Read the book: «Advent, Advent, die Alster brennt»
KaroKrimiPreis 2015
Die besten Dreizehn
Advent, Advent, die Alster brennt
Hamburger Weihnachtskrimis
edition ♦ karo 2015
Inhalt
Cover
Titel
Vorwort
1. Preis Kai Riedemann FRAG NICHT NACH STEFAN
2. Preis Jürgen Rath PATERNOSTER, DU IM HIMMEL
3. Preis Sarah Fiona Gahlen ENGEL UND WEIHNACHTSMANN
Katharina Joanowitsch HAUPTBAHNHOFBLUES
Brigitte Karin Becker WEIHNACHTSSCHNEE
Frauke Angel HAMBURG , MEIN LAMETTA!
Stephanie Fleischer EIN LICHT GEHT AN
Heidi Ramlow GEIHT NICH, GIVT NICH
Marika Bergmann GROSSE FREIHEIT NACHTS UM HALB EINS
Michael Johannes B. Lange TOD EINES GEISTLICHEN VORSTEHERS
Sabine LaBe PFEFFERKUCHEN MIT FILMRISS
Evelyn Leip WEIHNACHTSDOMINO
Jacqueline Reese GEFALLENER ENGEL
Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren
Impressum
Vorwort
Den KaroKrimiPreis für Weihnachtskrimis haben wir 2015 zum 3. Mal ausgelobt. Diesmal haben wir als Tatort Hamburg gewählt.
Die besten Einsendungen einschließlich der drei Preisträger präsentieren wir in diesem Buch.
Zur hochkarätig besetzten Jury gehörten Angela Temming, Autorin; Regine Kölpin, Autorin; Patrizia Klee, Musikerin, und Monika Richter, Bildende Künstlerin.
Aus den anonym weitergeleiteten Kriminalgeschichten wählten die Jurymitglieder nach den in der Ausschreibung veröffentlichten Kriterien die 13 besten Kurzkrimis aus, und hiervon die drei PREISTRÄGER.
So führen dreizehn spannende und völlig unterschiedliche Kriminalgeschichten durch das weihnachtliche Hamburg. Doch statt Fried’ und Freud’ gibt es rätselhafte Weihnachtsmänner mit schaurigen Plänen, eine kräftige Sturmflut am Fischmarkt und Mord und Totschlag im Hamburger Hafen.
Ihre Josefine Rosalski
1. PREIS
Kai Riedemann
Frag nicht nach Stefan
Er verfolgt mich. Gestern fuhr sein Wagen im Schritttempo an meiner Wohnung vorbei, heute parkt der grüne Toyota an der Ecke Lerchenstraße, wo ich ihn deutlich durchs Schaufenster von Günys Fischimbiss sehen kann. Michael lehnt an der Beifahrertür, den Kragen der Lederjacke hochgeschlagen, einen Pappbecher mit Coffee-to-go in der Hand, um sich bei dem eisigen Dezemberwind zu wärmen. Er macht nicht den geringsten Versuch, sich zu verstecken. Warum auch? Michael will Antworten auf seine Fragen. Aber ich will sie ihm nicht geben. Ich will nicht und ich darf nicht.
Während draußen immer mehr dicke Flocken durch die Luft wirbeln, stochere ich in meiner Forelle herum. Mir ist der Appetit vergangen. Nicht mal die chipsartigen Bratkartoffeln können mich vom Blick aus dem Fenster abhalten. Was soll das, Michael? Irgendwie muss er herausgefunden haben, dass ich hier am Schulterblatt arbeite. Ob er überhaupt ahnt, welche Gefahren er mit dieser Neugier heraufbeschwört? Welche Folgen sein Herumschnüffeln haben kann? Ich hoffe nur, dass Annekatrin nichts davon bemerkt.
Meine Forelle ist längst kalt, der Tee schmeckt schal. Das Gewirr der Stimmen nehme ich kaum wahr, so als hätte mich auch hier drinnen eine dichte Schneedecke eingehüllt. Vor dem Schaufenster stehen jetzt zwei Frauen und betrachten neugierig meinen halb leeren Teller. Mit ihren Pelzmützen, dicken Steppjacken und Geschenketüten versperren sie mir den Blick auf Michael. Ich weiß trotzdem, dass er noch da ist. Also stehe ich auf, lege Güny das Geld für Forelle und Tee auf den Glastresen und trete hinaus in die Kälte.
