Harry und der Tod am Regenberg

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Harry und der Tod am Regenberg
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C. Harry Kahn

Harry und der Tod am Regenberg
Ein Kamadakrimi
mit John Watson, Sally Potter – und Harry

Impressum

© 2020 C. Harry Kahn

4589 West 3rd Ave. Vancouver, BC, V6R 1N3, Kanada

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch

auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

2. Auflage Oktober 2020

www.c-harry-kahn.net

c.harrykahn@gmail.com

Erstmalig veröffentlicht 2007

im Schardt Verlag, Oldenburg

ISBN 978-3-89841-353-4

Inhalt

Lieber Leser,

1. Harry

2. Phil

3. Sally

4. Mr. Tao

5. John

6. Black Eagle

7. Dan

8. Sean

9. Harry und Sally

Der Autor

Von C. Harry Kahn

Inhalt

Vorwort

1. Harry

2. Phil

3. Sally

4. Mr. Tao

5. John

6. Black Eagle

7. Dan

8 . Sean

9. Sally und Harry

10. Der Autor

Lieber Leser,

dieses Buch entstand kurz nachdem die kanadische Stadt Vancouver den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2010 erhalten hatte. Die Planung war in den ersten Anfängen. So kommt es, dass Sie manche der hier beschriebenen Orte und Personen nicht einmal bei Google finden würden.

Das Olympische Dorf, um das sich die Geschichte dreht, entstand in den folgenden Jahren nur einen Steinwurf von der Innenstadt entfernt und ist heutzutage ein hervorragend geplantes und beliebtes Hochhaus-Wohnviertel. Diese Spiele waren einer der seltenen Fälle, wo die Investitionen zu einer bleibenden Wertschöpfung führten. Auch Whistler hat sich über die Jahre zu einem weltweit bekannten Resort entwickelt, Sommers wie winters läuft der Betrieb auf Hochtouren, Wintersportler reisen selbst aus Australien an. Doch sind Vancouver und Whistler nur zwei von zahlreichen faszinierenden Orten an der Westküste Kanadas. Das Land ist eine Reise wert.

Herzlichst

1. Harry

Harry ist ein Hund. Im landläufigen Sinne würde man ihn wohl kaum als solchen bezeichnen. Ich habe schon Katzen gesehen, die größer waren. Abends muss ich immer darauf achten, dass Harry vor Einbruch der Dunkelheit im Hause ist, denn eine nächtliche Auseinandersetzung mit einem der Waschbären, die sich im Hintergarten an heruntergefallenen Herbstäpfeln gütlich tun, würde dem Waschbären eine unerwartete Mahlzeit, Harry hingegen das Ende und mir großen Kummer bereiten.

Genau genommen bin ich kein Freund von Hunden. Noch genauer genommen mag ich Hunde überhaupt nicht. Sie riechen streng, und wenn man sie streichelt, hat man immer belegte Hände und muss kräftig seifen, um dieses unangenehme Gefühl wieder loszuwerden. Katzen mit ihrem glatten, immerwährend geleckten Fell verursachen solches Unbehagen nicht.

Harry kläfft. Seine Stimme passt zu seiner Gestalt wie das Tüpfelchen auf das i. Es ist dieser hohe, kreischende, nervtötende Ton, den wir alle so gut kennen, meistens durch die zufällig miterlebte Begegnung zweier Köter im Park. Der kleinere, todesmutig aggressiv, keift, blafft und tanzt dem großen vor der Nase herum, immer in sicherem Abstand, aber lästig wie eine Wespe, die einem beim Kuchenessen um den Kopf kreist. Der große lässt hin und wieder einen kurzen, grollenden Laut hören, kann sich aber nicht überwinden, durch ein schnelles, gut gezieltes Zuschnappen der Farce ein Ende zu bereiten.

