Sackgasse

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KAPITEL VIER

Ungefähr im selben Moment, als Chloe sich daran erinnerte, wie es sich anfühlte, sich in einem Mann zu verlieren, befand sich ihre Schwester inmitten eines Albtraums.

Danielle Fine träumte wieder einmal von ihrer Mutter. Dies war ein wiederkehrender Albtraum, den sie geträumt hatte, seit sie etwa zwölf Jahre alt gewesen war – einer dieser Träume, der in jedem neuen Lebensabschnitt, in dem sich Danielle befand, immer wieder eine neue Bedeutung einzunehmen schien. Der Traum selbst war jedoch immer derselbe, die Details und die Handlungsabläufe unverändert.

In ihrem Traum wurde sie von ihrer Mutter einen langen Gang entlang verfolgt. Allerdings war es die Version ihrer Mutter, die sie und Chloe an diesem Tag als junge Mädchen aufgefunden hatten. Blutüberströmt, mit weit aufgerissenen Augen und leblos.

Aus irgendeinem Grund war in ihrem Traum eines ihrer Beine immer durch den Sturz gebrochen worden (und das, obwohl es in den offiziellen Berichten dazu nie einen Hinweis gegeben hatte) und so schleppte sich die Traumversion ihrer Mutter auf der Verfolgungsjagd ihrer Tochter den Flur entlang.

Trotz ihrer Verletzung war ihr ihre Mutter immer direkt auf den Fersen, nur wenige Fingerspitzen entfernt, um sie an ihren dünnen Fußgelenken zu greifen und auf den Boden hinunterzuziehen. Danielle rannte angsterfüllt vor dem grausigen Anblick davon, ihre Augen auf das Ende des Ganges gerichtet. Und dort in der Tür, die so unendlich weit entfernt zu sein schien, stand ihr Vater.

Er würde immer niederknien und seine Arme, mit einem großen Lächeln auf den Lippen, weit für sie ausbreiten. Allerdings tropfte Blut von seinen Händen und in diesem Moment purer Panik, der sie immer aufweckte, hörte Danielle auf zu rennen. Sie steckte fest zwischen ihrer toten Mutter und ihrem wahnsinnigen Vater, jedes Mal unsicher darüber, welche Richtung sicherer war.

Auch dieses Mal war es nicht anders. Der Albtraum hörte abrupt auf und riss Danielle aus ihrem Schlaf.

Sie setzte sich langsam auf. Sie war inzwischen so gewöhnt an diesen Traum, dass sie genau wusste, was los war, selbst wenn sie noch nicht völlig aufgewacht war. Erschöpft, sah sie zur Uhr hinüber und musste feststellen, dass es erst 23:30 Uhr war. Sie hatte dieses Mal nur ungefähr eine Stunde geschlafen, bevor sich der Traum wieder eingeschlichen hatte.

Sie legte sich wieder hin und wusste, dass es eine Weile dauern würde, bevor sie wieder einschlafen konnte. Sie schob die Gedanken an den Albtraum beiseite. In den vielen Jahren, in denen sie diesen Traum nun schon hatte, hatte sie gelernt, wie sie ihn abschütteln konnte, indem sie sich immer wieder daran erinnerte, dass sie nichts hätte tun können, um zu verhindern, dass ihre Mutter starb. Selbst wenn sie jemandem von ihren kleinen Geheimnissen erzählt hätte, die sie über das toxische Verhalten ihres Vaters gesehen, gehört und erlebt hatte, gab es nichts, was sie hätte tun oder sagen können, um ihre Mutter zu retten.

