich finden, vermutlich, weil mein Handeln der Person in die Karten spielte. Solange ich bekam, was ich wollte, war es mir gleich.

Ich schnippte die Zigarette auf die Straße und kehrte zurück in Waterstones Haus. Im Flur begegnete mir Rocío.

»Waterstone und ich haben die Bibliothek von Ad Etupiae erkundet, während du geschlafen hast«, sagte sie. Sie hob die Hand, wie um sich das Haar hinters Ohr zu streichen, das ihr vernarbtes Auge verdeckte. Als würde sie sich auf halbem Wege bewusst, was sie im Begriff war zu tun, wechselte sie die Richtung und kratzte sich am Hals.

»Es gibt ein Register, das es uns erheblich leichter machen wird, uns zu orientieren«, fuhr sie fort. »Wir werden allerdings deine Gabe als Arboris brauchen, da ich nicht alle Runen übersetzen kann.«

Ich nickte knapp. Auch ich kannte die Runenschrift der Segovia nicht. Wenn ich aber Rocíos Trank zu mir nahm, der mein drittes Auge für die Auren aller Dinge öffnete, flüsterten mir die Schriftzeichen ihre Übersetzung zu. Offenbar gehörte dies ebenso zu den Gaben eines Arboris, wie das Flüstern der Bäume im Wind zu verstehen. Ich würde Waterstone nicht aus Gefälligkeit helfen – das war eines der Worte, deren Bedeutung sich mir immer noch entzog. Es war ein unausgesprochener Deal: Er gewährte Rocío und Jasper Zuflucht. Ich übersetzte die Runen und half ihm bei seinen Berechnungen.

»Hast du alles, was du brauchst, um mehr von deinem Trank herzustellen?«, forschte ich nach.

»Mein Kessel ist noch halb voll damit«, erwiderte die Alchemistin. »Solange ich nichts anderes braue, müssen wir ihn nur mit frischem Quellwasser füllen, sobald der Trank zur Neige geht, und vielleicht mit der ein oder anderen Zutat auffrischen. Ich werde mir ein Labor im Keller der Universität einrichten.« Damit meinte sie Raum 21, wo zuvor William gearbeitet hatte. Er verfügte über einen geheimen Zutritt zu einem der unter Treedsgow begrabenen Gänge, der wiederrum mit der Kanalisation verbunden war. So konnte sie ungesehen dort ein- und ausgehen.

»Gib mir eine Stunde, dann können wir runtergehen«, sagte ich entschlossen. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, mich über Waterstones Vorräte herzumachen, die noch nicht zwischen Jaspers Kiefern verschwunden waren. »Konnte Waterstone sich damit abfinden, wer ich wirklich bin?«

Rocío zuckte die Achseln. »Er war nicht gerade glücklich darüber. Aber scheinbar bist du von so großem Wert für ihn, dass er es sogar hinnehmen würde, wenn du Black Raven selbst wärst.« Wenn er wüsste, dass ich Raven getötet hatte …

»Wo ist der Professor jetzt?«, wollte ich wissen.

»Er hat das Haus verlassen«, sagte Rocío überrascht. »Du müsstest ihn eigentlich gesehen haben.« Vermutlich war ich so sehr in Williams Tagebuchseite vertieft gewesen, dass ich ihn nicht bemerkt hatte. Meine Alarmbereitschaft ließ in letzter Zeit zu wünschen übrig. »Er wollte noch mehr Leute einweihen, damit sie uns helfen, die Bibliothek zu katalogisieren«, fügte Rocío hinzu. Ich blies die Wangen auf. Vermutlich wollte er sein Kollegium informieren. Nicht, dass ein Trupp aufgeblasener Professoren mich davon abhalten könnte, mich dort umzusehen. Aber sie würden es definitiv versuchen und die Suche nach der Nadel im Heuhaufen zusätzlich verkomplizieren.

»Hat er gesagt, wen?«, forschte ich nach.