Durch den unerwarteten Wintereinbruch sieht es sogar in dem sonst so bunten und hektischen Schanzenviertel ein wenig besinnlich aus. Auch ohne die Weihnachtsbeleuchtung der Innenstadtstraßen und die goldüberladenen Fenster der Luxusläden. Ich schließe mich einer türkischen Großfamilie an, um unauffällig in Richtung Rote Flora zu gehen. Ein reines Ablenkungsmanöver. Die Praxis von Dr. Young liegt in entgegengesetzter Richtung. Ich sehe gerade noch, wie Michael den Schnee von seiner Lederjacke klopft, den Coffee-to-go-Becher auf die Eingangsstufen des Telefonshops stellt und mir folgt. Er ist hartnäckig. Lass es endlich sein, mir aufzulauern, Mails zu schicken oder beschwörende Worte auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Stefan lebt nicht mehr. Jedenfalls jener Stefan, den du 20 Jahre lang gekannt hast.
Ein Polizeiwagen rast mit Blaulicht über das holperige Pflaster. Ich nutze die Aufregung, um die Straßenseite zu wechseln und in einem Schuhgeschäft zu verschwinden. Der frische Schnee klebt unter meinen Sohlen und hinterlässt weiße Flecken auf dem Teppichboden. Weihnachtlich klingt die Musik im Laden nicht, aber immerhin flackert auf dem Kassentresen eine Kerze zwischen kümmerlichen Tannenzweigen.
Irgendwie spüre ich, dass Michael hinter mir steht. Im blank polierten Werbeschild auf dem Schuhregal spiegelt sich jetzt auch sein Gesicht. Er lächelt. Sein Haar ist noch etwas spärlicher geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Vor fast zwei Jahren am Strand von St. Peter Ording.
»Hallo, Stefan, was ist los mit dir?«, fragt er. Von diplomatischen Einleitungen hat er noch nie viel gehalten.
»Was soll schon los sein? Alles in Ordnung.« Ich drehe mich nicht um, aber versuche ebenfalls zu lächeln.
»In Ordnung? Du brichst den Kontakt mit sämtlichen Freunden ab, schmeißt Job und Studium hin und dann sagst du, alles ist in Ordnung?«
Seine sonst so tiefe Stimme klingt schrill. Die linke Hand hält etwas umklammert. Ich weiß, dass es ein herzförmiger Stein ist. Michael brauchte das schon immer, um Mut für unangenehme Begegnungen zu sammeln.
»Es gab halt viel zu tun in der letzten Zeit«, sage ich, »viel Arbeit, viel Stress.«
Er schüttelt den Kopf.
»Mensch, Stefan, was hat die Hexe nur mit dir gemacht?«
Er meint natürlich Annekatrin. Ich spare mir eine Antwort. Warum sollten wir die endlosen Gespräche wieder aufwärmen? Er hat mich oft genug gewarnt. Vor ihr. Vor ihren grünen Augen, in denen man ertrinkt. Vor ihrem Klammern, das einem die Luft zum Atmen nimmt. Ich weiß das alles, Michael.
Auf eine Antwort wartet er sowieso nicht. Also drehe ich mich jetzt doch um, blicke ihm kurz in die Augen und verlasse dann den Laden. Der Wind ist noch eisiger geworden. Es wird wohl weiße Weihnachten geben.
»Du arbeitest hier in der Schanze?« Er deutet in Richtung Neuer Pferdemarkt. Mein Umweg war also sinnlos. Vermutlich ist er mir oft genug unbemerkt gefolgt und hat die Sache mit Dr. Clarissa Young längst herausgefunden.
»Ich helfe nur aus. Bei einer Psychologin.«
Michael lacht.
»Psychologische Beratung und Coaching. Vermutlich ohne Bezahlung, was?«
Auch darauf antworte ich nicht. Annekatrin braucht ihre Therapie, doch leisten kann sie sich das alles längst nicht mehr. Also helfe ich bei Dr. Young aus. So fing alles an. Mein Wissen als Techniker und Computerspezialist gegen ihre Coachingstunden. Ist doch ein faires Geschäft.