Harry will und will nicht aufhören. Mein Gehör sagt mir, dass er mindestens hundert Meter von mir entfernt sein muss, doppelt so weit wie die Distanz, in der er sich normalerweise sicher fühlt. Das Unterholz ist nicht sehr dicht, jedenfalls nicht so dicht, dass es das Fortkommen bei einem Spaziergang von Herr und Hund behindern würde, aber doch dicht genug, um einen wenig mehr als stecknadelkopfgroßen weißen Terrier ganz und gar verschwinden zu lassen. So oft ich auch rufe „Harry, Haaaarry“, bis mich die Stimmbänder schmerzen, Harry hört nicht auf mich, kann mich wahrscheinlich gar nicht hören durch das Getöse, das er selber anrichtet. Dabei ist Harry ein guter Hund. Er liebt es, der Stimme seines Herrn zu folgen, und einem Befehl Folge zu leisten ist für ihn schon in sich selbst eine Belohnung. Nur in formellen Übungsstunden, die wir zu unser beider Zeitvertreib manchmal abhalten, akzeptiert er auch einen Hundekeks als Lohn für eine erfolgreich gelöste Aufgabe.

Harry bewegt sich nicht von der Stelle. Er jagt nicht – ein Eichhörnchen wäre auch längst über alle Gipfel verschwunden –, er flieht auch nicht, und was gäbe es auch in diesem Waldstück, nur ein paar Minuten von der nächsten Häuserzeile entfernt, wovor er weglaufen müsste. Am gegenüberliegenden Ufer kann man hin und wieder noch einen schwarzen Bären sehen. Der wird dann schnell von den zuständigen Ordnungshütern eingefangen und hundert Meilen weiter im Norden wieder ausgesetzt. Aber hier, auf unserer Seite, gibt es kein wildes Lebewesen, vor dem Harry sich fürchten müsste. Eine Schlange vielleicht? Ich kenne niemanden, der je eine gesehen hätte, aber vereinzelt sollen sie hier noch vorkommen. Jetzt sehe ich etwas Weißes durch die Farnwedel schimmern, dreißig Schritte entfernt und immer noch meine Rufe fanatisch übertönend. Einen Augenblick später kann ich auch erkennen, dass er eine liegende menschliche Gestalt verbellt. Wäre Harry ein Schäferhund oder ein Dobermann, dann würde mir vielleicht der Gedanke durch den Kopf schießen, er habe einen Jogger für den Briefträger gehalten und zu Boden gerissen. Aber Harry ist Harry, und auch der hundefürchtigste Mensch würde sich nicht vor Harry niederwerfen.

Es ist eine Frau, die Harry so sehr verstört. Eine Joggerin scheint sie nicht zu sein. Wer zu seinem Vergnügen oder zu seiner Ertüchtigung durch den Wald rennt, der trägt gewöhnlich nicht einen weißen Hosenanzug, dafür aber Schuhe und ruht sich nicht ausgerechnet auf dem feuchtesten Fleck in der sichtbaren Umgebung aus. Der Anzug ist nicht wirklich weiß. Man behauptet ja auch von Milch, sie sei weiß, und doch hat sie gegenüber dem makellosen Weiß frisch gefallenen Schnees eine ganz deutliche Färbung, die ins Gelbliche geht, ein bisschen ins Bräunliche, mit einem Stich ins Bläuliche. Wirklich weiß ist der Anzug dieser Frau also nicht. Selbst Harrys Fell wirkt noch ein paar Töne weißer. Doch im Augenblick mache ich mir keine Gedanken über die genaue Farbabstufung. Es ist jedenfalls eine Farbe, in der sich eine Frau nicht auf ein Stück morastigen Waldboden legt, um auszuruhen.

Harry bellt, aber die Frau bewegt sich nicht. Sie liegt still, etwas auf die Seite gerollt. Die Haltung des Kopfes, schräg über der Schulter den Boden berührend, wirkt unbequem. Ich würde an ihrer Stelle wenigstens meinen Arm unter den Kopf legen, um den Winkel etwas zu verbessern. Sie könnte dreißig Jahre alt sein oder auch ein oder zwei Jahre jünger. Sie bewegt sich nicht. Harrys Bellen wird leiser, immer längere Pausen entstehen, bis er schließlich nur noch in Abständen einen kleinen Laut von sich gibt. Einen Schluchzer. Hat Harry etwa gar nicht gebrüllt, sondern geweint? Wer weiß schon, was in einem kleinen Hund vorgeht, der während eines ganz normalen Spaziergangs auf einem Weg, den er wenigstens einmal in der Woche entlangtrottet, plötzlich eine tote Frau entdeckt.

