Seewölfe Paket 27

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4.

Mitte August war vorbei, als Gary Andrews – an diesem Vormittag Ausguck im Hauptmars – Land voraus meldete. Bei dem miserablen Kartenmaterial und dem Kompaß, der seine Mucken hatte, waren sich Hasard und Dan O’Flynn gar nicht mal so sicher, ob die Philippinen vor ihnen lagen.

Aber sie mußten es sein, denn bei der Annäherung erkannten sie mehr und mehr, wie weit sich die Küste vor ihnen nach Norden erstreckte. Und da ragten Berge in den Himmel, deren Spitzen zwischen Wolken lagen.

Dan O’Flynn tippte auf die Philippinen-Insel Mindanao im Süden des Archipels, der zweitgrößten Insel unter den über siebentausend anderen Inseln.

Ferdinand Magellan, ein portugiesischer Seefahrer im Dienst Spaniens, hatte die Inseln 1521 entdeckt und sie – natürlich – sofort als spanischen Besitz beansprucht. Es blieb sein letzter Anspruch, den er dummerweise gleich mit einer Strafexpedition gegen die Eingeborenen der Insel Mactan durchsetzen wollte, um die spanische Macht zu demonstrieren. Die Demonstration mißlang, der Ärmste wurde kurzerhand erschlagen.

„Könnte sein“, sagte Hasard etwas nachdenklich über den Hinweis seines Lotsen Dan O’Flynn. „Fragt sich nur, welche Ecke von Mindanao wir ansteuern.“ Er rieb sich die Nase. „So klein ist die Insel nämlich gar nicht.“

Dan O’Flynn grinste. „Ein bißchen kleiner als England, Sir, und nur etwa dreihundert Meilen lang.“

„Aha“, murmelte Hasard, „sehr beruhigend, daß es nur dreihundert Meilen sind. Luftlinie, nicht wahr?“

„Ja, Luftlinie“, bestätigte Dan, „mit dem Zirkel auf der Karte abgegriffen, und zwar in Nord-Süd-Richtung. Natürlich ist die Küstenlinie länger, wenn wir Buchten und Golfe mitrechnen.“

Er breitete jene Karte auf dem Achterdeck aus, die von Brandlöchern, Suppen-, Fett- oder Rotweinflecken auf ihrer westlichen Seite ungeschoren geblieben war, deutete auf eine bestimmte Stelle und sagte: „Meine Navigation bei diesem verrückten Kompaß ist noch mieser als eine Daumenpeilung, aber ich vermute, daß wir auf Cape San Augustin zusegeln, die Spitze jener Halbinsel, die den Golf von Davao im Osten abgrenzt.“

Hasard betrachtete den Golf von Davao, wie er auf der Karte dargestellt war.

„Hm, hm“, murmelte er, „vielleicht hast du recht. Dann sollten wir mal um das Kap in den Golf segeln und Davao anlaufen, um Frischproviant zu übernehmen und unsere Trinkwasservorräte zu ergänzen. Der Kutscher mault nämlich schon wieder.“

„Davao ist ein spanischer Stützpunkt.“

„Na und? Die ‚Santa Barbara‘ ist ein spanisches Schiff, demnach sind wir ebenfalls Spanier. Oder etwa nicht?“

„Ach so.“ Jetzt grinste Dan wieder. „Und wie geruhen sich der Señor Capitán zu nennen?“

„Schlag mal was vor.“

„Wäre Don Miguel Lopez de Villacorta angenehm?“

„Ein sehr schöner Name.“ Und somit verkündete Hasard seinen Mannen, daß ihn der Lotse „Don Donegallo de Flynnosa“ soeben umgetauft habe. „Mein neuer Name lautet jetzt Don Miguel Lopez de Villacorta, was ich zu berücksichtigen bitte, denn wir laufen – so unsere Navigation stimmt – den spanischen Stützpunkt Davao im gleichnamigen Golf an, was wiederum bedeutet, daß wir uns unserer ‚Señora Santa Barbara‘ anzupassen und als spanische Señores zu betrachten haben. Richtet euch darauf ein, Freunde, und paßt auf, daß ihr nicht plötzlich auf englisch flucht, nicht wahr, Ed?“