Sie drehte sich um und schaute zum Nachttisch hinüber. Fast hätte sie nach ihrem Handy gegriffen, um Chloe anzurufen. Drei Wochen waren vergangen, seitdem sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Es war angespannt und unangenehm zwischen ihnen gewesen und es war ihre Schuld. Sie wusste, dass sie viel Negativität auf Chloe projiziert hatte, hauptsächlich, weil Chloe ihren Vater nicht mit derselben Bosheit und Angst hasste, wie sie es tat. Danielle war diejenige gewesen, die vor drei Wochen angerufen hatte, nachdem sie realisierte, dass Chloe darauf wartete, dass sie den nächsten Schritt machte, da ihre vorherige Unterhaltung nicht sehr gut gelaufen war – Danielle hatte ihrer Schwester quasi mitgeteilt, sich nicht mehr bei ihr zu melden.

Aber sie kannte Chloes Dienstplan nicht. Sie wusste nicht, ob 23:30 Uhr abends zu spät wäre. Um ehrlich zu sein, war es Danielle in letzter Zeit schwergefallen, vor zwei Uhr morgens einzuschlafen. Heute war einer ihrer wenigen freien Abende in der Lounge, ein Abend, an dem sie zudem auch nicht in der Bar, die ihr Freund für sie gekauft hatte, gebraucht wurde, um irgendwelche Genehmigen für die Renovierung zu unterschreiben.

Schnell schob sie alle Gedanken an die Arbeit beiseite und versuchte, wieder einzuschlafen. Wenn sie jetzt anfing, sich über die Arbeit und alles, was sie sonst noch um die Ohren hatte, Gedanken zu machen, dann würde sie heute Nacht überhaupt nicht mehr schlafen.

Wieder dachte sie an Chloe. Sie fragte sich, was für Träume und vor allem Albträume ihre Schwester über ihre Eltern hatte. Sie fragte sich, ob sie sich noch immer noch mit der Idee beschäftigte, ihren Vater aus dem Gefängnis zu befreien und, wenn dem so wäre, ob sie entschieden hatte, dies für sich zu behalten.

Schließlich wurde sie doch wieder müde. Danielles letzter Gedanke war an ihre Schwester. Sie dachte an Chloe und fragte sich, ob es endlich an der Zeit war, zu vergessen und vergeben – um die Erinnerungen an ihren Vater nicht mehr im Weg für eine bedeutungsvolle Beziehung mit Chloe stehen zu lassen.

Sie war überrascht davon, wie glücklich sie dieser Gedanke machte … so glücklich, dass, als sie einschlief, das kleinste Anzeichen eines Lächelns auf ihren Lippen lag.

* * *

Die junge Kellnerin, die als ihr Ersatz eingestellt worden war, hatte schnell gelernt. Sie war zwanzig Jahre alt, umwerfend schön und eine Art Meisterin darin, betrunkene Männer zu verstehen. Weil sie sich so gut machte, war Danielle in der Lage, sich mit ihrem Freund und den Bauunternehmern an dem Gebäude zu treffen, welches in circa anderthalb Monaten ihre eigene Bar und ihr eigenes Restaurant sein würde.

Heute wurde am Lüftungssystem gearbeitet und es wurden einige Last-Minute Wandverkleidungen in einem Hinterzimmer montiert, welches in der Zukunft von größeren Gruppen für Veranstaltungen reserviert werden konnte. Als sie dort ankam, war ihr Freund damit beschäftigt, einen Vertrag mit dem Elektriker durchzugehen. Sie saßen an einem der Tische, die kürzlich ausgepackt worden waren – eine von drei Varianten, aus denen Danielle auswählen sollte, um zu entscheiden, welche Art von Tischen sie gerne in ihrem Restaurant haben wollte.

Ihr Freund sah sie, als sie eintrat. Er sagte schnell etwas zu dem Elektriker und kam dann zu ihr hinüber, um sie zu begrüßen. Sein Name war Sam Dekker und obwohl er nicht unbedingt der ehrlichste oder intelligenteste Mann war, machte er dies durch sein hemmungslos gutes Aussehen und seinen originellen und raffinierten Geschäftssinn wett. Er war etwa zwanzig Zentimeter größer als sie und musste sich zu ihr hinunterlehnen, als er ihr einen schnellen Kuss gab.