Ja, sie ist sicher tot. Ich habe schon zu viele Krimis im Fernsehen verfolgt, um daran auch nur einen Augenblick zu zweifeln. Fernsehen bildet, so viel ist sicher. Nicht zum Vergnügen, sondern für das Leben sehen wir fern. Im Drehbuch stünde an dieser Stelle: „Er kniet nieder und legt die Fingerspitzen an die Halsschlagader der Frau.“ Ich habe keine Lust, niederzuknien, denn meine Hose ist erst gestern aus der Reinigung gekommen. Ich bücke mich, gehe sogar leicht in die Hocke und lege die Fingerspitzen an die Halsschlagader der Frau. Harry gibt wieder einen Schluchzer von sich. Ich kann keinen Puls fühlen. Die Haut ist kühl, aber nicht so kalt, wie ich es aus dem Fernsehen kenne. Zur Kontrolle lege ich die Fingerspitzen an meine eigene Halsschlagader. Ich kann keinen Herzschlag fühlen. Sollte ich auch tot sein, oder ist diese Methode nur ein Filmklischee? Ich werde es heute Abend noch einmal in aller Ruhe an mir ausprobieren. Jetzt muss ich einmal überlegen, wie ich mich weiter verhalten soll.

Ich nehme Harry auf den Arm und gehe in Richtung Hauptstraße. In diesen Tagen kommt es nicht mehr häufig vor, dass ich Harry tragen muss. Nur manchmal bin ich auf unseren Spaziergängen so in meine Gedanken über die allgemeine Relativitätstheorie vertieft oder auch über meinen letzten Kontoauszug, dass ich erst ans Umkehren denke, wenn Harry sich niedersetzt und mir ohne einen Laut die Gefolgschaft verweigert. Harry stammt vom Wolf (lupus lupus) ab, sagt man. Irgendwo auf dem langen Weg der Evolution scheint sich neben vielen anderen auch das Ausdauer-Gen verflüchtigt zu haben. So ein Wolf kann ja (das weiß ich aus dem Fernsehen, die Brüder Karamasov, wenn ich mich recht erinnere) tage- und nächtelang hinter einem Schlitten durch den Schnee traben, bis die Pferde vor Hunger zusammenbrechen. Für Harry wäre das nichts. Eine halbe Stunde hin, eine halbe Stunde zurück, das ist alles, was er leisten kann. Man darf aber deshalb nicht gering von ihm denken. Eine halbe Stunde hin, eine halbe Stunde zurück, das sind für mich vielleicht achttausend Schritte. Ich habe das nie gezählt, aber im Fernsehen hat das mal jemand erklärt. Eine bildende Sendung in den ganz frühen Morgenstunden. Ich sehe gewöhnlich nicht fern um diese Zeit, aber an dem Tag war ich gerade nach Hause gekommen und wollte noch nicht sofort schlafen gehen. Es war eine Sendung über die Römer, in der ein paar Gladiatoren sich gegenseitig abschlachteten. Oder so etwas. Mir ist davon nur in Erinnerung geblieben, dass die Legionäre auf ihrem Marsch durch Gallien jeden Schritt zählten. So entwickelten sie ein System, das sich bis in unsere Zeit erhalten und vervollkommnet hat. Schritt für Schritt, keinen zu viel und keinen zu schnell, als hätte es damals schon eine Legionärsgewerkschaft gegeben. Nach tausend Doppelschritten (tausend heißt auf Lateinisch mila) setzten sie einen Meilenstein. Eine halbe Stunde hin, eine halbe Stunde zurück, viertausend Doppelschritte für mich, das ergibt achttausend Schritte für einen Zweibeiner. Für jeden Schritt von mir braucht Harry vier. Für meine achttausend Schritte müsste Harry also zweiunddreißigtausend tun. Nur hat Harry nicht zwei Beine, sondern vier. Macht vierundsechzigtausend Schritte. Vierundsechzigtausend! Wundert es da noch einen, dass Harry nicht mehr weiterlaufen will? Es geschieht mir recht, dass er sich nach Hause tragen lässt.