Michael fegt mit der linken Hand die weißen Flocken von der Motorhaube eines VW Käfers. Sie kleben nicht. Zu frisch. Ich will nicht an Annekatrin denken und denke deshalb einfach an den Schnee. Wie er rostige Fahrräder am Straßenrand in kuriose Kunstobjekte verwandelt. Wie er sich schwer auf die Markisen legt und auf die Leuchtreklamen. Wie er dafür sorgt, dass es still wird in der Straße, und ich in all dem Trubel meinen Atem hören kann. Und Michaels Schritte.
»Sieh mich bitte an, wenn ich mit dir rede.« Seine Stimme ist plötzlich leise. »Sie hat dir alles genommen, nicht wahr?«
Ich blicke ihn nicht an, als ich langsam über die Straße zurück zu Günys gehe. Vor dem Fenster steht eine einsame Bank. Sie ist zugeschneit, doch das stört mich nicht. Michael setzt sich ebenfalls, den Herzstein immer noch fest in der linken Hand.
»Damals in St. Peter Ording«, versucht er erneut ein Gespräch, »hast du gesagt: Ich kann bald nicht mehr. Erinnerst du dich?«
Natürlich erinnere ich mich. Aber was verstehst du schon von Annekatrin? Ich kann ohne sie nicht leben. Und sie kann ohne diese Gruppe nicht leben. Dort findet sie endlich den Halt, den sie so lange gesucht hat. Dort findet sie Antworten auf ihre Fragen.
»Stefan, sei ehrlich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Sekte dahintersteckt. Annekatrin hat dich da mit reingezogen. Aber welche Rolle spielt diese Dr. Young? Ist sie es, die euch die Seele geraubt hat?«
Eine Sekte. Ja, wenn du es so nennen willst. Aber es ist besser, wenn du darüber nichts Genaueres erfährst, Michael. Besser für dich.
Inzwischen ist es fast dunkel geworden. Das Licht aus den Schaufenstern lässt den frostigen Boden glitzern. Meine Blicke folgen einem Mann, der auf der anderen Straßenseite mit einem Kaffeebecher aus der Bäckerei tritt. Seine rotschwarze Irokesenfrisur färbt sich schnell weiß bei diesem Wetter. Wann habe ich das letzte Mal so einen Punkschnitt gesehen?
»Starr nicht in die Gegend, verdammt noch mal. Sag endlich was!«
Von einem grauen Müllsack, der am nächsten Halteverbotsschild lehnt, erhebt sich krächzend ein Rabe, als auch ich wieder aufstehe und mir die Flocken von der Hose klopfe. Du wirst nicht hören wollen, was ich jetzt zu sagen habe.
»Akzeptiere einfach, dass es den Stefan von damals nicht mehr gibt, Michael. Lass mich meinen Weg gehen, wohin auch immer er führen mag. Ich kann hier nicht mehr raus. Vielleicht liegst du sogar richtig mit deiner Vermutung, was die Sekte betrifft. Aber du solltest das trotzdem vergessen. Bevor es zu spät ist.«
An einem mit Graffiti besprühten Gemüselaster vorbei gehe ich in Richtung Neuer Pferdemarkt. Wenn er von Dr. Young weiß, brauche ich keine Ablenkungsmanöver mehr. Ich kehre ihm den Rücken zu. Schluss. Aus. Ende. Keine weiteren Fragen mehr.
Ich höre, wie Michael aufsteht und offenbar den Herzstein gegen das Verkehrsschild schleudert. Ich höre seine Schritte im Schnee, dann auf den Pflastersteinen der Straße. Er geht zu seinem Wagen. Gut so.
Im selben Augenblick heult ein Motor auf. Der Aufprall klingt dumpf im dichten Schneetreiben. Reifen quietschen. Schreie. Wieder der aufheulende Motor. Eine ferne Stimme ruft etwas von Fahrerflucht.
Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, was passiert ist. Warum hast du nicht auf meine Warnungen gehört, Michael? An einem Baum auf der anderen Straßenseite lehnt Annekatrin.