„Ich melde mich zum Dienst“, sagte sie. „Wie kann ich heute behilflich sein?“ Sam zuckte mit den Schultern und schaute sich fast theatralisch um. „Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass es viel für dich zu tun gibt. Alles nimmt allmählich Gestalt an. Das klingt vielleicht dumm, aber du könntest einen Blick in den ABC Katalog werfen und entscheiden, welche Alkohol-Marken du gerne anbieten würdest. Und mache dir vielleicht Gedanken darüber, wo du die kleinen Lautsprecher für die Musik und solche Dinge gerne hättest. Das sind die Sachen, die man außer Acht lässt und die dann später, in letzter Minute gegen Ende des Projektes, als Ärgernisse auftauchen.“

„Ja, ich glaube, das schaffe ich“, sagte sie etwas enttäuscht.

Es gab Tage, an denen sie zu den Renovierungsarbeiten kam und sich fühlte, als würde Sam sie nur bespaßen. Er gab ihr untergeordnete Aufgaben, um sich selbst mit den wichtigen Dingen beschäftigen zu können. Es fühlte sich in gewisser Weise erniedrigend an, aber sie musste sich auch daran erinnern, dass Sam wusste, was er tat. Er hatte drei Bars eröffnet, die alle unheimlich gut liefen. Eine davon hatte er letztes Jahr an eine große landesweite Firma verkauft und dabei mehr als zehn Millionen Dollar verdient.

Und nun hatte er entschieden, sie in ihrem eigenen kleinen Unternehmen zu unterstützen. Es war ein Unterfangen, das er ihr einreden musste. Er bestand darauf, dass sie schlau genug war, einen Betrieb wie diesen zu führen, allerdings erst, sobald alle Variablen aus dem Weg geräumt waren.

Die meisten Mädchen, die mit mittelreichen Typen ausgehen, bekommen Schmuck und Autos, dachte sie, während sie sich auf den Weg zum baldigen Lounge-Bereich machte. Ich … ich bekomme eine Bar. Kein schlechter Deal, denke ich.

Meistens, wenn sie über den weiten Weg, der ihr bevorstand, nachdachte, fühlte sie sich etwas überfordert. Sie würde tatsächlich für ein Geschäft verantwortlich sein. Sie würde es leiten und Entscheidungen treffen. Ein gewisser Grad an Schuldgefühl war auch dabei. Sie fühlte sich, als wäre ihr diese Möglichkeit einfach so gegeben worden, ohne einen guten Grund, außer, dass sie mit einem Mann zusammen war, der wusste, wie man ein Geschäft startete. Demzufolge wusste sie, dass es einiges gab, was sie dafür aufopfern musste und einige Dinge, mit denen sie Sam einfach davonkommen ließ. Sie hinterfragte nie, wie spät er nach Hause kam und glaubte ihm immer, wenn er sagte, er sei in Geschäftstreffen oder mit Vertragspartnern zum Essen aus. Manchmal war sie auch bei diesen Geschäftstreffen dabei gewesen, sodass sie wusste, dass er die Wahrheit sagte – meistens.

Sie fühlte sich außerdem, als müsse sie ihm, so oft sie konnte, ihre Wertschätzung zeigen. Das hieß auch, sich nicht zu beschweren, wenn sie ihn manchmal mehrere Tage nicht sah. Es hieß auch, nicht auf die Barrikaden zu gehen, wenn er bestimmte Dinge im Schlafzimmer forderte. Es hieß, nicht verärgert darüber zu sein, dass er, auch wenn er ihr eine Bar gekauft hatte, bislang nicht ein einziges Mal über Hochzeit gesprochen hatte. Danielle war sich ziemlich sicher, dass Sam auch nicht plante, zu heiraten. Und für den Moment war das für sie in Ordnung, also machte es keinen Sinn darüber zu diskutieren.