 

Früher war das anders. Harry wog nicht mehr als ein hart gekochtes Gänseei und hatte bequem in meiner Jackentasche Platz. Ich muss gestehen, der Vergleich mit dem Gänseei ist wissenschaftlich nicht dokumentiert, denn ich habe nie ein Gänseei gewogen, und Harry auch nicht. Aber ungefähr dürfte die Größenordnung stimmen. Belegbar ist, dass Harry in meine Jackentasche passte und mit mir am Meer entlangwanderte. Das heißt, ich wanderte, und Harry saß am Meer entlang. Bis hinunter zum Nacktbadestrand und wieder zurück. Im Sommer gingen wir nie über diese unsichtbare Grenze hinaus, denn ich schämte mich, so angezogen durch die Menschenmenge zu schreiten.

Das war kurz nachdem Harry und ich unseren Bund fürs Leben schlossen. Dessen Urheber war mein Freund David. Der arbeitet beim Tierschutzverein. Ich weiß nicht wirklich, welche Funktion er dort hat. Sicher ist, dass David auch unter den Menschen viele Freunde hat, und jeden Menschen in seinem Bekanntenkreis macht er früher oder später zum Hüter eines Tieres. Später nur dann, wenn der betreffende Mensch derzeit noch nicht auf zwei Beinen stehen kann und selber noch gefüttert werden muss. Eines Tages stand David in meinem Studio und legte mir ein winziges weißes Ding auf den Tisch. „Kannst du mir Harry für eine Stunde abnehmen?“ fragte er. „Ich habe ein wichtiges Gespräch mit einem potenziellen Geldgeber, und ich möchte nicht, dass Harry ihn durch Geräusche ablenkt, wenn er gerade einen Scheck ausschreibt.“

Das winzige weiße Ding gab einen Laut von sich. Nicht laut, aber so durchdringend, dass es meinen Kopf mit einem Ruck herumzog. Ich nahm das Ding in die Hand, es war kaum größer als ein Gänseei, und während ich noch herauszufinden versuchte, was das eigentlich war, hatte sich David schon auf den Weg zu seinem wichtigen Gespräch gemacht. Das muss drei Wochen gedauert haben, denn so lange hörte ich nichts von ihm. Als er dann anrief und fragte, wann er Harry wieder abholen könne, da hängte ich den Hörer heftiger auf, als es sonst meine Art ist. Harry und meine Jackentasche hatten sich aneinander gewöhnt, und ich hätte es grausam gefunden, sie zu trennen. Seitdem ist fast ein Jahr vergangen, und aus Harry ist ein nahezu erwachsener weißer Terrier geworden. Mit seinen aufrechten, spitzen Ohren und dem langhaarigen Fell sieht er größer aus, als er wirklich ist. David und ich sind längst wieder Freunde und werden es auch bleiben, so lange er mir nicht eine Anakonda zur Pflege bringt, die Appetit auf Harry entwickeln könnte.

In dieser Gegend gibt es weit und breit keine Telefonzelle, auch nicht an der Hauptstraße. Zuerst denke ich daran, vom nächsten Haus aus die Polizei anzurufen. Ich klopfe ein paar Mal, doch niemand kommt an die Tür. Inzwischen habe ich weiter nachgedacht und beschließe, die Menschen, die hier oder nebenan wohnen, nicht in die Sache hineinzuziehen. Für die junge Frau in Weiß bedeuten ein paar Minuten absolut nichts. Es ist auch besser, Harry nach Hause zu bringen. Wenn einer im Krimi eine Leiche entdeckt, ist er automatisch der erste Verdächtige und wird fast immer in einer Szene auf die Polizeiwache geschleppt und stundenlang verhört. Am liebsten würde ich die ganze Angelegenheit einfach vergessen, aber ich habe sicher Spuren hinterlassen, die die Polizei schon in der übernächsten Szene zu mir führen können. Habe ich eine Schuhsohle mit einer herausgebrochenen Ecke? Kann man an der Halsschlagader Fingerabdrücke feststellen? Ich wähle die Nummer, die jedes Kind auswendig kennt, sobald es einen Telefonhörer in der Hand halten kann: neun-eins-eins.