»Er sprach von einem Kerl namens Miel«, antwortete Rocío. Ich atmete auf. Miel war ein harmloser Student und einer von Waterstones Vertrauten. Er war außerdem ein Bewunderer meiner Person in der vermeintlichen Rolle des Widersachers von Damon, dem Banditenanführer, und würde gewiss schweigen.

Ich bemerkte, dass Rocíos Mundwinkel zuckten. »Was ist so witzig?«

»Nichts.« Sie winkte ab. »Es ist nur so, dass da, wo ich herkomme, Miel ein Frauenname ist.«

»Woher kommst du?«

»Selvenien«, antwortete Rocío.

»Selvenien?«, wiederholte ich verblüfft. »Das liegt auf der anderen Seite der Welt. Wie kamst du nach Dustrien?«

»Eine lange Geschichte«, sagte Rocío mit wegwerfender Handbewegung. Mehrere Erinnerungen aus dem Unterricht von Rico Fonti fanden mich: Selvenien war zu achtzig Prozent von Dschungel bedeckt. Über die dort lebenden Stämme war außer der Arbeit eines Naturforschers namens August von Tradescant nicht viel bekannt. Fonti hatte uns die Berichte von Tradescant, der mehrere Monate lang von Gemeinschaft zu Gemeinschaft gereist war, gegeben. Emily hatte sie mit Begeisterung gelesen, ich eher widerwillig. Dementsprechend war nicht viel davon hängengeblieben; wohl aber, dass in den meisten selvenischen Gemeinden Narben viel über die Umstände verrieten, von denen sie herrührten. Ich konnte nur mutmaßen, dass Rocíos verätztes Auge nicht gerade von Ehre kündete.

»Wie geht es deinem Auge?«, fragte ich unvermittelt.

Rocío zuckte kaum merklich zusammen. »Besser«, war ihre knappe Antwort.

»Darf ich mal sehen?« Sie rührte sich nicht; auch dann nicht, als ich die Hand hob und ihr Haar zurückstrich. Blickte nur aus traurigen Onyxaugen zu mir auf. Die Haut um ihr linkes Auge sah aus wie geschmolzenes Wachs. Ihre Tätowierung – ein Mosaik aus Recht- und Dreiecken – war in diesem Bereich verzerrt. Auch wenn ihre versenkte Augenbraue in ein paar Vierteln nachgewachsen wäre, würde Rocío nicht zu ihrer einstigen Schönheit zurückfinden. Trotzdem war sie nicht hässlich, wie ich fand. Der Rest der olivfarbenen Haut ihres Gesichts war immer noch makellos. Was die Narbe ihr an Schönheit nahm, fügte sie ihr an Charakter hinzu – etwas, auf das ich im Allgemeinen mehr Wert legte. Immerhin wäre meine erste Liebe, die Piratin Sam, auch nicht als Kandidatin für die Perle des Fouriers in Frage gekommen. Sie war eine gute Kämpferin gewesen und bei nur wenigen Auseinandersetzungen verletzt worden. Auf der anderen Seite war sie auch keinem Streit aus dem Weg gegangen. Ich hatte mich bei jeder Narbe an ihrem Körper gefragt, welche Geschichte dahinterstecken mochte, und es nicht erwarten können, sie auf weitere zu erkunden.

Ich hob die Hand und berührte behutsam die versehrte Haut. Nein, Rocío gefiel mir mit diesem Makel besser als vorher. Einige Sekunden verstrichen in Schweigen, während derer ich erwog, sie zu küssen. Unweigerlich dachte ich an ihren Blick, als Nikandros ihr in der Gestalt meines Spiegelbildes begegnet war und ihr gesagt hatte, dass er Damon getroffen hatte. Ihre Augen hatten sich mit dunkler Trauer gefüllt. Sie hatte geglaubt, dass Nikandros Damon getötet hatte. Dass sie noch etwas für ihn empfand, ließ sich auch dadurch nicht von der Hand weisen, dass sie sich von Nikandros hatte küssen lassen. Er hatte Rocíos Aura durchleuchtet und ihr gesagt, was sie hören wollte: dass ich kein Leben mehr nehmen würde.

