Harry und der Tod am Regenberg

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2. Phil

Auf irgendeine Weise muss uns das Drama des Vortages doch angestrengt haben, denn wir schlafen beide länger als gewöhnlich. Dann aber beginnt Harry mir auf eindringliche Art mitzuteilen, dass er jetzt einen Bärenhunger habe. Bescheidenheit ist noch nie Harrys Ding gewesen. Ich wette, er hält sich sogar für bärenstark. Wie auch immer, Frühstück ist angesagt.

Harry und ich frühstücken immer gemeinsam. An sonnigen Tagen gibt es Cornflakes mit Milch. Eine Packung reicht uns beiden oft drei Monate. Meistens essen wir Toast mit einer Masse, die aus dem Käseregal im Supermarkt kommt. Für mich gibt es dazu noch jede Menge Kaffee, für Harry nur Wasser. Kaffee macht ihn bärenkampfeslustig. Heute ist einer jener Tage, an denen wir Lust auf Bacon und Spiegelei haben. Ich mag meines gern von beiden Seiten gebraten, aber Harry hat es lieber halb roh und auch den Bacon nicht zu kross. Mir solls recht sein.

Mitten in der dritten Tasse Kaffee – und ich bin in der Zeitung noch nicht bis zu der Notiz über die im Wald aufgefundene Tote vorgedrungen – läutet das Telefon. Um diese Zeit kann das nur ein Fremder sein. Vielleicht dieser Inspektor, der uns schon knurrend fürs Protokoll erwartet.

„Hallo“, gebe ich mich zu erkennen.

„Hallo! Spreche ich mit John H. Watson?“ will einer wissen.

„Ich gestehe nur, wenn Sie mir sagen, wer Sie sind.“

„Hallo, John! Schön, dass ich dich so schnell gefunden habe! Hier ist Dan Helmer von North Side Docu Productions. Lange nicht voneinander gehört. Hast du ein paar Augenblicke Zeit, oder störe ich dich bei was Wichtigem?“

„Du störst bei was Wichtigem. Ich frühstücke gerade.“

„Dann lass dich nicht stören, John. Ich höre, du befindest dich gerade in einer schöpferischen Pause? John, du musst eine Pause in die Pause einlegen! Drei Wochen, höchstens vier. Wir sind mitten in einer Produktion, und ich habe meine Fotografin verloren. Wenn ich nicht sehr schnell Ersatz finde, geht das Projekt den Bach runter. Du musst mir aushelfen. Dein Honorar kannst du selber bestimmen.“

„Dan, ich nehme keine neuen Aufträge an. Und von dir schon gar nicht. Such dir jemand aus den Gelben Seiten. Tschüs dann, Dan.“

Ein lauter Schrei aus dem Hörer stoppt mich in der Bewegung des Auflegens. Ich halte das Ding noch einmal ans Ohr.

„John, Dr. Watson, hör mich an! Komm herüber, lass uns reden. Ich bin noch im selben Büro wie damals. Komm und hilf mir, um der alten Zeiten willen!“

„Ich hasse es, wenn man mich Dr. Watson nennt. Und gerade wegen der alten Zeiten werde ich nicht kommen. Good bye, Dan.“

Wie kommt er nur auf die Idee, die alten Zeiten zu beschwören, gerade so, als hätten wir uns damals in Freundschaft getrennt? Ausgerechnet Dan Helmer!

„Das war Dan Helmer“, informiere ich Harry. Der ist längst fertig mit seinem Spiegelei und will natürlich Einzelheiten wissen. „Die genaue wissenschaftliche Bezeichnung lautet Daniel P. Helmer junior. Dan hat eine Firma, die Dokumentarfilme produziert. Tiere, Natur, viel Ökologisches. Vor ein paar Jahren, du warst damals noch nicht auf der Welt, hatte ich einen Auftrag von ihm. Es ging um Lachse, und ich war der Scout. Bei dieser Art von Filmen, in denen die Natur die Hauptrolle spielt, gibt es nur ein rudimentäres Drehbuch. Deshalb zieht zunächst ein Scout los, findet geeignete Lokalitäten, stellt fest, zu welcher Zeit die Tiere dort am besten gefilmt werden können und so weiter. Erst dann ist es sinnvoll, das ganze Kamerateam loszuschicken. Zwei Monate hat mich das damals gekostet, und als der Film fertig war, da war die Fernsehstation, die ihn in Auftrag gegeben hatte, pleite. Dan hatte Tränen in den Augen, als er uns eröffnen musste, dass er uns kein Honorar zahlen könne. Wenn wir aber Geduld hätten, würde er versuchen, den Film zu verkaufen. Und wir würden dann am Gewinn beteiligt, statt nur das verabredete Honorar zu bekommen. Wir waren unglaublich blauäugig. Der Film ist auf allen Sendern in Europa gelaufen und hat mindestens zehnmal seine Kosten eingespielt. Aber Dan rückt kein Geld heraus, und unsere Anwälte sind sich einig, dass wir auch nie einen Dollar sehen werden. Das Schlimmste ist, dass er auch noch all meine Negative aus dem Projekt hat und sie nicht zurückgibt. Da sind ein paar super Bilder drunter, Harry, die uns viel Geld einbringen würden.“