Wie immer nach unserem Morgenspaziergang mache ich mir eine Tasse Kaffee. Harry bekommt zwei Kekse. Nicht diese speziellen Hundekekse, wer weiß, was für Zutaten dafür verwendet werden. Wir mögen am liebsten die ganz einfachen Marie-Biskuits. Ich bekomme auch zwei. Gerade als ich meine Tasse in den Geschirrspüler packen will, klopft es an der Tür. Sehr energisch. Irgendwann in der Vergangenheit muss ein geistlicher Führer ein Edikt erlassen haben, nach dem elektrische Türklingeln des Teufels sind. Alle in dieser Stadt scheinen sich daran zu halten, und so klopft man sich eben an fremden Türen die Knöchel wund.

Drei Dinge fallen mir beim ersten Hinsehen auf: durchschnittlicher Körperbau, tiefe Stirnglatze und eine Windjacke, die so zwischen allen gebräuchlichen Farben liegt, dass sie überhaupt keine Farbe zu besitzen scheint. Er drängt sich, ohne dass ich es so richtig bemerke, an mir vorbei und wartet schon in der Küche, als ich ankomme.

„Sind Sie Watson?“ Sein Knurren liegt zwei Oktaven tiefer als das von Harry.

„John Watson zu Diensten.“

„Inspektor Philip Marlowe, Vancouver Police Department, Mordkommission.“ Er schwenkt ein Kärtchen, das wohl ein Dienstausweis sein soll, so nahe vor meinen Augen, dass ich nur einen verschwommenen Umriss ausmachen kann. „Sie haben den Fund einer Leiche gemeldet?“

„Das habe ich, Herr Inspektor. Aber nicht hier, sondern drüben im Wald.“

„Ja, ich weiß.“ Er zieht einen Zettel aus der Tasche und liest die Instruktionen vor, die ich der Dame am Telefon gegeben habe. „Auf der Uferstraße, ungefähr vierhundert Meter hinter dem letzten Haus, führt ein schmaler Fußweg im Zickzack den Steilhang hinauf. Oben angekommen, folgt man nicht dem Fußweg, der in westlicher Richtung am Abhang verläuft, sondern geht weiter auf elf Uhr an einem kleinen Dickicht vorbei und wendet sich dann genau nach Süden, cirka dreihundert Schritte. Was wollen Sie, Watson? Indianer spielen?“

„Mister Marlowe, es gibt an der Stelle keine Hausnummern. Wie soll ich sonst den Ort beschreiben?“

„Sie hätten einfach dort bleiben können. Warum haben Sie den Tatort verlassen? Wollten Sie etwas beiseiteschaffen?“ Er möchte offenbar den harten Cop spielen, genau wie Banner in der Serie Denver 007.

„Ich habe den Tatort verlassen, Herr Inspektor, um neun-eins-eins anzurufen, und weil ich keine Lust hatte, tagelang Totenwache zu halten, bis vielleicht jemand anderes vorbeikommt, den ich zum Telefonieren schicken könnte.“

Sein Blick sagt ganz deutlich, dass er meinen Intelligenzquotienten nicht im dreistelligen Bereich vermutet. „Was war mit Ihrem Handy?“

„Ich schäme mich zu Tode, aber ich besitze kein Handy. Ich will nicht jederzeit für jedermann erreichbar sein. Übrigens zahle ich auch im Supermarkt noch mit richtigem Geld statt mit Kreditkarte. Macht mich das zum Verdächtigen?“

„Wir werden sehen. Jetzt kommen Sie und zeigen mir den Tatort.“

Ich habe das Gefühl, dass seine anfängliche Aggressivität nach und nach einer Art von Erbarmen weicht. Ein Polizist, der Mitleid mit einem Tatverdächtigen hat? Ich nehme Harry auf den Arm und mache eine einladende Geste zur Tür.