2. PREIS
Jürgen Rath
Paternoster, du im Himmel …
Rainer Pauli stand im fünften Obergeschoss des Kontorhauses und konzentrierte sich auf den richtigen Augenblick. Jetzt! Er machte einen entschlossenen Schritt nach vorne und sprang in das rumpelnde Gefährt. Als er sich umdrehte, hatte er den dicken, blauen Teppich der Geschäftsleitungsetage auf Augenhöhe. Der Gedanke an schwere, dunkelblaue Stoffe mit goldenen, eingestickten Lilien drängte sich ihm auf, die königlichen Farben. Doch hier war alles anders als königlich, seit ein Investor die alteingesessene Betha-Radlager GmbH übernommen hatte. Wenn er, der Personalreferent Rainer Pauli, im fünften Obergeschoss über den dicken Teppich zum Paternoster schlich, so wie gerade eben, drückte eine Zentnerlast auf seinen schmalen Schultern. Dann musste er erneut die Guillotine schärfen, wie manche Kollegen hinter seinem Rücken spotteten, dann musste er schon wieder Mitarbeiter entlassen.
Pauli starrte auf die Wand, die an ihm vorbeiglitt, dann blickte er in das vierte Obergeschoss. Hier gab es keine blauen Teppiche mehr, hier herrschte karges Linoleum. Das war der Flur der Marketingabteilung, nicht sein Bereich. Für diese Leute war der Kollege Schmidtchen zuständig. Doch auch hier sollte verschlankt werden. Verschlankt! Welch ein gemeiner Begriff für eine Massenentlassung, und dann noch kurz vor Weihnachten. Pauli griff sich unters Jackett und verzog das Gesicht. Wieder diese Magenschmerzen, wie schon seit Wochen. Genau genommen seit dieser neue Geschäftsführer aufgetaucht war und die Firma, dieses angesehene hanseatische Haus, mit eiserner Faust modernisierte. Auf der Betriebsversammlung hatte Wim van Zijstra erklärt, dass er den alten Laden entrümpeln, wohl auch Mitarbeiter entlassen werde. »Hier laufen viel zu viele Leute herum«, hatte er mit seiner lauten, kehligen Stimme verkündet, »die gleiche Arbeit machen wir in den Niederlanden mit der Hälfte an Personal. Und sind wir deshalb weniger erfolgreich? Nein, ganz im Gegenteil!« Mit einem Leuchten in den Augen hatte er die Hand zum Victory-Zeichen ausgestreckt und »Oranje boven!« gerufen.
Drittes Obergeschoss: Buchhaltungsabteilung. Sein Bereich, den er zu betreuen hatte. Es waberte ein Duft von Glühwein und Zimtsternen durch den Flur, wie jedes Jahr am letzten Freitag vor Weihnachten. Doch diesmal dürfte es eine traurige Weihnachtsfeier werden. Acht Mitarbeiter entlassen, alle bereits mit einem Abfindungsvertrag aus der Firma gedrängt. Pauli schnupperte an seiner Strickjacke. Noch immer haftete der Geruch der Gespräche an ihm, er wurde ihn einfach nicht los. Nach Schweiß roch es in seinem Büro, genauer gesagt: nach Angstschweiß. Ausgedünstet von Mitarbeitern, die um ihren Arbeitsplatz kämpften. Und auch verströmt von jenen, die mit gesenktem Kopf ihre »Freisetzung« als Urteil einer höheren Gewalt hinnahmen. Freisetzung! Schon wieder so ein Verschleierungsbegriff.
Der Paternoster rumpelte weiter, die Kabinen bewegten sich in einer endlosen Kette. Auf der rechten Seite nach oben, auf der linken Seite nach unten. Dieses Rumpeln hatte Pauli während seiner gesamten Zeit in dieser Firma begleitet. Es störte ihn nicht. Es erschien ihm eher als ein Sinnbild des Stromes an Arbeit, der all die Jahre an ihm vorbeigezogen war. Eine Arbeit, die er mochte. Bisher jedenfalls. Als Personalreferent hatte er Mitarbeiter eingestellt, sie auf ihrem Weg in der Firma begleitet, ihr Ausscheiden als Rentner abschließend dokumentiert. Mit manchen hatte er Sorgen und Nöte geteilt. Öfters mit Frauen als mit männlichen Kollegen. Mitarbeiterinnen trugen ihr Herz eher auf der Zunge als die Männer, die fraßen den Ärger in sich hinein.