„Aye, Sir – äh – si, Señor Capitán. Ich werde Sir John ermahnen.“

„Den meinte ich eigentlich nicht, Ed“, sagte Hasard, „denn er kann uns ja zugeflogen sein, so daß wir für seinen sehr vielfältigen Sprachschatz nicht verantwortlich sind.“

„Aye – si, Señor Capitán“, sagte der Profos unbehaglich. „Darf man fragen, wen du dann meintest?“

„Man darf. Ich meinte jenen Señor, der sich Sir Johns sehr liebevoll angenommen hat, was nicht ausschließt, ihm sehr deftige Ausdrücke beizubringen. Ich erinnere nur an das Wörtchen ‚Affenarsch‘.“

„Ah!“ Der Profos grinste bieder. „Das habe ich früher mal benutzt, das stimmt. Aber inzwischen hat sich das hier so eingebürgert, daß jeder der Kerle den anderen dauernd einen ‚Affenarsch‘ nennt.“ Er drehte sich zu den Mannen um, die auf der Kuhl versammelt waren, stemmte die Pranken in die Hüften und donnerte: „Herhören – Order des Señor Capitán! Ab sofort heißt es nicht mehr ‚Affenarsch‘, sondern ‚Pavianbacke‘! Alles klar?“

„Alles klar!“ donnerten die Mannen zurück. Und sie feixten.

„Ich weiß, was sich auf Pavianbacke reimt!“ rief Luke Morgan grinsend.

„Ich auch“, sagte Carberry trocken. „Hicke-hacke, zicke-zacke!“

„Hühnerkacke!“ tönte Luke Morgan.

Unter Carberrys drohendem Blick schrumpfte er zusammen. Der Profos drehte sich wieder zu Hasard um. „Du hast es gehört, Sir – Señor Capitán. Nicht ich sprach dieses ordinäre Wort aus, sondern dieser Señor Morgan, diese miese Hälfte einer Pavianbacke, die in ausschweifender Phantasie sofort darüber nachdenkt, was sich auf üble Weise mit Backe reimt. Er gehört zu jenen, die heimlich und in böser Absicht meinem Sir Jöhnchen die schlimmsten Ausdrücke beibringen und dann unverfroren erklären, er habe sie von mir gelernt.“

Hasard seufzte und sagte: „Wenn ihr euch alle bemühen würdet, auf Flüche, Kraftausdrücke und Schimpfworte zu verzichten, dann kann sie Sir John auch nicht aufschnappen – und vielleicht vergißt er sie dann. Bringt ihm von mir aus ein ‚Ave Maria‘ bei – oder Worte der Zärtlichkeit. Da wird euch ja auch eine Menge einfallen, nicht wahr?“

„Herzallerliebstes Schnuckelchen!“ schlug der Profos strahlend vor und fügte mit einem schnellen Blick zu Old Donegal hinzu: „Oder Schnuckelmäuschen!“

O Gott! dachte Hasard. Dieser Profos! Jetzt habe ich dem auch noch das Stichwort gegeben. Wo das wieder hinführt!

Zur Zeit herrschte Gelächter. Nur Old Donegal schaute finster drein. Natürlich, war doch sein ihm angetrautes Weib eine geborene Snugglemouse. Und er selbst hatte von ihr häufig genug als dem „Schnuckelchen“ gesprochen.

Noch bevor Old Donegal explodieren konnte, hob Hasard beide Hände und rief: „Ich möchte darum bitten, bei dem neuen Sprachunterricht mit Sir John jedes Wort und jeden Namen zu vermeiden, die sich auf uns bekannte oder befreundete Personen und Menschen beziehen!“

„Da wird’s doch erst spannend, Sir!“ erklärte der Profos und grinste bis zu den Ohren.

