Seewölfe Paket 30

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2.

Nur etwa acht Meilen westlich von der Ankerbucht der Seewölfe entfernt ereignete sich zur selben Stunde ein schweres Seeunglück. Eine Zwei-Mast-Karavelle, etwa achtzig Tonnen groß, wurde von den brodelnden Fluten genau auf das Ufer gestoßen.

Wie durch ein Wunder passierte das Schiff unversehrt die Riffe. Einem kranken Tier gleich taumelte der Segler auf den Strand zu. Gellende Schreie ertönten an Bord. Doch das Unheil war nicht mehr zu verhindern. Es krachte und knackte, und die Karavelle lief auf.

Etwa drei Yards weit schob sich das Schiff durch den Sand, dann krängte es nach Backbord und legte sich quer. Wieder schrie die Besatzung in höchster Not. Eine niedersausende Spiere tötete zwei Männer. Eine Kanone, die sich aus ihrer Vertäuung gelöst hatte, riß einen dritten Mann mit und begrub ihn unter sich.

Kapitän Burl Ives wurde vom Achterdeck katapultiert. Er überrollte sich im Sand und blieb unversehrt. Stöhnend und fluchend richtete er sich auf und blickte im fauchenden Sturm zu seinem Schiff.

Die „Samanta“ war nur noch ein Wrack. Die Reise war hier zu Ende. Die Ladung würde nie ihren Bestimmungshafen erreichen.

Ives rannte zu seinen Männern. Es waren nur noch zehn. Im Sturm waren mehrere außenbords gerissen worden und in den Fluten verschwunden. Jetzt hatte das Auflaufen auch noch Opfer gefordert – insgesamt fünf. Aber Ives wußte, daß er noch froh sein konnte. Um ein Haar wären sie alle erledigt gewesen. Es hatte nicht mehr viel gefehlt, und die „Samanta“ wäre untergegangen.

Die Passagiere, dachte Burl Ives, mein Gott, die Passagiere!

Er kletterte zurück an Bord, stieg mühsam über das schräge Deck und versuchte, das Achterkastell zu erreichen. Seine Männer krochen und wankten verwirrt auf und ab.

Guzman und eine Handvoll Piraten hatten das Geschehen von einem sicheren Platz in den Dünen beobachtet. Grinsend rieben sie sich die Hände. Guzman schickte einen der Kerle zum Dorf. Er sollte Olivaro und die anderen benachrichtigen. Diese gestrandete Karavelle war ein gefundenes Fressen für die Bande von Schnapphähnen.

Olivaro fackelte nicht lange, als der Bote die Nachricht überbrachte. Er stürmte aus der Hütte und rief seine Kumpane zusammen. Fünf teilte er als Wachen ein, sie blieben in der Siedlung zurück. Alle anderen sollten mit zu der Karavelle. Das Schiff war eine sichere Beute, aber die Mannschaft würde sich gewiß nicht kampflos ergeben. Also mußte das Aufgebot entsprechend groß sein.

Bis an die Zähne bewaffnet rückten die Kerle aus und rannten durch die Nacht. Der Sturmwind fetzte ihnen Sand und Gräser um die Ohren. Sie kümmerten sich nicht darum. Sie dachten nur an eins – an die Karavelle und das, was sich in ihrem Rumpf befinden mochte.

Kapitän Burl Ives hatte unterdessen das Achterkastell seines Schiffes erreicht. Unter großen Schwierigkeiten gelang es ihm, das Schott zu öffnen. Er schlüpfte ins Innere und arbeitete sich durch den Mittelgang zu den Kammern. Trotz des Sturmgeheuls vernahm er jetzt ein leises Wimmern.

Die Kammer, in der das Wimmern erklang, war wie eine Gefängniszelle verrammelt. Die Wände hatten sich verzogen, das Schott war wie zugenagelt.

Ives wandte sich seiner Kapitänskammer zu. Hier sah es aus, als hätten Verrückte gehaust – alles drunter und drüber. Dennoch fand Ives nach einiger Suche ein Werkzeug. Er kehrte damit zu der Kammer zurück und brach das Schott auf.

Stockfinster war es im Inneren. Ives tastete sich zu den Kojen vor. Plötzlich berührte er einen weichen, warmen Körper.

„Ich bin’s, der Kapitän“, sagte er. „Erschrecken Sie nicht, Miß Farah.“

Das Mädchen schluchzte auf und klammerte sich an ihm fest. „Allmächtiger, was ist geschehen? Wo sind wir?“

Ives setzte ihr auseinander, was sich zugetragen hatte.