Zweites Obergeschoss: Vertriebsabteilung. Es war der größte Bereich, für den er zuständig war. Wieder diese Magenschmerzen! Pauli schluckte gegen eine aufkommende Übelkeit an. Er schloss die Augen und versuchte krampfhaft, nicht an den Vertrieb zu denken.
Erstes Obergeschoss: Hausbetriebe und Druckerei. Über die Leute hier wusste er nicht viel, das war der Bereich des Kollegen Jacobsen. Der sprach nicht viel, schon gar nicht über die Mitarbeiter, die er zu betreuen hatte.
Erdgeschoss: Empfangshalle und Telegrafenraum. Pauli sprang aus dem Paternoster, hinter ihm sank die Kabine in die Tiefe. Er atmete tief ein, blickte sich dann mit einem Lächeln um. Der Eingangsbereich des Kontorhauses hatte sich seit einem Jahrhundert kaum verändert. Außen schlichte Fassade, doch innen diese prunkvolle Halle: Zwei riesige Kristallleuchter an der hohen Stuckdecke, die Wände mit edlen Hölzern verkleidet, der Fußboden atmet Bodenständigkeit in hellem Marmor. Am Ende der breiten Treppe der Brunnen, aus einem Sandstein herausgehauen.
Wie schon immer überflutete Pauli dieses Glücksgefühl, wenn er in der Halle stand. Das war schon als Junge so gewesen, als ihn sein Vater einmal hierher mitgenommen hatte. »Hindenburghaus, Großer Burstah 31«, hatte der Vater geraunt, als ginge es um das Versteck eines Schatzes, »das älteste Kontorhaus Hamburgs, 1909 gebaut.« Und es war tatsächlich ein Schatz gewesen. Diese riesig hohe Halle, die Kronleuchter, an denen die Diamanten funkelten, die breite Treppe nach oben, die Ausbuchtungen im Geländer wie bei einer Kanzel in der Kirche, das alles erschien dem kleinen Rainer wie ein Wunder.
Und auch jetzt fühlte sich der Personalreferent Pauli wieder wie ein staunender Junge, als er an den hölzernen Säulen vorbei nach oben blickte. Das Geländer rechts und links der Treppe hatte es ihm besonders angetan. Ach nein, nicht angetan, das war entschieden zu wenig. Es weckte immer noch dieses stürmische Verlangen in ihm, sich einfach darauf zu setzen und jauchzend herunterzurutschen. Natürlich tat er es nicht, denn die Fahrt würde unweigerlich vor den Füßen von Herrn Ramelow enden.
Herr Ramelow war nicht nur der Pförtner der Betha-Radlager GmbH, sondern auch das Aushängeschild der Firma. Er war der Mann, dem man als Erstem begegnete, wenn man die schwere Eingangstür aufgedrückt und die gläserne Zwischentür durchschritten hatte. Selbstverständlich kannte Herr Ramelow die Namen aller Mitarbeiter, das waren nicht gerade wenige. Jedenfalls bisher. Der nicht sehr groß geratene, doch trotz seiner grauen Schläfen immer noch schlanke Herr Ramelow verkörperte mit seinen korrekt sitzenden Maßanzügen und den Krawatten in gedeckten Farben den hanseatischen Geist des Hauses.
Sie kannten sich schon seit Jahrzehnten, Pauli und Herr Ramelow. Gelegentlich plauderten sie miteinander. Nichts Persönliches, selbstverständlich nicht. Mehr ein allgemeines Gespräch, von gegenseitiger Sympathie getragen. Über das Wetter, über den HSV und über die viel zu hohen Preise des Nahverkehrs. Diese kurzen Gespräche in der alten Halle versetzten Pauli immer in einen Zustand der abgeklärten Ruhe. Sie hinterließen jedoch auch eine gewisse Beklemmung, wenn er angesichts dieses perfekt gekleideten Herren an seine an den Sitzflächen abgewetzte Hose und seine abgetragene Strickjacke dachte.