Ich zog die Hand zurück, und Rocíos Haar fiel ihr wieder vors Gesicht. Ich fürchtete mich nicht vor ihrer Zurückweisung. Ich wusste schlicht, dass sie den Mann nicht wollte, der ich war. Ich konnte ihr nicht versprechen, ein anderer Mensch zu werden. Nur Emily wäre dazu in der Lage, Licht ins Dunkel meines Wesens zu bringen. Ich war seit Jahren über Leichen gegangen und würde, um meine Schwester zurückzubringen, jetzt keine Umwege machen.

»Lass dir von jemandem einen Ratschlag geben, der seit seiner Kindheit mit einem Gesicht voller Narben gestraft ist«, sagte ich. »Sei stolz auf sie.«

»Du hast gut reden«, erwiderte Rocío bitter, tat einen Schritt zurück und senkte den Kopf. »Deine Narben sind alle sauber verwachsen.«

»Sauber verwachsene Narben haben in Dustrien eine andere Bedeutung als in Selvenien«, hielt ich dagegen. »Ich habe die wenigsten in einem ehrenvollen Kampf davongetragen.« Der Unterrumpf hatte mich vergessen lassen, was Ehre bedeutete. »Entschuldige mich. Ich frage Jasper, ob er uns begleiten wird. Wenn er sich langweilt, verbringt er zu viel Zeit in Waterstones Vorratskammer.« Meine Worte trieben den Anflug eines Lächelns auf Rocíos Lippen.

Sie nickte. »Er hat was davon gemurmelt, er hätte schwarze Nebel von der anderen Seite im Haar, und ist die Treppe hoch.«

Was das zu bedeuten hatte, erfuhr ich wenige Minuten später, als ich das Badezimmer im ersten Stock betrat. Jasper stand vor dem Waschbecken, das mit seinem Haar gefüllt war, eine Zigarette zwischen den Lippen und eine Rasierklinge in der Hand, mit der er über den inzwischen kahlen Kopf schabte.

»Hey Godric! Gut, dass du kommst«, sagte er, wobei die Zigarette in seinem Mund tanzte. »Hab ich hinterm Ohr noch was?«

»Hast du sie noch alle?«, fragte ich wütend.

»Was?«, entgegnete Jasper herausfordernd. »Sind meine Haare, oder? Darf ich mit machen, was ich will.«

 

»Deine Haare sind mir scheißegal«, sagte ich und war mit einem Schritt bei ihm. Ich pflückte ihm die Zigarette aus dem Mund und warf sie ins Waschbecken. »Waterstone hat sich klar ausgedrückt, was das Rauchen im Haus angeht.«

»Ist ja gut«, sagte Jasper gelassen und hob in kapitulierender Geste die Hände. »Jetzt sag schon, sind da noch Haare? Ist ganz schön schwer, sich den Schädel ohne Spiegelbild zu rasieren.« Erst jetzt bemerkte ich, dass Jaspers Ebenbild im Spiegel über dem Waschbecken fehlte. Das machte Sinn, war es doch im Diesseits unterwegs, seit Jasper sich für mich geopfert hatte. Mein Spiegelbild hingegen war dort, wo es hingehörte. Scheinbar setzte die Physik, die für die Existenz eines solchen verantwortlich war, nur so lange aus, wie der Enerphag lebte, der es gemimt hatte. Ich legte eine Hand an das kühle Glas und begegnete dem Blick meiner dunklen Augen. Es waren Augen, die viel Leid gesehen hatten – das meiste davon hatte ich anderen zugefügt. Sie waren dunkel. Traurig. Mörderisch. Aber es waren meine Augen.