Er bewegt sich nicht. „Der Köter bleibt hier. Gehen Sie schon, wir verlieren wertvolle Zeit!“

Seine Arroganz geht mir langsam auf die Nerven. Er versucht, mich rumzukommandieren, als wäre er mein Boss. Ich habe mein ganzes Leben lang darauf geachtet, keinen Boss zu haben. Nichts finde ich unerquicklicher, als mir von irgendeinem Hohlkopf Befehle erteilen zu lassen. Ich habe immer nur mit Auftraggebern zu tun, denen ich einen Job vor die Füße knallen kann, wenn sie sich anmaßend benehmen.

„Der Köter heißt Harry, und Harry kommt mit. Harry allein zu Haus ist kein guter Titel für einen Film.“ Zu meiner Überraschung dreht er sich wortlos um und marschiert zur Tür. Wir bleiben ihm auf den Fersen.

Vor dem Haus parkt ein alter Pontiac, der so unauffällig ist, dass man ihn schon auf den ersten Blick als Polizeiauto erkennt. Am Steuer sitzt ein anderer Polizist in Zivil. Hinter dem Pontiac stehen zwei Streifenwagen und ein Minibus. Keiner hat das Rotlicht auf dem Dach eingeschaltet, wie sie sich meinem Haus auch ohne Sirene genähert haben. Wahrscheinlich wollten sie vermeiden, dass ich mich durch die Hintertür aus dem Staub mache. Ich setze mich auf den Rücksitz und erwarte beinahe, dass Marlowe beim Einsteigen meinen Kopf mit der Hand nach unten drückt. So wirds im Kino gemacht. Er lässt das aber sein, und unser Konvoi fährt die Uferstraße hinunter.

„Langsam“, sage ich. „Hier. Stopp.“

„Dreihundertachtzig Meter“, sagt Marlowe.

„Sie haben zu spät mit Zählen angefangen“, sage ich.

Wir steigen aus und klettern den Hang hinauf. Der Pfad windet sich in Serpentinen, ist aber immer noch sehr steil. Marlowe geht voran, hinter mir kommt sein Fahrer und dann die Besatzung eines Streifenwagens. Die anderen bleiben in ihren Autos sitzen. Harry findet es unzumutbar, dass er diesen Steilhang zum zweiten Mal an einem Tag bewältigen soll. Er verweigert mir die Gefolgschaft. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn zu tragen. Wir sollten doch noch ein paar Stunden ernsthaftes Hundetraining absolvieren, Harry! Der Weg ist glitschig nach dem vielen Regen. Er ist immer glitschig, denn es regnet immer. Ich bin hier schon öfters ausgerutscht und einmal den ganzen Hang hinabgekollert. Heute trifft dieses Los den Fahrer. Er heißt Sean, wie ich unterwegs mitbekommen habe, obwohl seine Vorfahren eher aus Asien als aus Irland stammen dürften. Der uniformierte Polizist kriegt ihn noch zu fassen, und Sean rappelt sich mühsam wieder auf. Er flucht ausdauernd in verschiedenen Sprachen, die ich nur zum Teil verstehe. Dabei betrachtet er seine schlammbedeckten Handflächen und weiß offensichtlich nicht, wohin damit. Schließlich gibt er sich einen Ruck und wischt sie an der noch sauberen Seite seiner Hose ab. Oben angekommen, gehen wir auf elf Uhr an einem kleinen Dickicht vorbei und dann genau nach Süden. Es sind mehr als vierhundert Schritte.