Jetzt allerdings war die Pförtnerloge verwaist. Wo war Herr Ramelow? Wo war dieser überaus korrekte Mann, der doch nie seinen Platz verließ? Vielleicht ist er auf der Toilette, dachte Pauli, so etwas soll ja mal vorkommen, sogar bei Pförtnern. Er durchquerte die Halle und trat durch eine schmale Tür in den Telegrafenraum. Hier stand der große, altertümliche Fernschreiber mit seiner weißen Papierrolle und dem gelben Lochstreifen. Und seit Neuestem stand hier auch das Telefax-Gerät. Ein kleiner, beiger Kasten mit grünen Lämpchen, der das Wunder vollbrachte, keine unformatierten Nachrichten auszuspucken wie der Fernschreiber, sondern richtige Briefe und sogar Kopien von Originaldokumenten. Pauli hatte sich nicht die Mühe gemacht, diesen Zauberkasten zu verstehen. Ihm reichte es, wenn er funktionierte. Und das tat er. Meistens jedenfalls.
Bis vor Kurzem war hier noch Frau Kunze beschäftigt gewesen, die den Fernschreiber bedient und die ankommenden Mitteilungen im Hause verteilt hatte. Doch mit der neuen Technik war nicht nur das Fernschreibgerät stillgelegt, sondern auch die Bedienungskraft entlassen worden. Seit dieser Zeit war Herr Ramelow für die eingehenden Nachrichten zuständig. Wenn eine Meldung hereinkam, rief er die Fachabteilung an, die dann einen Mitarbeiter nach unten schickte. Doch darauf durfte sich Pauli heute nicht verlassen, denn er erwartete ein Gutachten des Arbeitgeberverbandes über die »arbeitsrechtliche Beurteilung der Freisetzung der Mitarbeiter des Vertriebs-Bereichs«. Undenkbar, was geschehen würde, wenn jemand anderes als die Personalabteilung diese Expertise zu Gesicht bekäme. Das würde die Firma in ihren Grundfesten wanken lassen. Obwohl eigentlich nicht mehr viel dazu gehörte, die Grundfesten zu erschüttern.
Die Maschinen sonderten reichlich Wärme ab, es wurde Pauli heiß in dem kleinen Raum. Er stellte sich in die Halle, das eine Auge auf den Paternoster, das andere auf die Treppe gerichtet. Sollte jemand herunterkommen, würde er sofort den Telegrafenraum in Beschlag nehmen.
Immer noch kein Telefax. Pauli wanderte zwischen dem Paternoster und der Treppe hin und her. Schließlich stellte er sich neben die Zwischentür und blickte durch die Kristallglasscheiben nach draußen. Es schneite. In der nachmittäglichen Dunkelheit hasteten Menschen vorbei, auf der Suche nach den letzten Weihnachtsgeschenken. Es wurde Zeit: In ein paar Tagen war Heiligabend. Stille Nacht, Heilige Nacht. Für viele war es eine unheilige Nacht mit einem Gabentisch, auf dem die Kündigung lag. Rechtzeitig als Einschreiben mit Rückschein abgeschickt, um die Frist bis zum Jahresende zu wahren.
Es schneite nun in richtig dicken Flocken. Pauli widerstand dem starken Drang, nach draußen zu gehen und Schneeflocken aufzufangen. Oder in den Schnee hinauszuwandern, immer weiter und weiter. Weg von der Firma mit diesem schrecklichen Geschäftsführer, der ihn zwang, Menschen unglücklich zu machen, die ihm nichts getan hatten.
Pauli hatte Lust, sich zu unterhalten. Um die Zeit totzuschlagen, bis das Telefax kam. Doch Herr Ramelow war noch nicht zurückgekommen. Also stellte er sich wieder so auf, dass er die Treppe und den Paternoster im Auge behalten konnte.
In einer der Kabinen, die aus dem Keller kam, war ein Mann. Pauli erkannte ihn sofort. Unwillkürlich nahm er Haltung vor dem Geschäftsführer an. Doch der Mann nahm keine Notiz vom Personalreferenten Pauli. Er hing in einer Ecke der Kabine, war zusammengesunken, die Knie eingeknickt. Sein weißes Hemd war rot gefärbt, das Jackett auch. Vom Mund führte ein dünner, blutiger Faden zum Kinn. Pauli starrte den Mann an, der rumpelnd nach oben verschwand. Wim van Zijstra war tot, das war unübersehbar, offensichtlich ermordet. Das war ein Problem. Jedoch keines, für das die Personalabteilung zuständig war. Hier waren externe Leute gefragt.