Zum ersten Mal, seit mein Spiegelbild angefangen hatte, sich merkwürdig zu verhalten, hatte ich die Gelegenheit, mich ausgiebig selbst zu betrachten. Seit Amrei, die Tochter des Besitzers der Taverne Zum Meeresgrund, mir die Haare geschnitten hatte, waren sie einige Zentimeter länger geworden. Verglichen damit wuchs mein Bart, den ich mir alle drei Tage rasieren musste, wenn ich nicht wie ein Vagabund aussehen wollte, wie Unkraut. Zum ersten Mal musterte ich meine Narben kritisch hinsichtlich ihrer Ästhetik: die Kerbe in meiner Augenbraue, die beiden parallelen Schrammen und der Schnitt in meiner Unterlippe. Sie waren nicht dezent, verunstalteten mein Gesicht aber auch nicht, soweit ich das beurteilen konnte. Nicht einmal mein angefressenes Ohr. Ich wusste aber auch um die Narben an anderen Stellen meines Körpers, für die wulstig noch gar kein Ausdruck war.

Ich tauchte jäh aus meinem Anblick auf, als mir der Geruch verbrannten Haares in die Nase, und Rauch aus dem Waschbecken stieg. Jaspers Haare hatten Feuer gefangen. Ich fluchte und drehte den Hahn auf. Die Flammen verloschen, und während ich mit den Händen die Rauchschleier vertrieb, übersah ich beinahe die verschwommene Gestalt, die sich im Spiegel der Oberfläche näherte. Ich wich zurück und zog meine Machete. Noch nie war etwas Gutes aus den Spiegeln gekommen, und ich hatte keinen Grund, anzunehmen, dass es jetzt anders wäre.

»Scheiße!«, rief Jasper erschrocken aus, als sich die verschwommene Gestalt von der anderen Seite gegen das Glas warf und ein Netz aus Rissen die Oberfläche überzog. Ich spannte die Muskeln an bereit, zuzustoßen, sobald der Neuankömmling durchbräche. Wieder warf sich die Gestalt gegen das Glas. Dieses Mal brach sie in einem Schauer aus Scherben hindurch, stolperte über die Armaturen des Waschbeckens und schlug auf dem Badezimmerboden auf. Fassungslos blickten Jasper und ich auf die junge Frau hinab, die stöhnend vor Schmerz zwischen den Scherben lag. Ich hätte ihr wohl, ohne zu zögern, die Machete in den Leib gerammt, hätte ein Geigenkasten, den sie umklammerte wie ihren erstgeborenen Sohn, und ein Netz schwarzer Linien, das ihre linke Gesichtshälfte überzog, nicht allen Grund zur Annahme gegeben, dass ich sie kannte. Sie musste seit ihrem Verschwinden mehrere Jahre gealtert sein, doch es bestand kein Zweifel.

»Amrei?«, fragte ich und ließ die Machete sinken.

Blackworth

Gesang. End verstummte und blickte lauschend zum Fenster.

»Wohin geht ein Lied, wenn seine Töne verklingen

mit dem Stoß ins Horn zum letzten Krieg?

Wer lauscht der Seele, wenn sie anfängt zu singen

von den Dingen, die uns Zuris verschwieg?

Zuris, mein Gott, warum hast du uns verlassen …«

»Der schon wieder«, knurrte Baine, erhob sich von seiner Pritsche und trat vor das vergitterte Fenster. »HEY! Verschone uns mit deinem Gesang, Bursche!« Der Arbeiter ließ sich nicht beirren. Baine schnaubte wütend und wandte sich um. Nahm seine Holzschale auf und schlug damit gegen die Gitterstäbe. »HEEEY!« Das verhinderte nicht, dass der Mann die letzte Zeile des Refrains theatralisch langgezogen ausklingen ließ. Wohl aber provozierte es die Insassen der Zellenblöcke 12 und 14, ebenfalls brüllend mit ihren Schalen gegen die Gitterstäbe zu schlagen.

»Diese Idioten«, schimpfte Baine und trat vom Fenster zurück.

Die Tür zum Zellengang wurde geöffnet, und die beiden Gefängniswärter traten ein – dieses Mal in der Rolle der Essensausgeber einen fahrbaren Kessel vor sich.