„Ich weiß nicht, ob du es noch spannend findest, wenn dich dein Sir Jöhnchen mit ‚Edwinchen, du kleines Lügenmäulchen, du Hemdenzerreißerchen und Ladykillerchen‘ anpalavert“, entgegnete Hasard. „Und ich schwöre dir, ich bringe ihm noch mehr bei, daß es dir über den Einfallsreichtum und die Phantasie von Sir Jöhnchen die Sprache verschlagen wird. Wie wär’s denn mit ‚Kinnladenverschieberchen‘ oder ‚Spiegeleifresserchen‘?“

Der Profos verlor sichtlich an Begeisterung. Dafür fühlte sich Smoky im Aufwind – endlich!

„Wahr gesprochen, Sir!“ rief er.

„Das heißt ‚Señor Capitán‘, du Büffel!“ raunzte ihn Carberry an – und verbesserte sich hastig: „Du herziges Enkelchen eines Büffelgroßväterchens!“

Und da brandete wieder Gelächter auf.

Na gut, dachte Hasard, besser als Trübsinn und maulende Kerle. Und der Profos würde wieder ein Weilchen auf Samtpfötchen wandern, allerdings aber auch die Lehre beherzigen, und seinem Sir Jöhnchen milde Flötentöne lehren. Was da wohl herauskommen mochte!

„Señores!“ rief Hasard. „Es bleibt also dabei! Wir sind spanische Handelsfahrer, Heimathafen Sevilla, erstmals in diesen Gewässern unterwegs, um im Auftrag eines Konsortiums von Kaufleuten aus Sevilla Gewürze einzukaufen. Bei einem möglichen Landgang bitte ich mir äußerste Zurückhaltung aus – keinen Streit, Señor Carberry! Und wenn man dir hundertmal auf die Zehen tritt, verstanden?“

„Verstanden, Señor Capitán“, versicherte der Profos. „Ich erhöhe freiwillig auf hundertzwanzigmal, aber dann kriegt der Zehentreter eine geschmiert, weil ich ein Spanier bin, der sich nicht alles gefallen lassen darf und für seine Ehre einstehen muß.“

„Vielleicht lasse ich dich besser an Bord“, sagte Hasard.

„Dann paßt keiner auf diese Bande auf, Señor Capitán“, erklärte der Profos, und – wie gehabt – hatte er den frommen Blick drauf.

„Wir werden sehen“, erwiderte Hasard etwas orakelhaft.

Es kam alles ganz anders.

Am Nachmittag törnte die „Santa Barbara“ bei leichtem Wind aus Westen auf den kleinen spanischen Stützpunkt Davao an der oberen Westseite des Golfes zu. Nur bei starken Winden oder Sturm aus Süden bis Südost würde der Golf zu einer Falle werden, wenn sich dort eine ruppige See aufbaute und ein Segler Gefahr lief, auf Legerwall zu geraten – so er sich nicht freikreuzen konnte.

Dan O’Flynns Navigation war trotz des mißweisenden Kompasses exakt gewesen. Zufall, sagte er selbst bescheiden, freute sich aber dennoch, als sie nach dem Passieren des Kaps dann beim weiteren Hineinsegeln in den Golf oben im Norden die beiden Inseln entdeckten, eine größere und westlich von ihr eine kleine – Samal Island und Talikud Island. Diese beiden Inseln lagen nach der Darstellung auf der Karte dicht vor Davao und schirmten den Hafen zusätzlich ab.

Der Golf war keineswegs unbelebt. Da waren Auslegerboote, besetzt mit halbnackten braunen Gestalten, die mit Netzen – zum Teil auch mit Speeren – fischten. Doch als sie die fremde Galeone entdeckten, flüchteten sie zur Küste, wo die Mannen Pfahlbauhütten am Ufer erspähten.