 

Außerdem … worüber sollte sie sich denn zu beschweren? Sie hatte endlich einen Mann getroffen, der sie – wenn er denn da war – wie eine Königin behandelte und sie schien auf dem richtigen Weg zu leicht verdientem Erfolg zu sein.

Es liegt daran, dass die meisten Dinge, die sich zu gut anfühlen, um wahr zu sein, es meistens auch sind, dachte sie.

Als sie im zukünftigen Lounge-Bereich ankam, rief sie die digitalen Entwürfe auf ihrem Handy auf. Sie machte Vermerke, wo die Lautsprecher installiert werden könnten, und machte zudem eine Notiz über potenzielle Pläne für verdunkelte Scheiben an der Rückwand. Es waren Momente wie dieser, wenn sie diese Art Dinge tat, dass es sich wirklich so anfühlte, als würde ihr Traum zur Realität werden. Irgendwie schien das hier alles tatsächlich für sie zu passieren.

„Hey …“

Sie drehte sich um und sah Sam im Türrahmen stehen.

Er lächelte sie mit demselben hungrigen Blick an, den er ihr oft zuwarf, wenn er Lust auf sie hatte.

„Hey du“, sagte sie.

„Ich weiß, es fühlt sich an, als hätte ich dich eben abgewimmelt“, sagte er, „aber … in den nächsten paar Wochen brauche ich wirklich nur ein paar Unterschriften von dir.“

„Du überarbeitest mich regelrecht“, scherzte sie.

„Ich dachte wirklich, das Training mit der neuen Kellnerin in der Bar würde länger dauern. Es ist ja nicht mein Fehler, dass wir ein Gastronomie-Genie eingestellt haben.“ Er näherte sich ihr und schlang seine Arme um ihre Taille. Sie musste nach oben schauen, um ihm in die Augen zu sehen, aber aus irgendeinem merkwürdigen Grund ließ sie das immer sicher fühlen. Es fühlte sich an, als würde dieser Mann immer wortwörtlich über sie wachen.

„Lass uns später zusammen zu Mittag essen“, sagte Sam. „Etwas Einfaches. Pizza und Bier.“

„Klingt gut.“

„Und morgen … was hältst du davon, wenn wir irgendwohin fahren. An einen Strand … nach South Carolina oder an einen ähnlichen Ort.“

„Wirklich? Das klingt spontan und scheint eine zusätzliche Belastung zu all der Arbeit zu sein, die wir um die Ohren haben. In anderen Worten … es klingt so gar nicht nach dir.“

„Ich weiß. Aber dieses Projekt hat mich so eingenommen … und ich habe bemerkt, dass ich dich vernachlässigt habe. Also möchte ich es wiedergutmachen.“

„Sam, du ermöglichst mir mein eigenes Geschäft. Das ist mehr als genug.“

„Na gut. Dann werde ich es egoistischer formulieren. Ich möchte allem hier entfliehen und mit dir alleine sein, nackt und irgendwo am Meer. Klingt das besser?“

„Ja, irgendwie schon.“

„Gut. Dann gehe zur Bar und sehe nach, ob bei der Neuen alles in Ordnung ist. Ich hole dich gegen Mittag zum Essen ab.“

Sie küsste ihn und obwohl er offensichtlich in Eile war, war das Gefühl von allem, was er gerade gesagt hatte, nicht an ihr vorbei gegangen. Sie wusste, wie schwer es ihm fiel, emotional und aufrichtig zu sein. Sie sah diese Seite an ihm nur selten und traute sich deshalb auch nicht, sie zu hinterfragen.

Danielle lief wieder durch die überwiegend leeren Räume des alten Backsteinhauses, welche bald ihre Bar und Lounge sein würden. Es war schwer, sich vorzustellen, dass dies hier alles ihr gehören würde, aber genau das war der Fall.