Harry hat gar nicht zugehört. Er steht an der Tür und trippelt von einem Bein aufs andere. Höchste Zeit für unseren Vormittagsspaziergang. Bis ich meine Schuhe und die wasserdichte Jacke mit Kapuze angezogen habe, kommt er schon wieder zurück, beutelt sich, dass es nur so spritzt, und setzt sich neben die hintere Wagentür. Er will heute nicht in den Forst. Unser gestriges Erlebnis hat ihn traumatisiert. Am Ende muss ich ihn gar zur Hundepsychologin bringen. Also gut, gehn wir heute mal ganz woanders hin. Rein mit dir!

Wie immer finde ich mit diesem Auto auch in der Innenstadt schnell eine Parklücke. Jetzt muss Harry in den Rucksack, die öffentlichen Verkehrsmittel tolerieren keine Vierbeiner. Das ist der einzige Grund, warum ich nicht öfter Seabus fahre, denn die Überquerung der English Bay ist jedes Mal ein faszinierendes Abenteuer. Am Ende der Bucht ragen die Getreidesilos in den Himmel. Mühelos schlucken sie die Millionen Tonnen Weizen, die auf endlos langen, tausendachsigen Güterzügen aus Alberta, aus Manitoba über die Rocky Mountains herangeschafft werden. Eine Wolke aus feinem Staub liegt über dem ganzen Areal, wenn das Korn aus dem Silo in den Laderaum der Frachter gepumpt wird, die es irgendwo in die Welt hinausbringen, wo gerade eine Hungersnot herrscht. Auf der rechten Seite der Containerhafen, bunt wie die naiven Bilder von Grandma Moses, die riesigen Kisten vollgestopft mit Plastikspielzeug aus China und elektronischem Spielzeug aus Korea, das innerhalb weniger Tage gleichmäßig über die großen und kleineren Städte im Osten verteilt werden wird. Gegenüber die Stadt Nordvancouver. Wenn man Glück hat und die Regenwolken sich ausgeschüttet haben, sieht man, wie sich die Häuser den Berghang hinaufziehen. Wir haben sehr viel Glück und sehen sogar die Gipfel der Berge, die sich scharf gegen das Hintergrundlicht abheben. Das heißt, Harry sieht natürlich weniger davon, aber er fühlt sich in seinem Rucksack recht wohl. Seit seinen Gänseeitagen ist er es gewohnt, in Taschen zu sitzen.

Der Seabus legt direkt an der großen Markthalle an. Eigentlich hätte ich jetzt Lust auf einen Kaffee und einen Blaubeermuffin, aber Harry muss mal raus. Außerdem ist der Markt, was kleine Hunde anbelangt, noch weniger tolerant als Fähren und Busse. Dabei ist der Platz voll von Tieren. Hühner, Gänse, sogar Ferkel, die doppelt so groß sind wie Harry. Aber sie befinden sich auch in einer Verfassung, in der ich Harry nie sehen will. Sei’s drum, also kein Kaffee! Wir überqueren brav an der Fußgängerampel die große Straße, die den unteren Teil der Stadt parallel zur Küste durchzieht, und wandern langsam bergauf. Es ist nicht sehr erholsam. Wer hatte überhaupt die Idee, hierher zu kommen? Nordvan ist kein Ort für Spaziergänger. Kein Stadtplaner – wenn es denn vor fünfzig oder achtzig Jahren schon so etwas wie Planung gab –, wäre damals je auf die Idee gekommen, Raum für Fußgänger zu reservieren, ebenso wenig wie ein Zoodirektor Freigehege für Dinosaurier bereitstellen würde. Wir zickzacken uns voran und drücken uns immer wieder gegen parkende Autos, um dem Kontakt mit einem jener Zwei-Tonnen-Transporter mit überdimensionierten Reifen zu entgehen, die hier als Freizeitfahrzeuge benutzt werden. Dann stehe ich plötzlich vor einem schmalen, zweistöckigen Haus mit einem kleinen Vorgarten. An den Zaun aus naturbelassenem Holz ist eine weiße Tafel mit schwarzer Schrift genagelt: North Side Docu Productions.