Hasard runzelte die Stirn. „Kein gutes Zeichen. Sie scheinen mit Menschen unserer Hautfarbe schlechte Erfahrungen gesammelt zu haben.“

Don Juan de Alcazar, neben Hasard am Schanzkleid stehend, nickte und sagte etwas verbissen: „Vermutlich mit meinen Landsleuten, was ja nichts Neues wäre.“

 

Hasard streifte das Gesicht des Mannes, der ihm längst zum Freund geworden war, mit einem Seitenblick und schüttelte den Kopf.

Er sagte: „Genausogut können sie an Portugiesen geraten sein. Oder an Engländer – mir ist bekannt, daß Drake bei seiner Weltumsegelung Mindanao berührt hat. Schließlich sind hier auch bereits die Holländer aufgekreuzt, und das nicht gerade zurückhaltend.“

„Du nimmst die Spanier in Schutz?“ fragte Don Juan erstaunt.

„Ich bin doch jetzt selbst Spanier.“

Don Juan lachte schallend.

Hasard blieb völlig ernst und sagte mit Würde: „Señor, Sie scheinen vergessen zu haben, daß ich der Sohn einer spanischen Edeldame bin, nicht wahr?“

„Oh, Entschuldigung! Das hatte ich wirklich vergessen, Señor de Villacorta.“ Don Juan verbeugte sich, lächelte und fragte: „Sag mal, als was fühlst du dich eigentlich – als Engländer, Deutscher oder Spanier?“

„Als weder noch, mein Freund“, erwiderte Hasard, „und das ist gut so, weil es mir Distanz verschafft, eine Art Neutralität, verstehst du? Da gibt es das französische Wort Chauvinismus, aber es gilt für die meisten europäischen Länder. Es meint Intoleranz, Unduldsamkeit, Fanatismus gegenüber anderen Ländern und seinen Bewohnern, wobei man selbst natürlich mit seinem Land in erhabener Größe weit darübersteht. Man selbst ist gut, die anderen sind schlecht, und weil die anderen schlecht sind, bekriegt und bekämpft man sie, unterdrückt sie, rottet sie aus. Kriege erklärt man sogar für heilig. Magellan rammte ein Kreuz in den Sand der Philippinen-Insel Homonhon im Golf von Leyte. Wenig später wurde er erschlagen. Was interessierte die Eingeborenen das Kreuz der Christen! Die sahen nicht das Kreuz, sondern das Schwert der Fremden – ein Kriegswerkzeug, wie sie sehr richtig erkannten. Und schon gibt es Mord und Totschlag. Für mich ist Magellan ein Chauvinist. Also, was bin ich? Ich möchte keiner sein. Das ist alles. Aber mir steigt schon die Galle hoch, wenn Menschen mir davonrennen, obwohl sie mich gar nicht kennen und folglich nicht wissen können, ob ich in friedlicher oder böser Absicht komme. Dieses große Segelschiff mit den drei Masten signalisiert ihnen Gefahr. Jetzt lautet die Frage, was sie unternehmen werden? Werden sie aggressiv, oder warten sie ab und bleiben defensiv? Oder ziehen sie sich ins Land zurück?“

„Glaube ich nicht, es sind Fischer, also Küstenbewohner“, sagte Don Juan nachdenklich und starrte hinter den Auslegerbooten her. „Sie gehen geschickt mit ihren Booten um. Vermutlich sind sie auch gute Seeleute.“ Er setzte den Kieker ans Auge und spähte zu den Pfahlbauhütten. Überrascht sagte er: „Da liegen auch größere Auslegerboote, die mittschiffs überdacht sind – sieht aus wie schwimmende Häuser.“

„Du meinst, sie wohnen auf diesen Fahrzeugen?“ Hasard blickte ebenfalls durch den Kieker.