„Wir sind jetzt in Sicherheit“, erklärte er. „Sie brauchen keine Angst mehr zu haben.“

„Dad“, sagte sie mit bebender Stimme. „Wo bist du?“

Ives suchte nach dem Vater des Mädchens und fand den Mann. Harold Acton lag zwischen den Trümmern seiner Koje. Ein Deckenbalken hatte sich gelöst und war auf das Nachtlager gestürzt, in dem der Mann sich festgebunden hatte, um in dem rollenden Schiff nicht ständig hin und her geworfen zu werden.

Ives kehrte zu dem Mädchen zurück.

„Sie müssen jetzt ganz tapfer sein, Miß Farah“, sagte er.

„Er ist tot, nicht wahr?“

„Ja.“

Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte klagend. Dem Kapitän zerriß es fast das Herz. Er wußte nicht, was er tun sollte. Während der Reise hatte er die beiden, Vater und Tochter, schätzen gelernt. Für ihn selbst war es ein harter Schlag, daß Harold Acton tot war. Voll Mitleid zog Ives das Mädchen in seine Arme.

Draußen erklangen plötzlich Schüsse und Schreie.

„Himmel!“ keuchte das Mädchen. „Was ist jetzt wieder los?“

„Ich sehe nach“, erwiderte Ives. „Sie rühren sich nicht vom Fleck.“

Er kroch ins Freie, bewaffnet mit seiner Pistole. Was da draußen, am Strand, seinen Verlauf nahm, konnte er sich sehr gut ausmalen. Küstenhaie, Wegelagerer, Buschteufel – sie lauerten nur auf Beute und fielen jetzt über die Mannschaft her.

In der Tat, Olivaro und seine Meute hatten die Mannschaft angegriffen. Als erstes brachten die Piraten ihre Musketen und Pistolen zum Einsatz. Einige waren naß geworden und zündeten nicht, aber gut ein Dutzend Waffen krachten und spuckten ihre tödlichen Ladungen aus. Schreiend brachen ein paar Gestalten vor der gestrandeten Karavelle zusammen. Die übrigen griffen zu den Waffen.

Aber nur die wenigsten Männer der Besatzung hatten Schußwaffen dabei. Außerdem war im Sturm das Pulver naß geworden. Sie hatten nur eine Chance: sich im Nahkampf mit den Blankwaffen zu behaupten.

Brüllend stürzten sich die Piraten auf die armen Teufel. Olivaros Horde war klar in der Überzahl. Nur kurz war das Handgemenge. Die Säbel klirrten, die Klingen schepperten – und die Köpfe rollten, wie Olivaro prophezeit hatte.

Burl Ives sprang auf den Strand. Er hob die Pistole und zielte auf Olivaro. Aber die anderen Piraten umzingelten ihn. Guzman war schräg hinter dem Kapitän und hob seinen schweren Schiffshauer, um den Mann zu enthaupten.

Kapitän Burl Ives ließ die Waffe sinken. Olivaro sah es und grinste voll Hohn und Triumph. Er brauchte nur einen Wink zu geben, und Guzman schlug zu. Doch irgend etwas bremste Olivaro. Er wollte den Mann – offensichtlich handelte es sich um den Kapitän – lebend.

Vielleicht ist der noch für eine Überraschung gut, dachte der Piratenführer.

Olivaro blickte zu Guzman.

„Halt“, sagte er. „Das genügt jetzt.“ Er trat dicht vor Ives hin. „Bist du der Kapitän dieses Schiffes?“

Ives verstand die spanische Sprache nur in ihren Ansätzen.

„Ja“, erwiderte er.

„Wer bist du?“ fragte Olivaro. „Ein Engländer?“

„Ja.“

„Gehört dir das Schiff?“

„Ja.“

Olivaro lachte dröhnend. „Es gehörte dir. Jetzt ist es unser. Was hast du geladen, Hund von einem Engländer?“

„Ich verstehe dich nicht“, erwiderte Burl Ives.

Olivaro versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. Ives flog gegen die Bordwand seines Schiffes. Olivaro wiederholte seine Frage in gebrochenem Englisch und brüllte: „Hast du mich jetzt verstanden?“

„Allerdings“, entgegnete der Kapitän in seiner Muttersprache. „Nun, die Ladung wird dich interessieren. Wir haben Bier und Whisky an Bord und wollten das Zeug in Genua verkaufen.“

Olivaro war enttäuscht, aber er beherrschte sich. Er hatte sein Mienenspiel bestens in der Gewalt. Gold und Silber hatte er erwartet – aber immerhin, Alkohol war auch nicht schlecht. Zumindest konnte er seine Kerle damit bei Laune halten.