Als sie nach draußen kam, schien die Sonne heller zu scheinen als zuvor. Sie lächelte und versuchte noch immer Sinn aus allem zu machen, was in ihrem Leben in letzter Zeit passiert war. Sie dachte wieder an Chloe und beschloss, sie in den nächsten Tagen anzurufen. Alles andere in ihrem Leben verlief so gut, daher sollte sie auch versuchen, die angespannte Beziehung zwischen sich und Chloe zu reparieren.

Sie stieg in ihr Auto und fuhr zu Sams anderer Bar zurück – zu der Bar, in der er sie vor sechs Monaten eingestellt hatte. Sie war von dem Gedanken, mit ihm übers Wochenende wegzufahren, so abgelenkt, dass sie das Auto nicht sah, das an der Straßenseite geparkt hatte und hinter ihr in den Verkehr einbog.

Wenn sie es wahrgenommen hätte, dann hätte sie eventuell auch den Fahrer erkannt, obwohl sie ihn schon für eine sehr lange Zeit nicht gesehen hatte.

Dennoch, würde eine Tochter je wirklich vergessen, wie das Gesicht ihres Vaters aussah?

KAPITEL FÜNF

Als Chloe und Moulton in Garcias Büro ankamen, erwartete sie Director Johnson dort bereits. Es schien, als hätten er und Garcia durch Fallakten geschaut; Garcia hatte einige auf seinem Bildschirm geöffnet, während einen kleiner ausgedruckter Stapel vor Johnson lag.

„Danke, dass Sie so schnell herkommen sind“, sagte Johnson, „Wir haben einen Fall in Virginia – ein kleiner Ort auf der anderen Seite von Fredericksburg, in einer gehobenen Nachbarschaft. Und ich sollte zunächst wohl erwähnen, dass die Familie des Opfers einige sehr einflussreiche politische Freunde hat. Und das ist der Grund dafür, weshalb wir eingeschaltet wurden. Nun ja, das und die grausame Art des Todes.“

Als sich Chloe an den kleinen Tisch im hinteren Bereich von Garcias Büro setzte, versuchte sie ihr Bestes, nicht zu offensichtlich zu zeigen, dass sie probierte, etwas Abstand zwischen sich und Moulton zu bringen. Sie wusste, dass sie vermutlich glühte, und davon wie ihre Nacht und ihr Morgen verlaufen waren, geradezu strahlen würde. Sie war sich nicht sicher, wie Johnson auf jegliche Art von Beziehung zwischen ihnen reagieren würde, und wollte dies auch ehrlich gesagt nicht austesten.

„Womit haben wir es zu tun?“, fragte Chloe.

„Vor vier Tagen kam ein Mann nach Hause und fand seine Frau tot zu Hause auf“, sagte Garcia, „aber es war nicht nur das. Sie war nicht einfach nur umgebracht worden, sondern wurde äußerst brutal ermordet. Sie hatte mehrere Stichwunden – der Gerichtsmediziner zählte sechzehn. Der Tatort war eine Sauerei… überall war Blut. Etwas, was die örtliche Polizei noch nie zuvor gesehen hat.“

Mit einem warnenden Blick schob er einen Ordner zu Chloe hinüber. Chloe nahm ihn entgegen und öffnete ihn langsam. Sie warf einen kurzen Blick hinein, sah nur einen Teil des Tatortfotos und schloss den Ordner genauso schnell wieder. Von dem flüchtigen Blick auf das Foto erschien ihr der Ort des Geschehens mehr wie ein Schlachthaus als der Tatort eines Mordes.

„Mit wem ist die Familie des Opfers befreundet?“, fragte Moulton, „Sie sagten, es handle sich um jemanden in der Politik, nicht wahr?“

„Ich würde diese Information nur ungern herausgeben“, sagte Johnson. „Wir wollen nicht, dass es so aussieht, als würde das FBI jemanden bevorzugen, wenn es um bestimmte Parteien geht.“

„Zu welchem Ausmaß ist die örtliche Polizei involviert?“, fragte Chloe.