„Warum nicht? Bei Gefahr im Verzug können sie sich absetzen und haben gleich ein Dach über dem Kopf. Auf ihre Pfahlbauten sind sie nicht unbedingt angewiesen. Vielleicht sind sie so eine Art Nomaden zur See.“

Don Juan wußte nicht, daß er den Nagel auf den Kopf traf. Bei den Eingeborenen, die zu den Pfahlbauten geflüchtet waren, handelt es sich um Angehörige des Völkchens der Badjao, deren Lebensraum sich von den Gewässern an der Ostküste Palawans – der westlichen Philippinen-Insel – bis zum Nordende der indonesischen Insel Celebes erstreckt, eingeschlossen die südlichen Gewässer um Mindanao, die über vierhundert Inseln des Sulu-Archipels sowie Sabah, den Nordteil Borneos. Man nannte diese Menschen später „Seezigeuner“ oder „Seenomaden“ und tatsächlich spielte sich ihr Leben mehr auf dem Wasser als auf dem Land ab.

Und Don Juan und Hasard wären noch erstaunter gewesen, hätten sie ein paar jener Badjao gesehen, deren Haare blond waren – eine Folge der ständigen Einwirkung von Sonne und Salzwasser, wie man heute weiß.

„Nomaden zur See“, murmelte Hasard. „Sind wir das nicht auch?“

„Nur zur Zeit.“

„Na ja“, meinte Hasard, „aber ich schätze, die Arwenacks und ich haben mehr Zeit auf See verbracht als an Land, und es war, alles in allem, kein schlechtes Leben bisher.“ Er lächelte verhalten. „Zumindest ein Leben in Freiheit und niemandem untertan.“

„Doch, nämlich der See und ihren Gesetzen.“

Hasard schüttelte den Kopf. „Diesen Gesetzen sind wir nicht untertan, sondern beugen uns ihnen freiwillig und haben vor ihnen Respekt. Das ist ein Unterschied.“

„Hab’s verstanden – und allmählich begriffen, warum ihr so seid, wie ihr seid“, sagte Don Juan. Und er war einmal ausgezogen, um den Seewolf auf Befehl Seiner Majestät des Königs von Spanien zur Strecke zu bringen.

„Und wie sind wir?“ fragte Hasard.

„Na, zumindest ziemlich kompromißlos, wenn euch jemand auf die Füße steigt, aber Freiheit gibt es eben nicht umsonst.“

Hasard nickte, aber er hatte wieder den Kieker vor dem Auge und auf das Ufer an Backbord gerichtet. Die Pfahlbauten und Hausboote blieben Backbord achteraus zurück.

„Merkwürdig“, murmelte er, setzte den Kieker ab und schaute zu Gary Andrews im Großmars hoch. Der hatte auch den Kieker am Auge und spähte zur westlichen Küste hinüber. „Na, Gary?“ rief er hinauf. „Keine Meldung oder so?“

„Backbord an Land gefällte Bäume!“ brüllte Gary, mit roten Ohren und fügte etwas leiser hinzu: „Dachte, das sei nicht weiter wichtig.“

„Was wichtig ist, weiß man vorher nie!“ rief Hasard zurück. „Ist das klar?“

„Aye, Sir – äh – Señor Capitán!“

„Was soll mit den Bäumen sein?“ fragte Don Juan verwundert, nachdem er sie ebenfalls durch den Kieker betrachtet hatte. „Die hat irgendein Sturm umgelegt.“

„Ein feiner Sturm“, sagte Hasard etwas ironisch, „der Mangroven, Kokospalmen und andere Gewächse umgeht oder stehenläßt und nur ganz bestimmte Bäume umreißt, die noch dazu deutlich Axtkerben aufweisen. Trotzdem werde ich daraus auch nicht schlau. Das sieht aus, als habe dort jemand gewütet. Oder?“

Don Juan spähte wieder durch den Kieker. „Hm, die liegen kreuz und quer durcheinander, deswegen tippte ich auf einen Sturm. Aber die Axtkerben hatte ich nicht beachtet. Du hast recht, die Bäume sind gefällt worden, einwandfrei. Entästet hat man sie nicht. Was sind das für Bäume?“

Hasard ließ den Kutscher rufen. Er selbst wußte es nicht. Und warum hatte man schließlich den Kutscher an Bord, der seinen Namen beharrlich verschwieg, aber ein Kerlchen war, das über ein erstaunliches Wissen verfügte – von der ägyptischen Mumie bis zur Ratte, die Krankheiten übertrug. Von der Kunst, Knochenbrüche zu richten und Schußwunden zu heilen, ganz zu schweigen.