»Wer hat Lust auf Brei?«, fragte einer von ihnen mit schadenfrohem Lächeln. Die Insassen erhoben sich und stellten ihre Schüsseln vor die Zellentüren. Die Essensausgeber füllten zuerst Georges Schüssel. Anschließend spuckte der, der Storm erschossen hatte, hinein.

George verzog das Gesicht.

»Was war das?«, frage der Essensausgeber mit einer Miene, als hätte George ihm die Schüssel aus der Hand geschlagen. Er wandte sich an seinen Partner. »Der hat gerade dreingeblickt, als wäre ihm der Brei nicht gut genug.«

»Der Spaßvogel meinte gestern schon, er würde lieber Steak essen.«

Der Essensausgeber zog die Pistole. »Ist das so? Willst du lieber Steak, Arschloch?«

George sah hilfesuchend zu Bill, der seinem Blick auswich. »Brei ist gut, denke ich«, murmelte er.

»Soll das ein Witz sein?«, fragte der Essensausgeber aufgebracht und richtete seine Pistole auf den Insassen. »Du willst lieber Brei statt Steak essen?« Einige Sekunden verstrichen in Schweigen, während derer George starr vor Schreck auf den Lauf der Pistole starrte.

»Ich … ich … ich …«, stammelte er schließlich. Der empörte Ausdruck auf dem Gesicht des Essensausgebers wich urplötzlich einem Lächeln, so trügerisch wie die Ruhe im Auge eines Sturms.

»Ich mach nur Spaß, Mann«, sagte er in einem Tonfall, als hätte es auf der Hand gelegen, und steckte die Pistole zurück ins Holster. »Sag nicht, du hast dich eingeschissen.« Er lachte, während er die Kelle zur Hand nahm und Bills Schale füllte, die ihm sein Partner hinhielt. George brachte ein nervöses Lächeln hervor.

Jäh ließ der Essensausgeber die Kelle zurück in den Kessel fallen. Er zog die Pistole, richtete sie auf George und feuerte zwei Mal. Der Insasse schrie auf. Das erste Projektil war in die Wand eingeschlagen. Das zweite hatte ihn am Oberarm getroffen. Mit schmerzerfüllter Miene sank er an der Rückwand seiner Zelle herab und presste die Hand auf die Wunde.

»Hat hier noch jemand ein Problem mit dem Essen?«, fragte der Wärter in die erschrockene Stille hinein, nur unterbrochen von Georges Wimmern. »Nein? Gut.« Nacheinander füllten er und sein Partner die Schüsseln der Insassen, bis sie schließlich bei Ends Zelle angelangten.

»Wen haben wir denn da?«, fragte der Essensausgeber, der auf George geschossen hatte, in lauerndem Tonfall. »Wenn das nicht Godric fucking End ist. Willst du auch Brei?« Die Kelle verharrte über der Schüssel. End begegnete dem Blick des Essensausgebers und schwieg. »Antworte.« End sagte nichts. Das lauernde Lächeln auf den Lippen des Wärters schmolz. Sein Unterkiefer zitterte. Er knallte die Kelle auf den Boden, sodass Brei durch den Zellengang spritzte, zog abermals die Pistole und richtete sie auf End.

»Denkst du, ich werde dich nicht abknallen, weil du Godric fucking End bist?«, brauste er auf. »Sag mir, ob du Brei willst. Jetzt!« End erhob sich und trat auf die Zellentür zu, den Blick auf das Gesicht des Essensausgebers gerichtet, als suche er etwas darin. Der Sänger hielt den Atem an. Wieder einmal wusste er nicht, ob End deshalb so gelassen wirkte, weil er wahrhaftig nichts zu befürchten hatte, oder weil es ihm egal war, ob er lebte oder starb.

»Du hast es so gewollt!« Der Finger des Essensausgebers legte sich an den Abzug.

End hob die Hand – eine knappe Geste, als bäte er nur um einen kurzen Moment – und der Essensausgeber verharrte.