Da wir jetzt schon mal da sind, kann ich auch klingeln. Klopfen, natürlich. Dan öffnet selber. Seine Wir-geben-nichts-an-der-Haustür-Miene verzieht sich zu einem handelsüblichen Ich-bin-erfreut-Sie-zu-sehen-Lächeln.

„Hallo, John, das ist eine Überraschung, besonders nach unserem Telefonat vorhin. Komm herein! Was hast du da bei dir?“

„Das ist Harry. Wir sind ganz zufällig in der Gegend. Aber vielleicht darf dich Harry um einen Schluck Wasser bitten?“

„Mit Vergnügen. Hallo, Harry. Aber jetzt kommt rein. Kaffee für dich, John, oder was Stärkeres?“

„Kaffee passt gut.“ In diesem Teil der Welt wird in den Büros früh am Morgen ein großer Topf Kaffee gebraut, aus dem sich bis Büroschluss jeder bedient. So schmeckt er auch. Dan kommt schnell zurück, mit einem großen, duftenden Cappuccino. Von wegen Kaffeekanne auf Wärmeplatte! Dan ist kein Verlierer! Er besitzt eine moderne italienische Kaffeemaschine. Nur ein Wassergefäß für Harry kann Dan nicht finden. Doch, im Mülleimer liegt noch ein Plastikbehälter.

„Ich bin sehr froh, John, dass du es dir doch noch überlegt hast. Hätte ich früher gewusst, dass du wieder im Lande bist, hätte ich dir selbstredend den Job zuerst angeboten. Diese Jeanne Lafontaine ist gut, aber nicht so gut wie du. Und nicht so zuverlässig. Sie hat mir einfach alles vor die Füße geschmissen, und ohne deine Hilfe könnte ich meine Termine nicht mehr einhalten. Willst du gleich anfangen oder erst morgen früh?“

„Wer sagt, dass ich überhaupt anfangen will? Warum will sie nicht mehr für dich arbeiten?“

„Wenn ich das wüsste, John, könnte ich sie wahrscheinlich umstimmen. Sie ist einfach am Freitag nicht erschienen, hat sich nicht krank gemeldet, geht nicht ans Telefon, ist schlichtweg verschwunden. Vielleicht hatte sie Heimweh nach Quebec und nach französischem Essen. Wir machen einen Film für das Tourismusministerium. Whistler, weißt du, Winterolympiade. Die Umweltschützer protestieren gegen alle möglichen Maßnahmen, und wir sollen dokumentieren, dass das Habitat der Bären nicht gestört wird, der Ausbau von Skipisten den Gletscher sogar entlastet und so weiter. Jeanne war unser Scout. Nächsten Montag ist Drehbeginn. Du hast also eine Woche und fängst praktisch bei Null an, denn sie hat fast nichts hinterlassen, nur wenige Fotos und ein paar fast unleserliche Notizen. Ich geb dir einen Helfer mit, aber Sonntagmittag brauche ich dein Material. Das übliche Honorar plus zwanzig Prozent als Bonus. Noch mehr Kaffee?“

 

Dan ist so selbstgefällig, dass er ein Nein als Antwort einfach nicht hört. Ich gebe ihm siebenundzwanzig Variationen desselben Themas: Ich will nicht mit dir arbeiten! Dan skizziert Lagepläne und Kamerawinkel, beschreibt die Charaktere des Aufnahmeteams, gibt mit seiner neuen technischen Ausstattung und mit seinen Kontakten zum Ministerium an. Dan schreibt einen Scheck, den ich zerreiße, und bringt mich und Harry schließlich zur Tür. Sein Lächeln wirkt noch ein bisschen normierter.

„Danke für den Kaffee, Dan. Und natürlich auch danke von Harry. Viel Erfolg mit deiner Produktion.“

Wir arbeiten uns mühsam und auf weniger befahrenen Schleichwegen den Berg hinunter. Jetzt brauche ich wirklich einen Kaffee, und nicht aus einem italienischen Automaten. Also rein in den Sack, Harry, und verhalte dich ruhig.