Der Kutscher starrte durch das Spektiv, das Hasard ihm übergeben hatte. Er schaute lange hindurch. Dann setzte er es ab und sagte: „Myristica fragrans.“

„Ah so, Myristica fragrans“, wiederholte Hasard. „Und was, bitte, ist darunter zu verstehen?“

„Das ist der Muskatnußbaum“, erwiderte der Kutscher, „so genannt nach seinem Samen, der als Muskatnuß im Handel ist und als Gewürz benutzt wird. Als ‚Semen Myristecae‘ dienen die Muskatnüsse in Pulver- oder Pillenform zur Anregung der – äh – Darmtätigkeit sowie zur Bereitung des Muskatnußöls. Als Gewürz ist Muskat sehr sparsam zu benutzen. Ich pflege es Gemüsen, Reis- und Fischgerichten beizugeben, wovon allerdings an Bord der von uns besegelten Schiffe noch nie Notiz genommen worden ist, weil alles nur schaufelt und schaufelt, statt zu kosten und zu schmecken und zu genießen – ähem! Ich habe mir im übrigen sagen lassen, daß unzüchtige Frauenzimmer die Muskatnuß ihren Liebhabern zu verabreichen pflegen, in der – äh – buhlerischen Absicht, deren Sinnenlüste zu steigern – ähem!“

Schweigen herrschte darauf, sowohl auf dem Achterdeck als auch auf der Kuhl. Dort stand Mac Pellew vor der Kombüse, und er hatte mit langem Hals und großen Ohren der Rede des Kutschers gelauscht. Carberry auch, und ebenso Old O’Flynn, Luke Morgan, Bob Grey, Sam Roskill – fast alle der ganzen Crew.

„Ogottchen!“ stammelte Mac Pellew erregt. „Das wußte ich ja noch gar nicht!“

„Reg dich ab, Mackilein“, sagte der Profos freundlich, eingedenk der Tatsache, daß sie vor kurzer Zeit ihre unauslöschliche Freundschaft beschworen hatten und durch dick und dünn gehen wollten. „Gegen die Räucherheringe deiner Svanhild aus Bornholm sind diese Muskatnüsse weiter nichts als Mäuseknödel. Und Mäuseknödel sind völlig ungeeignet, die Manneskraft zu steigern. Im Gegenteil, sie bewirken Schlafzustände mit gesteigerter Schnarchlust.“

„Ja?“

„Bestimmt, Mackilein“, versicherte der Profos. „Svanhild Räucherheringe stehen haushoch über diesen Mäuseknödeln, haushoch, sage ich. Und du kannst mir vertrauen. Der Kutscher redet mal wieder wie der Blinde von der Farbe. Er hat sich das sagen lassen, was bedeutet, daß er es selbst noch gar nicht ausprobiert hat.“

„Sehr richtig, Señor Carberry“, sagte der Kutscher sehr spitz und vom Achterdeck herunter. „Ich pflege ja auch keinen Umgang mit unzüchtigen Frauenzimmern – wie gewisse andere Señores, nicht wahr – ähem! Ich habe hier lediglich über das gesprochen, was die Muskatnuß und ihre Verwendung betrifft, dem ich hinzufügen möchte, daß man Muskatnüsse sogar als Beigaben in den Gräbern ägyptischer Pharaonen gefunden hat, was wiederum Rückschlüsse auf die weltweite Verbreitung dieses beliebten und teuren Gewürzes zuläßt. Aber vermutlich interessiert dich das nicht.“