„He, habt ihr das gehört?“ brüllte er der Bande zu. „Bier und Whisky! Der Kahn ist mit Fässern vollgestopft, bis unter die Ladeluken!“

Die Kerle johlten und pfiffen. Sie hatten nichts dagegen einzuwenden, sich heute nacht gehörig vollaufen zu lassen. Bier und Whisky, das war ganz nach ihrem Geschmack.

Burl Ives trat wieder auf den Piratenführer zu. Er hatte einen Entschluß gefaßt. Wenn er nicht sofort handelte, war Farah Acton verraten und verkauft.

„Ich möchte dir etwas anvertrauen“, sagte er zu Olivaro.

Olivaro horchte auf. Seine Kerle waren schon dabei, die Karavelle zu entern und die Ladeluken aufzubrechen.

„Was willst du?“ fuhr er den Engländer barsch an.

„Es handelt sich um ein Geheimnis. In meiner Kammer ist eine Geldschatulle versteckt.“

Olivaro stieß einen Pfiff aus. Also doch noch ein Lichtblick!

„Ich gebe dir die Schatulle freiwillig“, sagte Ives.

Olivaro sah ihn verschlagen an. „Ich würde sie sowieso finden, wenn ich den Kahn auseinandernehme.“

„Das bezweifle ich.“

Olivaro kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Und was bezweckst du Hundesohn mit dieser edlen Geste?“

„Ich bitte dich um einen Gefallen.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Ich habe einen weiblichen Passagier an Bord“, erklärte der Kapitän. „Es handelt sich um meine Tochter. Sie heißt Farah. Sie teilte sich mit meinem Bruder die Kammer. Mein Bruder ist tot. Ich möchte nicht, daß deine Männer über das Mädchen herfallen. Es ist die einzige Bitte, die ich an dich habe. Töte mich, aber verschone sie.“

Olivaro überlegte. Was hatte dieser Bastard von einem Engländer vor? Wollte er ihn hereinlegen?

Burl Ives hielt es für richtig, Farah als seine Tochter auszugeben. So hatte er vielleicht doch eher die Gewähr, sie zu retten – wenn dieser Piratenhäuptling ein Fünkchen Anstand und Ehre im Leibe hatte.

 

Daß Olivaro zu allem fähig war, sah Ives ihm an. Der Engländer hoffte aber, daß die Gier nach der Schatulle ein Beweggrund für den Schnapphahn war, das Mädchen wenigstens eine Zeitlang in Ruhe zu lassen.

Olivaro faßte seinen Entschluß. Seine Augen glitzerten in der Nacht.

„Also gut!“ zischte er, so daß nur Burl Ives seine Worte verstehen konnte. „Die Schatulle für das Leben und die Ehre des Frauenzimmers! Aber ich warne dich! Wenn du versuchst, mich übers Ohr zu hauen, lasse ich dich in Stücke reißen und das Mädchen von meinen Kerlen hernehmen.“

„Mein Ehrenwort, daß alles der Wahrheit entspricht“, sagte Ives.

„Meine Kerle brauchen von der Schatulle nichts zu wissen!“ stieß Olivaro hervor.

„Einverstanden“, erwiderte der Kapitän. So hatte er einen Pakt mit dem Piratenhäuptling getroffen.

„Hol das Mädchen“, befahl Olivaro. „Aber paß auf! Ich knalle euch sofort ab, wenn ihr zu fliehen versucht!“

„Wir werden nicht fliehen“, versprach Burl Ives. Dann kletterte er wieder an Bord und kehrte zu Farah Acton zurück. Auf diese Weise hatte er Zeit und Gelegenheit, sie über alles aufzuklären, was vorgefallen war und was er mit Olivaro ausgehandelt hatte.

Flucht war sinnlos, Olivaro hatte längst rund um das Wrack der „Samanta“ seine Wächter postiert. Burl Ives und das Mädchen waren der Bande ausgeliefert, so oder so.

Doch zumindest hatte der Kapitän einen Aufschub herausgeschunden. Einer Laune Olivaros war es zu verdanken, daß Ives und Farah Acton vorerst nicht über die Klinge sprangen.

Die Piraten hatten die Ladeluken aufgebrochen und fielen wie gierige Ratten über die Fässer her. Als erstes stachen sie ein Faß Bier an. Sprudelnd schoß das Naß heraus. Grölend bewaffneten sich die Kerle mit Kübeln, Pützen und Mucks und gossen sich das Bier in den Rachen.