„Sie haben eine landesweite Großfahndung gestartet und die Staatspolizei ist ebenfalls involviert“, sagte Garcia. „Sie wurden allerdings gebeten, die Sache verdeckt zu halten. Die örtliche Polizei ist verständlicherweise verärgert, weil sie das Gefühl haben, dass wir ihren Fall behindern, der sowieso schon außerhalb ihrer Komfortzone liegt. Also möchte ich, dass sie beide so schnell wie möglich dorthin fahren. Außerdem … und bitte hören Sie genau zu: Ich habe an Sie beide für diesen Fall gedacht, weil sie in der Vergangenheit so erfolgreich zusammengearbeitet haben. Und Agentin Fine, Sie scheinen ein Händchen für diese kleinstädtischen, isolierten Gemeinde-Straftaten zu haben. Wie dem auch sei, sollten Ihnen dieser Fall und die Tatortfotos unbehaglich sein – so als wäre es etwas zu viel für Ihr derzeitiges berufliches Stadium in ihrer Karriere – dann sagen Sie es bitte jetzt. Ich werde Sie deshalb nicht verurteilen und würde diese Entscheidung nicht gegen Sie halten.“

Chloe und Moulton tauschten Blicke aus und sie konnte sehen, dass er genau so eifrig war, diesen Fall anzunehmen, wie sie selbst. Moulton konnte sich nicht zurückhalten und warf einen Blick in den Ordner. Sein Gesicht verzog sich ein wenig, als er durch die Tatortfotos blätterte und den kurzen Bericht am Ende des Ordners überflog. Dann schaute er wieder zu Chloe und nickte.

„Was mich betrifft, bin ich bereit“, sagte Chloe.

„Ich auch“, sagte Moulton, „und ich weiß die Gelegenheit zu schätzen.“

„Ich freue mich, das zu hören“, sagte Johnson und stand auf. „Ich freue mich darauf, zu sehen, was Sie beide erreichen können. Na dann … Bewegung. Sie haben eine lange Fahrt vor sich.“

* * *

Moulton saß am Steuer des FBI-Fahrzeugs und sie machten sich auf den Weg zum Autobahnring in Richtung Virginia. Barnes Point war nur eine Stunde und zwanzig Minuten entfernt, aber wenn man auf die Autobahn fuhr, fühlte sich eine Fahrt überall hin an, als würde man auf die andere Seite des Planeten reisen.

„Bist du dir hiermit sicher?“, fragte er.

„Womit genau?“

„Zusammen an einem Fall wie diesem zu arbeiten. Ich meine … vor etwa zehn Stunden haben wir noch wie zwei geile Teenager rumgeknutscht. Wirst du in der Lage sein, deine Hände von mir zu lassen, während wir arbeiten?“

„Bitte fasse das nicht falsch auf“, sagte Chloe, „aber nach dem, was ich in dem Ordner gesehen habe, ist noch mal mit dir rumzumachen wirklich das Letzte, woran ich gerade denke.“

Moulton nickte verständnisvoll. Er bog auf die nächste Auffahrt, gefolgt von einer geraden Strecke und er gab auf Gas. „Aber Spaß beiseite … mir hat gestern Abend sehr gefallen. Sogar bevor wir bei dir waren. Und ich würde das gerne wiederholen. Aber auf der Arbeit …“

„Sollten wir strengstens professionell bleiben“, beendete sie den Satz für ihn.

„Genau. Und im Bezug darauf,“, sagte er und zog sein iPad aus der Vertiefung der Mittelkonsole, „habe ich bereits die Fallakten heruntergeladen, während du gepackt hast.“

„Hast du nicht gepackt?“

„Du hast meine Tasche gesehen. Ja, klar habe ich gepackt. Aber ich bin schneller dabei.“ Während er das sagte, warf er ihr ein süßes, verschmitztes Grinsen zu, so als wolle er darauf hindeuten, dass sie eventuell etwas länger gebraucht hatte, als er erwartet hatte. „Ich hatte allerdings noch keine Chance, mir alles durchzulesen.“

„Ah, etwas Unterhaltungslektüre“, sagte Chloe.