Die Rückfahrt auf dem Seabus ist noch bewegender als die Fahrt in die andere Richtung. Vor mir liegt Downtown, das Stadtzentrum von Vancouver, mit seinen Myriaden von Wolkenkratzern, denen alle paar Wochen ein neuer zuwächst. Man sagt, Vancouver sei eine der schönsten Städte der Welt. Das finde ich auch, zumindest an den wenigen Tagen im Jahr, an denen es nicht regnet. Gleich neben der Anlegestelle des Seabus befindet sich der Ocean Terminal. Ein Kreuzfahrtschiff liegt dort vertäut, so viele Decks, dass ich beim Zählen immer wieder durcheinander komme. Ich habe nie verstanden, warum diese schwimmenden Türme nicht beim leisesten Seegang einfach umkippen. Sie fahren im Sommer an der Westküste hinauf bis Alaska, wo sich die Passagiere an Eisbergen, Walen und der Kunst der Schiffsköche ergötzen. Nicht mehr lange, vermute ich, denn die Wale brechen auseinander und die Eisberge sind am Aussterben – oder umgekehrt.

Harry darf jetzt wieder auf eigenen Füßen laufen, ich muss nur aufpassen, dass nicht jemand auf ihn tritt. Zwanzig Minuten später sind wir daheim. Ich stelle fest, dass ich nicht dazu gekommen bin, meine Negative von Dan zu verlangen. Er hat mich mit seinem Geschwätz ganz einfach überrollt. Während ich Wasser in die Kaffeemaschine fülle, zeigt mir Harry an, dass wir Besuch bekommen. Da klopft es auch schon an der Tür. Sehr energisch, mit der Autorität der Staatsgewalt.

„Wir haben auf Sie gewartet“, verkündet Marlowe. Heute bleibt er stehen, bis ich zur Seite trete und eine einladende Bewegung mache. Er lässt sich in meinem Lieblingssessel nieder, und ich setze die Kaffeemaschine in Gang.

„Tut mir leid, Inspektor, wir waren verhindert. Aber wir wollten gleich nach dem Mittagessen vorbeikommen. Milch und Zucker zum Kaffee?“ Er will nur Milch, erklärt mir, das Protokoll sei doch nicht so wichtig, ich könne es ja an einem der nächsten Tage unterschreiben. Überhaupt wirkt er gar nicht wie ein Polizist, eher wie ein Nachbar, der auf einen Plausch hereinschaut.

„Sie sind nicht zufällig mit Sherlock Holmes verwandt?“ fragt er unvermittelt.

„Inspektor! Sherlock Holmes und Dr. John Watson waren doch keine Brüder oder Cousins. Watson war der ständige Begleiter und gewissermaßen der Resonanzboden des großen Meisters, der dessen Ideen zum Klingen brachte. Er hat im Übrigen viel mehr kluge Gedanken beigesteuert als er dann in seiner Bescheidenheit aufgeschrieben hat. Und er war mein Urgroßvater, ich trage seinen Namen.“

Marlowe grinst breit. „Wie klein die Welt doch ist. Mein Großvater war der Privatdetektiv, der beispielsweise den berühmten Fall der Kleinen Schwester bearbeitet hat. Wir haben also beide die Aufklärung von Straftaten in unseren Genen. Da stört es Sie sicher nicht, wenn ich Sie als Resonanzboden benutze?“ Er zieht einen Packen Fotos aus der Tasche. „Ich muss Ihnen ein Kompliment machen, Watson. Dies sind die besten Tatortfotos, die ich je gesehen habe. Sollte der Fall je vor Gericht kommen, wird sich auch die Jury darüber freuen. Sie sind wirklich ein Profi. Gelegentlich würde ich gern mal andere Arbeiten von Ihnen sehen.“

Ich murmele ein Dankeschön für die Anerkennung, und er kann ja mal vorbeikommen, wenn wir mehr Zeit haben, dann zeige ich ihm ein paar Aufnahmen, und was man eben in so einer Situation sagt.

Aber damit gibt er sich noch nicht zufrieden. „Wenn Sie mir noch ein bisschen von Ihrer Zeit opfern können, möchte ich Ihr Know-how einmal mehr in Anspruch nehmen.“ Er zieht einen weiteren Stapel Fotos aus der Tasche. „Diese Bilder wurden bei der Leiche gefunden. Das heißt, nicht die Abzüge, sondern eine von diesen winzigen SD-Speicherkarten. Es muss sich um etwas Wichtiges handeln, denn sie hatte sie in ihrem BH versteckt, was sicher wegen der scharfen Ecken etwas unbequem war. Sagen Sie mir, was Sie davon halten.“

Das erste Foto zeigt einen Berg. Es kann kein sehr hoher Berg sein, denn er ist bis zum Gipfel bewaldet. Nur zwischendurch ist an der einen oder anderen Baumlücke kahler, steiler Fels zu sehen. Es ist eine Aufnahme, wie kein Profi mit Selbstachtung sie je schießen würde. Schuld daran ist das Wetter. Es muss in Strömen geregnet haben. Alle Konturen sind unscharf; die Farben der Bäume, der Felsen, des Himmels verlaufen in einem alles überziehenden Grau.