Olivaro grinste. Die sind erst mal abgelenkt, dachte er.

Es war der richtige Zeitpunkt, sich um die Schatulle zu kümmern. Olivaro enterte auf das Schiff. Seine Gestalt war ein furchterregender Schatten in der Sturmnacht.

In Olivaros „Hauptquartier“ hielt ein einziger Kerl Wache. Er hieß Juanito und zeichnete sich durch beispiellose Faulheit aus. Sich die Stiefel anzuziehen, war ihm zu anstrengend, deshalb lief er immer barfuß herum. Juanito war zu faul, sich richtig zu waschen, zu träge, beim Gehen seine Füße hochzuheben. Sein Schlurfen war sein Erkennungszeichen.

Nur wenn Olivaro ein Schiff angriff, wurde Juanito hellwach. Dann verwandelte er sich in eine reißende Bestie. Heute nacht allerdings war er froh, daß ihn Olivaro als Posten im Fischerdorf zurückgelassen hatte. Bei diesem höllischen Sturm hatte Juanito keine große Lust, stundenlang draußen herumzulaufen und sich vom Wind umblasen zu lassen.

Hier drinnen war es gemütlicher. Juanito hatte sich hingehockt und seine Beine auf den Tisch gelegt. Grinsend entkorkte er eine Flasche Wein – was auch schon eine Arbeit für ihn war. Als er es geschafft hatte, hob er die Flaschenöffnung an die Lippen und ließ sich den süffigen Wein in die Kehle rinnen.

Feines Leben, dachte er.

Draußen heulte und orgelte der Sturm, als wolle er noch ein paar Jahre so wüten. Egal, sagte sich Juanito, so halte ich es aus. Solange der Weinvorrat reichte, der sich in einem Nebenraum befand, hatte er keinen Grund, sich zu beklagen.

Und wenn die Spießgesellen im Verlaufe der Nacht sogar noch mit Beute anrückten, war das Leben noch schöner. Denn sie mußten auch mit Juanito teilen. Jeder von der Bande, ganz gleich, welche Aufgabe er gerade versah, hatte Anspruch auf sein Stück von dem großen Kuchen, wenn es ans Verteilen ging.

Plötzlich zuckte Juanito zusammen.

Unter ihm ertönte ein gellender Schrei – wie in höchster Todesnot ausgestoßen.

Um ein Haar hätte Juanito etwas von dem kostbaren Wein verschüttet. Er verschluckte sich und hustete. Teufel auch! Was hatte das Geschrei zu bedeuten? Kriegten sich die Bastarde dort unten nun schon gegenseitig in die Haare?

Juanito gab einen grunzenden Laut von sich. Er hustete noch ein bißchen, dann war die Aufregung vorbei. Wieder nahm er einen ordentlichen Schluck von dem Rebensaft. Was kümmerte ihn, was die Fischerfamilie trieb? Von ihm aus konnte das Pack sonst was veranstalten. Sollten sie sich ruhig die Augen auskratzen. Ihn, Juanito, konnte das in seiner wohlverdienten Ruhe nicht stören. Ihn ging das alles nichts an.

Wieder stieg ein spitzer Schrei aus dem Keller auf.

Juanito nahm die Füße vom Tisch und stieß eine üble Verwünschung aus. Dann nahm er die Riesenanstrengung auf sich, sich zu erheben. Er stellte die Flasche weg und wischte sich mit dem Handrücken über den feuchten Mund. Drecksgesindel, dachte er aufgebracht, euch ziehe ich die Hammelbeine lang.

Fluchend bückte er sich und öffnete die Kellerluke. Wohlweislich nahm er die Pistole in die Hand und spannte den Hahn. Die Bastarde sollten nicht glauben, daß sie ihn mit einem billigen, dämlichen Trick hereinlegen konnten.

Trotz des Sturmwindes, der in diesem Moment mit größter Macht brüllte und die Hüttenwände erzittern ließ, konnte Juanito ganz deutlich das Weinen des Mädchens unter sich vernehmen.

„Was ist da los?“ schrie er. „Könnt ihr nicht eure Klappen halten, ihr verdammtes Lausepack?“

Pamela Calafuria heulte und schluchzte zum Steinerweichen. Sie tat genau das, was ihr Bruder Rodrigo ihr eingeschärft hatte. Und Domingo und Asuncion, die Eltern, spielten ebenfalls mit. Jeder hatte seine Aufgabe in dem Unternehmen, das jetzt ablief.

„Wer hat da geschrien?“ stieß Juanito zornig hervor. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, unter sich etwas zu erkennen. Aber es war stockfinster.