„Oh, da gehst du aber fehl, mein liebes Kutscherlein!“ tönte der Profos. „Ich bin ein sehr interessierter Mensch. Meinst du, ob Sir Jöhnchen gern Muskatnüßchen frißt? Das würde mich wirklich interessieren.“

„Wieso das?“

„Es interessiert mich eben.“

Der Kutscher kniff die Augen zusammen. „Ich kenne dich doch, alter Freund. Du peilst mit deiner Frage was ganz Bestimmtes an, und ich schätze, ich weiß auch, was das ist. Du willst die Wirkung der Muskatnuß bei Sir John ausprobieren, um festzustellen, ob ihn das anregt, einen Harem zu gründen! Genau das ist es, was dich interessiert!“

„Ts-ts!“ äußerte der Profos und tat, als könne er kein Wässerchen trüben. „Ich muß mich doch sehr wundern. Du hast wirklich eine ausschweifende Phantasie, Kutscherlein. Aber das muß ja nicht gleich ein ganzer Harem sein, nicht? Das ist eine ganz üble Unterstellung, zumal jeder hier an Bord weiß, wie anspruchslos das kleine Sir Jöhnchen ist, jawohl, anspruchslos und bescheiden, ein Eremit in klösterlicher Abgeschiedenheit, fern von den Verlockungen buhlerischer Papageien-Frauenzimmer …“

„Jetzt hör aber auf!“ fauchte der Kutscher und war richtig wütend. „Wer hat denn diesen Schreihals an Bord geschleppt – ich vielleicht? Dann entlaß ihn doch an Land, wenn du seine klösterliche Abgeschiedenheit bejammerst! Was meinst du, was wir aufatmen, nicht mehr den ganzen Tag das Geplärre dieses anspruchslosen und bescheidenen Eremiten hören zu müssen! Gib ihm von mir aus einen ganzen Sack voller Muskatnüsse zu fressen, damit er sich im Dschungel amüsieren kann, verdammt noch mal!“

Der Profos stand völlig perplex da, weil sich der Kutscher so aufregte.

Dafür schrie Smoky: „Um Himmels willen, wenn der Geier ’nen ganzen Sack voller Muskatnüsse frißt, dann schleppt der uns ein Riesengeschwader dieser Schreitanten an Bord! Aber dann steige ich aus – wir sind ein Schiff, kein Dschungelrevier für liebestolles Papageienvolk!“

„Richtig, Smoky!“ Auch Old Donegal wollte es dem Profos heimzahlen und ihm Zunder geben. „Die versauen das ganze Schiff und bekacken es von oben bis unten! Bei jedem Schritt tritt man in die Haufen und muß noch befürchten, auszurutschen …“

Hasard donnerte die Faust auf den Handlauf der Achterdecksbalustrade. Es wurde Zeit, den Disput zu beenden.

„Ruhe jetzt!“ sagte er scharf. „Wir haben noch etwas anderes zu tun, als über die Muskatnuß als Liebesmittel zu diskutieren und herumzupalavern – ihr quasselt in letzter Zeit überhaupt ein bißchen viel und meistens ziemlichen Unsinn. Vielleicht sind die Señores so freundlich, die Leinen zum Vertäuen allmählich klarzumachen und Großmars- und Großsegel zu bergen. Ich schätze, daß wir in einer knappen halben Stunde den Hafen von Davao erreichen.“

Damit war das Muskatnußthema zunächst einmal „vom Tisch“ – meinte Hasard. Doch das erwies sich als Irrtum, allerdings in einem anderen Zusammenhang, der nichts mit „unzüchtigen Frauenzimmern“ oder „buhlerischen Absichten“ zu tun hatte. Die Wirklichkeit war viel realer und handfester.

Im übrigen entdeckten die Mannen auf dem Achterdeck durchs Spektiv noch mehr Stellen am westlichen Ufer des Golfes, wo Muskatnußbäume gefällt worden waren. Dieses Fällen schien Methode zu haben, obwohl es vorerst keinen Sinn ergab.