Die weiße Frau liegt noch da wie vor einer Stunde. Marlowe hält uns mit einer Armbewegung auf Distanz. Er selber nähert sich mit größter Vorsicht, geht neben der Frau in die Hocke – und legt doch tatsächlich die Fingerspitzen an ihre Halsschlagader. Er blickt auf und sagt zu einem der Streifenpolizisten: „Sie ist tot. Jim, holen Sie die anderen.“ Und zu mir: „In der Zwischenzeit rekonstruieren wir, wie Sie auf die Leiche gestoßen sind.“

Wie bei einer Theaterprobe gehen wir meine Schritte durch, von Harrys Alarmgeschrei bis zu meinem Verlassen der Szene. Harry muss sich jetzt einigermaßen sicher fühlen, denn er bellt und jammert nicht. Er weicht aber auch keinen Schritt von meiner Seite.

Marlowe enttäuscht mich. Er hat kein Notizbuch, um meine Aussage säuberlich aufzuschreiben, er scheint sich alles im Kopf zu merken. Dann stellt er noch ein paar Routinefragen. „Erzählen Sie mal was über sich, Dr. Watson. Wovon leben Sie?“

„Überwiegend von Spaghetti und Pizza, aber manchmal hole ich mir auch was von McDonald’s.“

 

„Wenn ich jetzt mal kräftig lache, werden Sie dann mit Ihren Witzeleien aufhören? Ich will wissen, als was Sie arbeiten, womit Sie das Geld verdienen, das Sie bei McDonald’s verschleudern.“

„Verzeihung, Herr Inspektor. Ich bin arbeitslos. Das heißt, ich verdiene zurzeit keinen Penny. Bis vor ein paar Monaten war ich Fotograf, freischaffend. Ich wette jeden Einsatz, dass Sie schon irgendwo irgendwann ein Foto von mir gesehen haben. Bildreportagen für Zeitschriften waren meine Spezialität, und Standfotos bei Filmaufnahmen. Jetzt habe ich Urlaub. Vielleicht für ein Jahr, vielleicht für immer. Vor drei Jahren habe ich an ein paar Filmen hier mitgearbeitet. Vancouver hat mir gefallen. Ich habe mir ein Haus gekauft und gedenke, hier zu leben.“

Die Besatzung der zurückgebliebenen Autos, angeführt von Jim, raschelt durch das dünne Unterholz hinter uns. Sie schleppen tausenderlei Kisten und Kasten und nicht definierbare Gerätschaften mit sich. Früher, als ich noch manchmal zelten ging, sah meine Ausrüstung ähnlich aus. Einer findet ein paar herabgefallene Äste, und daran spannen sie, wie sie es gelernt haben, ein rot-weißes Band um die weiße Dame, um aufdringliche Journalisten und sensationshungrige Passanten abzuhalten. Sean, der die ganze Zeit durch die Gegend geschlendert ist, spricht halblaut mit Marlowe. Der steuert entschlossenen Schrittes und bohrenden Blickes auf mich zu.

„Watson, warum haben Sie uns nicht gesagt, dass dort hinten eine Forststraße vorbeiführt? Wir hätten ganz nahe heranfahren können.“

Ich wusste nichts von einer Forststraße. Harry und ich gehen immer den gleichen Weg, und es ist heute das erste Mal, dass wir davon abgewichen sind. Marlowe scheint mir das nicht zu glauben, aber was soll er machen? Er schickt einen Mann los, um herauszufinden, wo die Forststraße hinführt und ob sie befahrbar ist. Die anderen, Uniformierte und Zivilisten, stehen herum und warten. Noch ist niemand erschienen, um die rot-weiße Absperrung zu durchbrechen.

Marlowe telefoniert ausgiebig auf seinem Handy. Seine auf diesem Weg gewonnenen Erkenntnisse teilt er Sean mit. „Die Doktorin ist unterwegs. Ich habe ihr gesagt, sie soll erst einmal warten, bis wir die Zufahrt gefunden haben. Und der verdammte Fotograf ist krank. Bis die einen anderen finden, kann es Stunden dauern.“ Sein Blick wandert über die Anwesenden und bleibt an dem jungen Uniformierten hängen. „Jim, Sie kommen gerade aus der Polizeischule. Da können Sie auch fotografieren.“

Jim stottert ein bisschen. „Wir hatten einen Kurs, Inspektor, aber ich war nicht besonders gut. Jeder von den Kollegen kann es wahrscheinlich besser.“

Marlowe verzieht das Gesicht. Doch als erfahrener Polizist hat er schnell den richtigen Einfall. „Moment mal! Watson, Sie sagten, Sie sind Fotograf. Wollen Sie dem Police Department und mir persönlich einen großen Gefallen tun? Wir müssen das hier alles festhalten, bevor der Regen einsetzt. Können Sie das machen?“ Ich nicke nur. Marlowe schnauft erleichtert aus.