„Ich war’s“, erwiderte Pamela mit bebender Stimme.

Juanito lachte roh. „Was ist los, kriegst du’n Kind?“

„Eine Ratte hat mich gebissen!“ klagte das Mädchen.

„Pfui Teufel!“ stieß Juanito hervor.

„Muß ich jetzt sterben?“ heulte Pamela.

„Ach, Quatsch, die Ratte hat sich höchstens an dir den Magen verdorben“, sagte Juanito. Glucksend lachte er über seinen großartigen Witz und hieb sich sogar auf den Unterschenkel, daß es klatschte.

„Ihr könnt mich doch hier nicht sterben lassen!“ jammerte das Mädchen.

Juanito entsann sich: Sie war ein hübsches Mädchen. Schwarzhaarig, feurig, mit dunklen Rehaugen. Konnte man ein solches Geschöpf umkommen lassen? Nein, das ging denn wohl doch zu weit.

„Sieh dir doch die Wunde an“, keuchte Pamela. „Sie blutet wie verrückt.“

„Warte“, sagte der Kerl grunzend. „Ich hole eine Lampe. Habt ihr denn kein Licht da unten, ihr Dummköpfe?“

„Das Öl ist uns ausgegangen“, sagte Domingo Calafuria.

Juanito holte die Öllampe, die an einem Eisenhaken unter dem Mittelbalken der Decke hin und her schwang, verband sie mit einem Tau und fierte sie in das Kellerverlies ab. Er beugte sich etwas hinunter, um Näheres erkennen zu können. Vorerst sah er nur die verkrümmte Gestalt des Mädchens auf einem der Lager.

Etwas Spitzes, Scharfes traf Juanitos Hals, jäh und völlig unversehens. Rodrigo hatte mit seinem Messer zugestochen. Die ganze Zeit über hatte er unter der Kellerluke gelauert, neben der Stiege. Halt fand er dort nur an zwei dicken Eisennägeln, die aus dem Mauerwerk ragten. Doch die genügten dem jungen Mann. Rodrigo war schlank und gewandt wie eine Katze. Und er war von dem Wunsch beseelt, wenigstens einen dieser Teufel umzubringen.

Die Öllampe fiel in den Keller und kippte um. Domingo eilte zur Stiege und stieg hoch. Pamela griff nach der Lampe und richtete sie wieder auf. Ihre Mutter wischte das verschüttete Öl auf, damit es ja nicht Feuer fing.

Juanito, der Pirat, wollte auf den Gegner feuern, doch das Messer hatte seine Halsschlagader getroffen. Die Kräfte verließen ihn. Die Pistole entglitt seinen schlaffen Fingern.

Domingo Calafuria fing sie auf. Rodrigo packte Juanito mit einer Hand und zerrte ihn nach unten. Der Pirat kippte ab und stürzte hart und mit einem dumpfen Laut auf den Kellerboden.

Asuncion Calafuria und ihre Tochter wichen rechtzeitig zur Seite. Ohne Mitleid blickten sie auf den Galgenvogel. Juanito schien noch etwas sagen zu wollen. Aber sein Kopf ruckte zur Seite. Blicklos waren seine Augen jetzt zur Luke gerichtet, wo Rodrigo blitzschnell nach oben enterte und sich in der Hütte umschaute.

Kein anderer Feind war zu sehen.

Die erste Partie in dem gefährlichen Spiel um Tod und Leben war gewonnen.

3.

Hasard und seine Mannen hatten sich im Laderaum der schwankenden Schebecke versammelt. An Oberdeck hielten Bill und weitere drei Kameraden Wache. Immerhin war damit zu rechnen, daß eventuell auftauchende Schnapphähne es sich in den Kopf setzten, das Schiff anzugreifen. Vorläufig aber blieb alles ruhig.

Der Seewolf hatte die improvisierten Instandsetzungsarbeiten kontrolliert, die von Ferris und dessen Helfern vorgenommen worden waren. Die Lecks waren einigermaßen gut abgedichtet, es mußte nur noch alle zwei bis drei Glasen gelenzt werden. Sinken konnte die Schebecke nicht – was weiter geschah, würde sich nach Hellwerden finden.

Hasard spendierte ein Fäßchen Rum. Die Becher wurden gefüllt, die Mannen tranken. Sie ließen ihren Kapitän hochleben, und sie gratulierten sich selbst dazu, daß sie dem Teufel noch einmal von der Schippe gesprungen waren.