Pauli lehnte sich schwer atmend gegen die Wand und wischte sich fahrig übers Gesicht. Sein Magen rebellierte, ihm war schlecht. Du kannst nicht hier herumstehen, sagte eine Stimme in ihm. Ich will nichts damit zu tun haben, antwortete eine andere Stimme. Reiß dich am Riemen!, sagte die erste Stimme wieder. Wenn wenigstens der Pförtner hier wäre, jammerte die zweite Stimme.
Der Personalreferent stolperte zur Pförtnerloge und nahm den Hörer von der Telefonanlage. Muss ich 110 oder 112 wählen? Eine Nummer war die der Polizei, die andere die der Feuerwehr, doch welche war die richtige? War Feuerwehr gleichbedeutend mit Unfallwagen? Pauli fuhr sich über die Stirn. Sie war nass. Unfallwagen war sicherlich nicht richtig, wenn der Mann bereits tot war. Da musste ein Bestattungsunternehmer kommen.
Die vielen blinkenden Lämpchen verwirrten ihn, aus dem Hörer kam kein Ton. Der Tod muss durch den medizinischen Dienst festgestellt werden, sagte er sich. Doch wie war dessen Nummer? Er drückte auf eine blinkende Taste. Aus dem Hörer kam ein Besetztzeichen. Pauli ließ den Hörer sinken. Er musste sich einen Augenblick an der Pförtnerloge festhalten. Mühsam, als hätte er eine schwere Arbeit zu verrichten, drückte er eine andere Taste.
»Na, endlich meldet sich jemand«, quäkte eine empörte Stimme aus dem Hörer. »Ich habe meine Zeit nicht gestohlen! Verbinden Sie mich endlich mit der Marketingabteilung.«
Aus dem Telegrafenraum hörte Pauli ein Geräusch. Er legte den Hörer auf und stolperte hinüber. Es war nicht das Telefax, auf das er wartete.
Pauli schaute auf seine Hände. Sie zitterten. Sie zitterten überaus stark. Du musst dich zusammennehmen, dachte er. Probleme sind da, um gelöst zu werden. Er straffte sich. Durchschritt sehr aufrecht die Halle. Stellte sich vor den Paternoster. Lange brauchte er nicht zu warten. Der Geschäftsführer kam wieder vorbei, diesmal auf dem Weg nach unten. Er hatte seine Lage verändert, war ganz in sich zusammengesunken und nach vorne gefallen. Sein Gesicht und sein Jackett wiesen breite Spuren von Fett auf. Lagerfett. Solches, wie es zum Schmieren von Zahnrädern verwendet wurde.
Pauli wusste, woher das Fett kam. Er selbst war einmal völlig in Gedanken im Paternoster bis nach oben gefahren. Dorthin, wo es keinen Ausstieg mehr gab. Plötzlich hatte die Kabine eine Seitwärtsbewegung gemacht und war an einem riesigen, fingerdick mit Fett beschmierten Zahnrad vorbeigeschwungen. Pauli hatte sich erschrocken an die Rückwand der Kabine gedrückt. Im nächsten Augenblick wich das Zahnrad nach oben zurück, dann war er wieder auf dem Weg nach unten.
Der Personalreferent Rainer Pauli starrte dem verschwindenden Geschäftsführer nach. Da! Wieder ein Geräusch aus dem Telegrafenraum. Das war sein Telefax. Es kamen mehrere Seiten, dann ein heller Piepton. Die Übertragung war unterbrochen.
Pauli wartete. Auf den Geschäftsführer. Doch der Tote tauchte nicht mehr auf. Er drückte seine Fingerspitzen auf die Schläfen. Sah er Gespenster? Oder war er überarbeitet? Gab es gar keinen toten Wim van Zijstra? Waren alles nur Hirngespinste, Wunschträume? Halluzinationen, oder wie das hieß? Er kannte sich wenig aus in diesen Dingen. Plötzlich blieb der Paternoster stehen. Totenstille. Kein Rumpeln mehr. Jetzt war sich Pauli sicher, dass er verrückt geworden war. Einen Paternoster, der stillstand, das gab es nicht. Er schloss die Augen. Wartete einen Augenblick. Öffnete sie dann wieder. Der Paternoster rumpelte. Ein Mann kam nach oben.