„Da hat sie nur aus Versehen auf den Auslöser gedrückt“, gebe ich meine Meinung kund. Aber das will er nicht akzeptieren und legt mir die nächsten Bilder vor, an die zwanzig Aufnahmen, die immer wieder denselben Berghang zeigen, in verschiedenen Kameraeinstellungen, manche von einem leicht veränderten Standpunkt aus, auch Zoom-Aufnahmen mit einem Zweihundert-Millimeter-Objektiv von verschiedenen Punkten des Hanges. Natürlich hat er Recht. Nicht nur wurden die Bilder keineswegs aus Versehen gemacht, es wurde sogar große Sorgfalt darauf verwendet. Schlecht sind sie trotzdem, denn ohne Licht kann man kein Lichtbild machen. Also: welche Absicht steckt dahinter?

„Sie war also Fotografin? Was wissen Sie sonst noch über sie?“

„Noch nichts, und auch dass sie ein Foto-Profi war, ist nur eine Vermutung.“ Er zuckt resigniert mit den Schultern. „Wir haben ihre Fingerabdrücke nach Toronto geschickt, aber es dauert immer eine Weile, bis unsere Anfragen beantwortet werden. Daran sind einerseits die drei Stunden Zeitdifferenz schuld, und andererseits werden wir von der Westküste einfach nicht so furchtbar ernst genommen.“

„Warum meinen Sie, dass die Fotos wichtig sind?“ will ich wissen.

„Erstens ist da der Aufbewahrungsort der Speicherkarte. Zweitens die mehrfache Wiederholung desselben Motivs. Drittens die anderen Fotos auf der Karte. Haben Sie einen Computer, auf dem wir das alles ansehen können?“

In meinem Studio schaut er sich verwundert um. „Für einen arbeitslosen Fotografen im Ruhestand ist das ziemlich aufwendig“, bemerkt er.

„Ich habe ja nicht gesagt, dass ich den ganzen Tag nur fernsehe. Ich nehme nur keine neuen Aufträge mehr an. Das hätte sich heute Vormittag beinahe schon wieder geändert. Haben Sie die Speicherkarte?“

Während der Computer bootet, versucht er, mehr über meinen neuen Auftrag herauszufinden. Ich wimmle ihn ab und vertröste ihn auf – vielleicht – später. Erst einmal die Fotoanalyse.

Ich klicke uns schnell durch die schon bekannten Fotos. Das erste neue zeigt einen anderen Berghang. Dieser ist kahl, unbewaldet, blanker Fels. Die Beleuchtung ist günstiger, es herrscht helles Sonnenlicht, wahrscheinlich ist es früher Nachmittag. Konturen und Farben sind brillant herausgearbeitet. Das Bild hat trotz des reizlosen Motivs eine künstlerische Qualität.

„Sie hatte ein Faible für Berge“, gebe ich meine Schlussfolgerung kund.

„Für einen Berg“, korrigiert er mich. „Sehen Sie sich die Gipfellinie an, und vergleichen Sie sie mit dem Ausdruck des ersten Fotos. Sie sind identisch.“

Er hat wieder Recht. Es ist derselbe Berg, vor und nach einem kolossalen Erdrutsch, der den ganzen Bergwald abgerissen hat.

„Wir haben noch nicht herausbekommen können, wo diese Aufnahmen gemacht wurden. Das Geografische Institut der Universität sucht nach der Antwort. Was ich von Ihnen wissen will: Warum fotografiert sie den Berg an zwei verschiedenen Tagen? Sollte das eine Dokumentation werden?“

So sieht es zumindest aus. Fragt sich nur, was sie dokumentieren wollte. Ich sehe mir die Tele-Aufnahmen des trüben Bergwaldes noch einmal an. Zwei Stellen hat sie ausgewählt. Ich zoome eine heran, bis die einzelnen Pixel auf dem Monitor zu sehen sind. Aus der graugrünen Suppe stechen, verschleiert, aber deutlich erkennbar, gelbe und orangefarbene Punkte hervor. Die gelben summieren sich zu etwas, das zwei Schutzhelme sein könnten, und dann müsste das Orange wohl zu Schutzjacken gehören, wie sie Arbeiter beim Straßenbau tragen. Straßenbauarbeiter im Bergwald. Waldarbeiter. Was sie dort machen, ist nicht erkennbar. Ohne die Leuchtfarben hätte ich sie nie bemerkt.