„Das war wirklich knapp“, sagte Ben Brighton. „Die Schebecke ist ein solides Schiff, aber diesem Sturm hätte sie nicht standgehalten.“

„Man sollte das Mittelmeer nicht unterschätzen“, sagte Big Old Shane. „Schon viele haben es für einen Ententeich gehalten. Aber diese See kann höllisch tückisch und gefährlich sein.“

Carberry lachte grollend. „Ich habe früher mal so gedacht, Shane. Aber dann haben wir alle den Gänsetümpel ja so richtig kennengelernt. Und ob der’s in sich hat!“

„Dabei haben wir es wirklich nicht mehr weit bis zur Meerenge von Gibraltar“, sagte Blacky. „Aber die Wasserdämonen scheinen was dagegen zu haben, daß wir England so bald wie möglich erreichen.“

„Meinst du das ernst, oder ist das wieder so ein blöder Witz?“ zischte Old O’Flynn.

„Es ist mein voller Ernst“, erwiderte Blacky.

„Jedenfalls können wir auch im Atlantik noch auf einiges gefaßt sein“, sagte Hasard. „Um diese Jahreszeit toben da auch die übelsten Stürme. Und vergeßt nicht, daß wir durch die Biskaya müssen.“

„Daran denke ich ständig“, sagte Ferris grinsend. „Nun ja, unser Schiffchen wird auf eine harte Probe gestellt, wenn das so weitergeht. Aber das soll wohl so sein.“

„Seid mal still“, sagte Old O’Flynn plötzlich. „Hört ihr das?“

„Klar“, entgegnete Roger Brighton. „Der Wind pfeift, und die Wogen rauschen. Was anderes hören wir ja seit Stunden nicht mehr.“

„Das meine ich nicht“, sagte der Alte.

„Sondern?“ fragte Shane.

Old O’Flynn schnitt eine verkniffene Miene. „Wenn ihr mich ausreden laßt und nicht dauernd unterbrecht – zur Hölle, das waren Schüsse! Musketenschüsse! Nicht weit von hier!“

„Unsinn“, sagte Smoky. „Ich habe nichts mitgekriegt.“

„Dann solltest du deine Löffel mal vom Kutscher untersuchen lassen“, sagte der Alte giftig.

Smoky leerte seine Muck und grinste spöttisch. „Das hast du ja wohl noch nötiger als ich.“

„Meine Ohren funktionieren bestens“, sagte Old O’Flynn.

„Bist du sicher, Donegal? Ich habe auch keine Schüsse gehört“, sagte der Seewolf.

„Ich auch nicht“, pflichtete Ben ihm bei.

Auch die anderen Mannen hatten nichts vernommen.

„Aus welcher Richtung hörtest du die Schüsse?“ wollte Dan O’Flynn von seinem Vater wissen.

„Von Westen.“

„Ich frage mal die Posten, ob sie was bemerkt haben“, sagte Ben.

Er enterte nach oben und rief Bill und den anderen ein paar Worte zu. Bill antwortete. Was er schrie, war unten nicht zu verstehen.

Ben kehrte zu den Kameraden im Laderaum zurück.

„Die Wachen haben nichts gehört“, erklärte er.

„Ich bin aber ganz sicher“, beharrte der Alte. „Das waren Schüsse.“

„Vielleicht war’s ’ne Vision“, meinte Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia.

„Paßt mal gut auf“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn ernst. „Ich bin nach wie vor ganz richtig im Kopf, und ich habe noch alle Tassen dort, wo sie hingehören. Also, unterlaßt diese Anspielungen, klar?“

Der Kutscher griff ein.

 

„Du hast Batuti mißverstanden“, sagte er. „Du weißt doch, in Gambia glauben die Menschen an Magie. Batuti meint, es könnte sich um eins deiner Gesichter handeln.“

„Nein, es ist Tatsache.“

„Wir warten erst einmal ab“, sagte der Seewolf einlenkend. „Heute nacht können wir sowieso nichts unternehmen, Donegal. Ich werde den Teufel tun und jetzt einen Trupp an Land schicken, der die Küste abforscht.“

„Das würde ich auch nicht tun“, sagte der Alte. „Angenommen, es handelt sich bei den Musketenschützen um Schnapphähne. Wir würden ihnen glatt in die Arme laufen.“

„Morgen früh sehen wir weiter“, sagte der Seewolf. „Wir suchen den Strand ab. Vielleicht finden wir noch Spuren.“

„Wenn der Sturm nicht alles fortgeblasen hat“, wandte Stenmark ein.