»Bettelkönig, Königsmord. Tod im Feuer, Drachenhort«, sagte End leise, den Blick noch immer auf das Gesicht des Essensausgebers gerichtet. Der wutverzerrte Ausdruck des Mannes verschwand. Die Pistole in seiner Hand zitterte. »Schwelende Liebe und glühender Hass. Ehrbare Diebe und ein eckiges Fass.« Der Mann steckte die Pistole weg und sammelte fahrig die Kelle ein.

»Lass uns abhauen«, murmelte er. Er wandte den Kessel, schob ihn zurück zur Tür des Zellengangs, und er und sein Partner verschwanden.

»Wie schlimm ist es, Genosse?«, fragte Baine, der mit besorgter Miene in Georges Zelle schräg gegenüber blickte.

»Es blutet wie verrückt«, stöhnte George panisch.

»Zieh dein Hemd aus und reiß es in Streifen«, riet Bill. »Drück den Stoff fest auf die Wunde.« Keuchend und am ganzen Leib zitternd kämpfte George sich aus dem Hemd. »Lass mich dir helfen.« George reichte das Hemd durch den Zellengang an Bill weiter, der Streifen für Streifen zurückreichte.

»Nicht!«, warnte Bill, als George das erste durchtränkte Stück Stoff von der Wunde nehmen wollte. »Leg den nächsten drüber und übe Druck aus.« Während George darum kämpfte, die Blutung zu stillen, nahm, wem noch nicht der Appetit vergangen war, seine Schüssel auf.

»Iss, Ronald«, forderte Arwin den jüngsten Insassen von Zellenblock 13 auf.

Ronald hustete. »Ich habe keinen Hunger.«

»Du musst zu Kräften kommen.«

»Wozu? Zögert doch ohnehin nur das Unausweichliche hinaus.«

»Ich habe auch keinen besonderen Hunger, nach dem, was hier passiert ist«, murmelte Baxter. »Mir graut jetzt schon vor dem Mittagessen.«

»Wie hast du sie vertrieben?«, wollte der Sänger wissen und sah zu End. »Mit diesem Reim?«

»Nicht irgendein Reim. Es waren die dunklen Runen, mit denen sich die Hirnmarodeure bannen lassen.« Der Sänger ballte hoffnungsvoll die Hände zu Fäusten. Er wusste aus Ends Erzählung, worum es sich bei dunklen Runen handelte. Sie waren das Pendant zur Runenmathematik. Während sich mit Letzterer die Synaígie programmieren ließ, waren die dunklen Runen künstlerischer Natur. Wenn man die Richtigen kannte, ließen sich damit die Enerphagen kontrollieren.

»Hättest du sie nicht erledigen können?«

»Das habe ich versucht«, meinte End. »Ehe ich dazu kam, hat der Hirnmarodeur dem Mann Angst eingeflößt, damit er sich von mir entfernt.« Schweigen kehrte ein. Eine Zeit lang waren nur Georges Wimmern und Stöhnen zu vernehmen, bis auch das verstummte.

»Genosse?«, fragte Baine besorgt. »Bist du okay?«

»Es hat aufgehört zu bluten«, antwortete George schwach. »Mir schmerzt der Schädel. Hört hier noch jemand ein Pfeifen?«

»Du solltest deinen Brei essen, Mann!«

»Gleich, gleich«, murmelte George. »Warum … fährst du nicht mit deiner Geschichte fort, End? Ich werde ein bisschen ausruhen und etwas essen, sobald ich wieder Appetit habe.«

»Man hatte mir eine zweite Zigarette versprochen«, entgegnete End und blickte in die Zelle seines Gegenübers.

Der Sänger holte den in Papier eingeschlagenen Tabakvorrat hervor, drehte eine weitere Zigarette und warf sie über den Gang in Ends Zelle. Zum zweiten Mal an diesem Morgen flammte ein Streichholz auf, und End zog an der Zigarette.

Himmel, war das gut! Er ließ den Rauch durch Mund und Nase strömen und beobachtete einige Sekunden lang mit verträumtem Blick die grauen Wirbel und Wölkchen, die er formte, ehe er fortfuhr.