„Sie hat diese Männer fotografiert“, schließe ich messerscharf. „Nur zu welchem Zweck? Vielleicht fällen sie illegal irgendwelche geschützten Bäume. Mehr lässt sich aber hier nicht mehr herauslesen.“

„Männer im Bergwald! Sie haben in einer Stunde schon viel mehr entdeckt als meine Leute seit gestern Nachmittag. Wenn wir nur mal ein paar ordentliche Computer bekämen! Jedenfalls vielen Dank für Ihre Mühe. Ich lade Sie dafür zum Lunch ein. Ihr Lieblingsrestaurant, Spaghetti, Pizza oder Hamburger?“

Wir einigen uns auf den Schnellimbiss an der Zehnten Avenue. Das Personal dort ist tolerant und ignoriert Harry, solange er sich nicht allzu deutlich bemerkbar macht. Harry weiß das genau und hat noch nie einen Mucks hören lassen. Marlowe bestellt für sich ein Stück Pizza und ein Mineralwasser. Ich nehme zwei Hamburger, einen mit und einen ohne Senf. Der ohne ist für Harry. Er liebt Hamburger. Wir erobern einen der hohen Stehtische mit zwei Barhockern, rätseln weiter an den Fotos herum und bedauern diese junge, elegante Frau. Marlowe betrachtet diese Einladung offensichtlich nicht als Entlohnung für geleistete Dienste. Sie ist, wenn ich mich nicht sehr täusche, ein Freundschaftsangebot. In seinem ganzen Verhalten scheint er mir heute viel freundlicher gesinnt als gestern. Wirklich sehr viel freundlicher. Ich finde ihn eigentlich auch sympathisch. Der knurrige Ton von gestern ist offenkundig nur ein berufliches Werkzeug.

„Wissen Sie schon die Todesursache, Inspektor?“ frage ich. Ich erwarte keine Antwort auf eine so heikle Frage.

„Meine Freunde nennen mich Phil. Tod durch Herzversagen. Aber es war Mord. Sie trägt an Armen und Beinen Spuren von Verbrennungen durch Elektrizität. Das hat ihr Kreislauf nicht ausgehalten. Wir konnten sie noch nicht identifizieren, keine Handtasche, keine Papiere, keine Schlüssel, kein Handy. Nur diese Fotodiskette. Übrigens scheint sie nicht von hier zu sein. Alle Etiketten in ihrer Kleidung – teure Marken – sind französisch.“

Es klingelt, es klopft. Es klingelt in meinem Kopf. Laut! „Ich glaube, Phil, ich kann dir helfen. Wenn mich nicht alles täuscht, heißt sie Jeanne Lafontaine und kommt aus Montreal.“ Ich erzähle ihm von meinem Besuch bei Dan.

Er lässt die Hälfte seines Mittagessens liegen, zerrt mich aus dem Lokal, kaum dass ich mir noch Harry schnappen kann, der auch noch nicht aufgegessen hat, und schiebt uns in seinen Wagen. Der steht praktischerweise direkt vor der Tür im Parkverbot. Polizisten sind ja immer im Dienst und dürfen so was. Jetzt geht es endlich wieder lebensecht weiter, wie im Fernsehen. Von irgendwo bringt er ein Rotlicht her, das er aufs Dach setzt. Gleichzeitig schaltet er seine Sirene ein und beschleunigt auf ungefähr zweihundert. Damit hört der Realismus auch schon wieder auf. Kein Lastzug stößt rückwärts aus einer Einfahrt, um uns den Weg zu versperren, wir geraten nie auf die Gegenfahrbahn, nicht einmal die Reifen quietschen. Der Mann hat noch viel zu lernen! Aber wenigstens spricht er in sein Funkgerät.

„Jeanne Lafontaine. Ich brauche die Adresse. Fragt bei der Telefongesellschaft, beim Stromversorger. Fünf Minuten!“ Die Dringlichkeit der Anfrage wird durch den akustischen Hintergrund der Sirene potenziert. Für Harry ist der Hintergrund Vordergrund, und er findet das Geräusch widerwärtig. Zuerst wollte er dagegen anbellen, aber jetzt wimmert er nur noch leise. Gern säße er jetzt im Rucksack, aber den habe ich leider nicht mitgebracht. Ich nehme ihn auf den Schoß und kraule ihm den Nacken. Das beruhigt ihn einigermaßen. Harry ist froh, dass wir in unserem Auto keine Sirene haben.