„Schon möglich“, erwiderte Hasard. „Wir werden sehen.“

„Wer ist so blöd und ballert mitten in der Nacht in der Gegend herum, dazu noch bei schwerem Wetter?“ fragte Paddy Rogers. Es war bekannt, daß er nicht der schnellste Denker war.

„Piraten“, erwiderte sein bester Freund Jack Finnegan.

„Welchen Grund sollten sie dazu haben?“ fragte Paddy.

„Na, sie könnten beispielsweise auf Beute gestoßen sein“, meinte Higgy. „Arme Teufel, die in Seenot geraten sind und in einer Bucht Schutz suchen.“

„Pfui“, sagte Paddy. „So eine Gemeinheit.“

„Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein“, sagte Hasard. „Ben, schick noch zwei Wachen nach oben. Alle sechs sollen die Augen und Ohren offenhalten. Um vier Uhr werden sie abgelöst, und um acht Uhr ist wieder Wachwechsel.“

Ben wählte Piet Straaten und Jan Ranse. Die beiden enterten nach oben auf und verstärkten die Ausguckwachen. Hasard und die Mannen tranken noch ein wenig Rum, dann legten sie sich schlafen. Die ganze Zeit über mußte der Seewolf darüber nachdenken, was wohl an der Küste vorgefallen sein mochte. Hatten tatsächlich Piraten ein Schiff überfallen? Gab es da draußen etwa jemanden, der Hilfe und Beistand brauchte?

Erst der Morgen würde vielleicht die Antwort auf die Fragen bringen. Hasard fiel es nicht leicht, bis dahin auszuharren – und seinen Kameraden ging es genauso. Der Sturm indessen schien nicht abklingen zu wollen. Er heulte und orgelte weiterhin mit unveränderter Gewalt über die Küste.

Kapitän Burl Ives packte Farah Acton bei den Schultern und redete beschwörend auf sie ein. Das Mädchen zitterte am ganzen Leib. Der Tod ihres Vaters hatte sie wie ein schwerer Hieb getroffen. Noch stand sie unter der Einwirkung des Schocks – und das würde auch noch einige Zeit so bleiben.

Trotzdem gelang es Ives, dem Mädchen das Wichtigste auseinanderzusetzen: daß er von jetzt an als ihr Vater auftrat. Es ging um Farahs Leben, um ihre Ehre. Olivaro würde, sobald er von Ives die Schatulle ausgehändigt erhielt, zumindest für einige Zeit seine Kerle an der Kandare halten und ihnen verbieten, daß sie über das Mädchen herfielen.

Farah schluchzte und schluckte heftig. Sie fuhr zusammen, als sie die Gestalt eines Riesen hinter dem Rücken des Kapitäns hochwachsen sah.

„Himmel!“ schrie sie – und dann geistesgegenwärtig: „Vater!“

Olivaro stolperte in die Kammer, hielt sich am Pfosten des Schotts fest.

„Ist sie das?“ brüllte er. „Deine Tochter, Engländer?“

„Ja!“ erwiderte Ives.

Olivaro deutete auf den Toten, der undeutlich zwischen den Trümmern zu erkennen war. „Das war dein Bruder?“

„Ja!“

„Onkel!“ schluchzte Farah.

Sie bewies mehr Reaktionsfähigkeit, als Ives erwartet hatte. Trotz der prekären Lage atmete der Kapitän ein wenig auf.

„Her mit der Schatulle!“ fuhr Olivaro den Kapitän an. „Ich will mit meinen eigenen Augen sehen, ob du mich angeschwindelt hast, Hund!“

Ives verließ die Kammer und kroch im Mittelgang nach achtern. Der Wind schüttelte das Wrack, fast schien es, als würde es jeden Moment ganz auseinanderbrechen. Farah mußte Ives folgen. Olivaro dirigierte die beiden mit der Pistole vor sich her, die er vorher dem Kapitän abgenommen hatte.

Das Schott der Kapitänskammer war offen. Burl Ives arbeitete sich ins Innere vor, bis zur Koje. Hier richtete er sich auf. Farah war mit keuchendem Atem neben ihm. Olivaro richtete sich zu seiner vollen Größe auf und zielte mit der Pistole auf das Mädchen.

„Und jetzt raus mit dem Ding, oder sie ist als erste dran!“ fauchte er.

Burl Ives fuhr mit den Händen über die Holzverkleidung an der Kopfseite der Koje. Er verharrte und bewegte eine Zierleiste. Ein Geheimfach öffnete sich – nur einen Spaltbreit. Ives zerrte es ganz auf, dann förderte er die schwarze Schatulle zutage, in der sich seine Ersparnisse befanden.