„Sehr schön, das ist wirklich eine große Hilfe. Schnappen Sie sich die Kamera und dokumentieren Sie diesen Fundort. Sean zeigt Ihnen, worauf Sie zu achten haben.“ Er lässt mich stehen und wendet sich den Aufgaben zu, die ein Polizist seines Ranges zu erledigen hat.

Die Kamerakiste, zu der Sean mich führt, gereicht einer Mordkommission zur Ehre. Die Kamera selbst ist ein Spitzenprodukt, und darüber hinaus enthält die Kiste alle Linsen, Filter, Stative und Leuchten, die ich mir wünschen kann. Das meiste brauche ich gar nicht, nur einen Blitz für Aufnahmen an der Schattenseite und ein Makroobjektiv. Seans Einweisung kann er sich schenken. Vor zwei Jahren haben wir unten in Hollywood einen Film gedreht, wir nannten ihn Lila Tulpen, aber ins Kino kam er unter einem ganz anderen Namen. Es spielten viele Stars mit, und gleich am Anfang gab es eine Leiche, nicht im Wald, aber irgendwo im Freien. Der Produzent wollte sich das Honorar für einen Schauspieler sparen und ernannte mich zum Polizeifotografen. Die Fotos mussten gut sein, denn sie wurden später in der Gerichtsverhandlung gezeigt. Die Mörderin wurde dann auch aufgrund dieser Aufnahmen verurteilt. Ich arbeite eine halbe Stunde lang intensiv. Harry hat verstanden, dass er nicht unter dem rot-weißen Band durchlaufen darf. Ich frage mich, ob er seine Intelligenz von mir hat.

Gerade als ich die letzten Aufnahmen mache, kommt die Ärztin an. Sie scheint mit der korrekten Prozedur nicht vertraut zu sein. Statt mit den Fingerspitzen berührt sie die Halsschlagader mit einem Stethoskop, erklärt, dass die Frau tot, die Todesursache aber nicht an Ort und Stelle zu klären sei. Sicher könne sie nur sagen, dass die Leiche nicht aus eigener Kraft hierher gekommen sei. Das haben die anderen auch schon vermutet, und das Fehlen von Dingen, die eine Frau normalerweise mit sich führt, eine Handtasche zum Beispiel oder Schuhe, ist nur eine Bestätigung dafür.

Wir hängen noch eine Zeit lang herum, während alle möglichen Menschen kommen, ihre Aufgabe verrichten und wieder gehen. Die weiße Frau wird von zwei Männern in einem ganz anderen Weiß abgeholt. Im einsetzenden Regen packen die Spurensucher ihre Instrumente ein. Es ist wohl ein zwölf-Stunden-Regen, der im Lauf der Nacht aufhören wird. Morgen, sagt der Wetterbericht, soll es ausgesprochen schön werden. Oder wenigstens trocken. Harry knurrt der Magen, und mir bestimmt auch. Schließlich rafft sich Marlowe auf und lässt uns gehen. Er klingt jetzt viel freundlicher als am Anfang unserer Bekanntschaft. Morgen Vormittag soll ich ins Polizeirevier kommen und ein Protokoll unterschreiben. Aber ohne Hund! Nein, ich komme mit Harry oder gar nicht. Also dann, zum Teufel, eben mit Hund.

Auf halbem Weg wird aus dem Regen ein richtiger Schauer. Bis wir heimkommen, bin ich durchnässt bis auf die Haut. Harry sowieso.