 

Vor der Polizeistation lässt Marlowe den Wagen mit laufendem Motor und rotierendem Rotlicht irgendwo stehen und verschwindet in dem Gebäude. Mir ist nicht ganz klar, was er von mir will. Wahrscheinlich hat er uns nur mitgeschleppt, weil ihm in der Eile nichts Besseres eingefallen ist. Harry wird ungeduldig, und ich fühle mich unbehaglich unter den entrüsteten Blicken der Leute, denen wir im Wege stehen. Als könnte ich was dafür. Wir gehn rein, Harry, komm.

„Wo ist Inspektor Marlowe hingegangen?“ frage ich den Polizisten, der hinter der Eingangstür als eine Art Empfangschef thront.

„Die Mordkommission befindet sich einen Stock höher“, informiert er mich, den Blick fest auf Harry gerichtet. „Den Hund müssen Sie aber draußen lassen.“

„Harry ist ein wichtiger Zeuge“, belehre ich ihn. Mit dem wichtigen Zeugen unterm Arm und einem Kribbeln im Rücken erklimme ich die Treppe.

„Halt, Polizei, keine Bewegung!“ Der so vertraute Ruf ertönt nicht. Ist der Polizist etwa gar nicht echt? Auf dem Treppenabsatz blicke ich zurück. Er hat keine Pistole gezogen, steht nur da und hebt ratlos die Schultern.

Aus einer offenen Tür höre ich Marlowes Stimme. „Zum Teufel noch mal, dies ist die Mordkommission, Mann. Ich brauche die Information jetzt, nicht, wenn es Ihnen passt. Jetzt, maintenant, subito, en seguida! Kapiert? Nein, Sie rufen nicht zurück, ich warte. Und wenn ich länger als drei Minuten warten muss, dann schicke ich Ihnen drei Streifenwagen und lasse Ihr Gebäude nach einem entflohenen Häftling durchsuchen. Sie ahnen nicht, was bei einer gründlichen Suche alles kaputtgehen kann! Drei Minuten ab jetzt.“ Er sieht uns in der Tür stehen und winkt uns herein. „Entschuldige, John, ich hab euch ganz vergessen. Sucht euch einen Stuhl, es dauert nicht lang.“

Einen Stuhl zu finden ist nicht schwer. Es gibt nur einen, und der steht vor Seans Schreibtisch. Dies scheint sein Büro zu sein. Ein bisschen nüchtern, aber sonst ganz angenehm, viel besser jedenfalls als die hektischen Großraumbüros aus dem Fernsehen, in denen Polizisten in Uniform und in Zivil herumwimmeln und Besucher mit oder ohne Handschellen, wo Stimmengewirr und Telefonkakofonie dem Zuschauer keinen klaren Gedanken mehr zugestehen. Ja, ohne Marlowes bühnenreif vorgetragenen Wutausbruch wäre es sogar ein gemütliches Büro. Sean hat sich in seinem Sessel zurückgelehnt und versucht, seine Irritation hinter einer gelassenen Miene zu verbergen.

Marlowe vollführt einen Trommelwirbel mit den Fingern und wartet. „Na also! Sie sind sogar noch zehn Sekunden unter der Zeit. Die schreibe ich Ihnen für das nächste Mal gut. Wie lange wohnt sie schon dort? Irgendwelche Auffälligkeiten? Danke. Sehen Sie, so gewinnt man die Polizei als Freund.“ Und zu mir und Harry gewandt: „Diese Bürokratenärsche versuchen immer ihre Spielchen mit uns. Wir haben eine Adresse. Es wäre mir lieb, wenn du mitkommen könntest. Vielleicht ist etwas unter ihren Fotografensachen, das wir nicht auf Anhieb erkennen. – Sean, auf gehts.“

Marlowe fährt selber, ohne Rotlicht und ohne sonderliche Eile. Sean fühlt sich auf dem Beifahrersitz sichtlich fehl am Platz. Es bleibt mir genügend Zeit, ihn in die Verflechtung zwischen der toten Frau, dem Filmproduzenten, der verschwundenen Fotografin und mir einzuweihen. Vor einem kleinen Apartmentgebäude in False Creek parkt Marlowe auf der falschen Straßenseite. Vor zwanzig Jahren war dies ein trendiges Viertel, wo postmoderne Neubauten zu überzogenen Preisen im Stundentakt verkauft wurden. Bald aber regnete es in die oberen Wohnungen, Türen klemmten, Fensterspalten machten das Heizen unerschwinglich, und eine Firma, die man dafür hätte zur Verantwortung ziehen könnten, existierte schon lange nicht mehr. Schäbigkeit griff schnell um sich, und wer jetzt dort wohnt, hat nicht vor, lange zu bleiben.