Er reichte sie dem Piratenführer. Farah verfolgte es mit tränennassen Augen. Schlagartig begriff sie alles. Ives tat es für sie, um ihr zu helfen. Das werde ich ihm nie vergessen, dachte sie.

Olivaro riß die Schatulle an sich.

„Rührt euch nicht vom Fleck!“ befahl er. Er hielt Ives und das Mädchen weiterhin mit der Pistole in Schach. Mit der freien Hand öffnete er den Kasten.

Bisher hatte sich alles, was Ives gesagt hatte, als richtig erwiesen. Und es stimmte auch, daß Olivaro allein das Geheimversteck mit der Schatulle niemals gefunden hätte. Er hätte sich totsuchen können. Nun war die Frage, ob wirklich Geld darin war.

Der Deckel der Schatulle schwang auf. Münzen klirrten zu Boden. Die Schatulle war bis obenhin mit dicken, schweren Münzen gefüllt. Gold, dachte Olivaro, kein Zweifel. Dafür hatte er auch bei völliger Finsternis den richtigen Blick und Griff.

„Heb die Münzen auf!“ fuhr er das Mädchen an.

Farah Acton bückte sich und sammelte die Münzen ein, so schnell sie konnte. Sie erhob sich wieder und reichte sie dem Piraten. Grinsend nahm Olivaro das verlorene Geld in Empfang. Er legte es in die Schatulle und knallte den Deckel zu.

„Piaster und Dukaten“, sagte er.

„Ich habe dir also nicht zuviel versprochen“, sagte Ives.

„Stimmt. Woher hast du das Geld?“

„Ich habe es mir verdient und auf die hohe Kante gelegt.“

„Du bist der Eigner dieses Schiffes?“ wollte Olivaro wissen.

„Ja.“

Olivaro stieß einen Pfiff aus. „Das heißt, du hast in England noch mehr Geld, nicht wahr?“

Burl Ives zögerte absichtlich mit der Antwort. Er witterte eine Chance – für Farah und für sich.

Olivaro stieß einen ellenlangen Fluch aus und trat einen Schritt auf Farah zu. „Was ist, soll ich die kleine Hure ein bißchen kitzeln?“

„Nein!“ stieß Farah hervor.

„Ich habe noch mehr Geld“, erwiderte Ives endlich. „Daheim, in England.“

„Viel?“

„Einige tausend Piaster.“

Olivaro lachte. Oh, was für einen fetten Fischzug hatte er doch gelandet! Und nur er wußte von diesem Geld! Draußen betranken sich seine Kumpane mit dem Bier und dem Whisky, und sie ahnten nichts von dem, was ihnen durch die Lappen ging.

Olivaro schob sich die Schatulle unters Hemd.

„Weißt du, was ich glaube?“ sägte er glucksend. „Ich werde euch zurück nach England begleiten. Gemeinsam ist die Reise nicht so langweilig, und ich werde euch beschützen. Unterwegs könnte soviel passieren! Ihr glaubt gar nicht, was für schlimme Halunken und Galgenstricke es gibt.“ Er lachte wiehernd.

„Ich verstehe“, sagte Ives.

„Was verstehst du, Engländer?“ erkundigte sich Olivaro drohend.

„Du willst auch den Rest meines Geldes.“

„Was denn sonst?“ Der Anführer kicherte. „Das ist mein gutes Recht. Schließlich habt ihr mir zu verdanken, daß ihr noch am Leben seid. Und wenn euch weiterhin kein Härchen gekrümmt wird, ist auch das mein Verdienst. Dafür möchte ich bezahlt werden. Ist das etwa unverschämt?“

„Nein, das ist es nicht“, entgegnete Ives.

Olivaro stieß einen knurrenden Laut aus. „Ich hab’s ja gleich gewußt, wir verstehen uns prächtig. Los jetzt, wir haben hier genug Zeit verloren. Ab ins Lager. Da kriegt ihr was zu futtern, meinetwegen könnt ihr auch was von eurem Bier saufen.“

Kurz darauf traten die drei zu den Piraten ins Freie. Grölend hievten die Kerle die Fässer aus dem Laderaum und warfen sie in den Sand. Einige Fässer rollten auf dem Strand hin und her. Eins kullerte bis ins Wasser und drohte abzutreiben. Zwei Piraten rannten johlend hinterher und brachten es zurück an Land.

„Wäre doch schade, wenn uns was von dem kostbaren Zeug verloren ginge!“ schrie Guzman, der auch schon reichlich angetrunken war. „Ho, was haben wir für einen feinen Fang eingebracht!“