»Guten Tag, Herr Pauli«, sagte Herr Ramelow höflich.
Pauli schüttelte verwirrt den Kopf. »Wo kommen Sie denn her?«
»Von unten. Dort ist eine Reparaturtür. Durch die kann man direkt aus dem Paternoster in die Tiefgarage steigen. Wussten Sie das nicht?«
»Nein. So weit bin ich noch nie gefahren.«
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Nein, nein. Ich warte auf ein Telefax.«
»Ich kann Sie anrufen, wenn es da ist.«
»Geht nicht. Ist streng vertraulich.«
Herr Ramelow zog eine Augenbraue hoch. »Wenn die Personalabteilung ein streng vertrauliches Telefax erwartet, dann hat das nichts Gutes zu bedeuten.«
Pauli wechselte das Thema. »Was machen Sie über die Feiertage?«
»Ich arbeite in der Weihnachtswoche. Und an Silvester packe ich meine Sachen zusammen. Dann werde ich ersetzt.«
»Ersetzt?« Paulis Stimme klang schrill.
»Ja. Durch eine Anzeigetafel. Stellen Sie sich das mal vor.« Herr Ramelow bemühte sich jetzt nicht mehr um eine hanseatische Zurückhaltung. Seine Stimme klang aufgebracht, er hieb mit der Faust in die flache Hand. »Nach 32 Jahren abserviert! Dabei sollte doch der Pförtner als Letzter gehen.«
»Ja, ja«, sagte Pauli und fuhr sich wieder übers Gesicht.
Die beiden Männer blickten schweigend in das Schneetreiben.
»Ich bekomme vielleicht noch mal Arbeit«, sagte Herr Ramelow, »wenn ich Glück habe, in einem Hotel. Ansonsten als Türsteher vor einem Nachtklub. Pförtner werden ja immer gebraucht.«
Pauli blickte den korrekten Herrn Ramelow zweifelnd an.
»Joseph Hilbert hat es schwerer«, sagte der Pförtner.
»Hilbert, der Fahrer?«
»Er hat ja immer die oberen Gehaltsklassen gefahren. Seit Jahrzehnten. Doch von jetzt an sollen die Prokuristen selbst chauffieren.«
»Das wusste ich nicht.«
»Hilbert ist total aus dem Häuschen. Der hat vielleicht eine Wut im Bauch. Der weiß, dass er keine Arbeit mehr bekommt. Er ist einfach zu alt.« Herr Ramelow blickte nachdenklich auf die Ziehfäden an Paulis Strickjacke.
»Wie lange hat Hilbert noch?«
»Heute war sein letzter Tag. Ich habe ihm gerade geholfen, seine Sachen im Auto zu verstauen. Er hatte ein kleines Büro in der Tiefgarage.«
Pauli blickte wieder durch die Scheiben in den dunklen Abend. Nächste Woche war Weihnachten, das Fest der Liebe. Ein Fest, an dem Leute wie Ramelow und Hilbert am Weihnachtstisch saßen und sich fragten, ob das Leben wohl weitergehen wird.
»Haben Sie eigentlich ein zweites Jackett, Herr Ramelow?«
»Zweites Jackett?«
»Ja oder nein.«
»Ja, ja, natürlich. Ich habe immer ein Reservejackett hier. Und auch eine Reservekrawatte. Es könnte ja sein, dass ich mich mit Kaffee bekleckere. Wie würde das aussehen, der Pförtner einer renommierten Firma mit Kaffeeflecken?«
Die beiden Männer schauten den Schneeflocken nach.
»Wieso fragen Sie, Herr Pauli?«
»Weil Sie einen großen Fleck am Revers haben. Sieht aus wie Schmiere.«
Herr Ramelow schaute betroffen an sich herunter. »Ärgerlich! Das muss von Josephs Auto sein.«
Aus dem Telegrafenraum piepte es, dann war das Brummen des Gerätes zu hören.
»Mein Telefax«, sagte Rainer Pauli.
»Mein Reservejackett«, sagte Herr Ramelow.
»Falls wir uns nicht mehr sehen: Schöne Weihnachten, Herr Ramelow.«
»Das wünsche ich Ihnen auch, Herr Pauli. Und grüßen Sie die Familie.«