Die Sekte der Türklingelfreunde hat hier einen Sieg errungen. Es gibt acht Knöpfe. Die Schilder dazu haben keine Namen, nur die Nummern der Apartments. Eines der beiden untersten sagt Manager. Sean muss die Frau aus dem Nachmittagsschlaf gerissen haben. Ja, das sei ein Bild von Jeanne Lafontaine, sie habe nur für drei Monate gemietet. Nein, Besucher seien der Managerin nicht aufgefallen, und Miss Lafontaine habe sie schon länger nicht mehr gesehen, eine Woche vielleicht oder auch zwei. Das hat sie auch den beiden Herren gesagt, die vorgestern hier waren. Miss Lafontaine hatte sie geschickt, die sollten was holen.

Die Managerin hat einen Hauptschlüssel und lässt uns in die Wohnung im zweiten Stock. Nein, den Herren hat sie nicht aufgeschlossen, die hatten ihren eigenen Schlüssel. Sie sahen ganz normal aus, ungefähr so wie wir drei, ziemlich genauso groß und auch genauso alt und ebenso gekleidet. Ich habe eine gelbe Regenjacke an, Phil trägt heute einen formellen Anzug mit Krawatte, und Sean hat sich mit einer großkarierten Jacke als amerikanischer Tourist verkleidet. Ich versuche, mir vorzustellen, wie ein Fahndungsaufruf wohl aussehen könnte.

Innen sieht es aus wie in jedem der zahllosen möblierten Apartments, die rund um die ganze Welt von häufig wechselnden Mietern bewohnt werden. Das Mobiliar stammt nicht aus jenem weltweit bekannten schwedischen Möbelhaus, aber möglicherweise von einem örtlichen Konkurrenten. Das Sofa im Wohnzimmer ist nicht neu und nicht alt, der Teppichboden könnte Reinigung vertragen, schreit aber noch nicht allzu laut danach. Lafontaine war entweder eine sehr sparsame Frau, oder Dan hat ihr Honorar so schofel gedrückt, dass sie sich kein ordentliches Hotel leisten konnte. Andererseits hat ihre Kleidung nicht nach Billigkaufhaus ausgesehen.

„Ganz und gar nicht“, bestätigt Sean. „Das sind ausgesprochen teure Label. Vielleicht war sie Modefotografin und ist billiger an die Sachen gekommen.“

„Telefonier die Modedesigner in Montreal durch“, ordnet Marlowe an. Nein, er ordnet nicht an, er befiehlt nicht, er schlägt vor, empfiehlt. „Irgendwer in der Szene muss sie kennen. Wir brauchen Adresse, Angehörige und all den Kram.“

In den Küchenschränken finden wir Kaffeetassen aus braunem und Teller aus durchsichtigem Glas, im Kühlschrank eine Familienpackung Müsli und einen Zwei-Liter-Eimer fettarmen Joghurt. Im Wohnzimmer steht ein Tisch vor dem Fenster, der wahrscheinlich als Schreibtisch gedient hat, denn darauf liegen verschiedene Papiere. Sean steckt sie vorsichtshalber in die mitgebrachte Einkaufstüte.

„John, du könntest dich nach typisch fotografischen Dingen umsehen, aber fass möglichst wenig an, wegen der Fingerabdrücke. Nein, warte ...“ Aus der Tiefe einer Jackentasche holt Marlowe ein Reservepaar Latexhandschuhe hervor. Ich habe mich immer gewundert, woher die Detektive im Krimi ihre Handschuhe bekommen und die Plastikbeutelchen für die Beweisstücke. Jetzt ist mir klar, dass die zur Standardausrüstung gehören wie Farbfilter oder Stativ beim Fotografen. Farbfilter finde ich in einer kleinen Kommode, auch ein kleines Tischstativ und ein ziemlich teures elektronisches Blitzgerät. Mehrere Wechselobjektive. Ein paar kleine Spotlights, wie man sie bei der Außenarbeit verwendet, wenn man nur eine Autobatterie zur Verfügung hat.

„Interessant, was alles fehlt“, erkläre ich den beiden Kriminalbeamten. „Keine Kamera! Jeder Profi hat mehrere, ein halbes Dutzend oder so, trägt aber nie alle gleichzeitig mit sich rum. Ein Profi hat immer einen Vorrat an Filmen. Sie hat digital fotografiert, also müssten Speicherchips herumliegen. Aber vor allem fehlt der Computer, auf dem sie ihre Bilder ansehen, bearbeiten, auswerten kann.“

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