Sie kicherten beide und als Moulton seine Hand auf ihr Knie legte, während sie begann die Dokumente zu lesen, war sie sich auf einmal nicht mehr sicher, ob sie das Ganze professionell halten konnten.

Sie ging durch die Akten und las Moulton die wichtigen Teile laut vor. Sie fanden, dass Garcia und Johnson gute Arbeit beim Zusammenfassen der Fakten geleistet hatten. Der Polizeireport war sehr detailliert, genau wie die Fotos. Es war immer noch nicht leicht, sie anzuschauen und Chloe konnte der örtlichen Polizei Dienststelle keine Vorwürfe machen. Sie konnte sich vorstellen, dass jedes Kleinstadt-Revier aus seinem Element sein würde, wenn es zu einem so brutalen und blutigen Fall kam.

Sie tauschten ihre Gedanken und Theorien aus und zu dem Zeitpunkt, als sie an einem Schild vorbeikamen, welches anzeigte, dass Barnes Point nur noch fünfzehn Meilen entfernt war, hatte Chloe ihre Meinung geändert. Sie dachte, sie würden in der Lage sein, professionell zusammenzuarbeiten. Sie war die letzten Wochen so sehr in den Bann seiner äußerlichen Attraktivität gezogen worden, dass sie fast vergessen hatte, wie scharfsinnig und intuitiv er bei seiner Fallbearbeitung sein konnte.

Ihr kam der Gedanke, dass sie, wenn das hier funktionieren würde, genau das hätte, was sich jede Frau auf dem Planeten wünschte: einen Mann, der sie als gleichberechtigt respektierte, nicht nur beruflich und intellektuell, sondern auch im Schlafzimmer.

Es ist nicht einmal ein Tag vergangen, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Danielles Stimme schon wieder. Wirst du wirklich schon ganz verträumt und verrückt im Kopf? Gott, du hast für ein paar Stunden mit ihm rumgeknutscht und ihr habt noch nicht einmal miteinander geschlafen. Du kennst ihn kaum und …

Aber Chloe entschied sich, diese Gedanken wegzudrängen.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Bericht des Gerichtsmediziners zu. Es beschrieb dieselbe Geschichte, die ihnen auch Johnson schon erläutert hatte, allerdings mit mehr Details. Und auf diese Details richtete sie ihre Aufmerksamkeit.

Das Blut, die Gewalt, das potenziell politische Motiv. Sie las alles sehr konzentriert und studierte den Bericht genauestens.

„Ich glaube, diese Tat ist nicht politisch motiviert“, sagte sie. „Ich glaube nicht, dass es den Täter übermäßig gekümmert hat, welche mächtigen politischen Freunde die Hilyards eventuell haben.“

„Ich höre Überzeugung in deiner Aussage“, merkte Moulton an.

„Erkläre es bitte.“

„Lauren Hilyard wurde sechzehn Mal erstochen. Und jede einzelne Wunde befindet sich im Bauchraum mit nur einem einzigen abweichenden Stich in die linke Brust. Der Gerichtsmediziner berichtet, dass die Wunden zerklüftet waren und fast übereinander, was darauf hindeutet, dass jemand die Messerstiche einen nach dem anderen verursacht hat. Diese Notiz im Report besagt: wie aus blinder Wut oder in Rage. Wenn dies die Tat jemandes mit politischer Motivation wäre, ist es dann nicht wahrscheinlicher, dass es eine Nachricht oder einen Hinweis gäbe?“

 

„Okay, also dann“, sagte Moulton, „bin ich an Bord. Diese Tat war nicht politisch motiviert.“

„Das war leicht.“

Er zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich bekomme immer mehr den Eindruck, dass jeder in DC denkt, alles habe eine politische Motivation. Was wäre also, wenn die Hilyards nur sozusagen irgendwie jemanden mit einem höheren Status in einem politischen Amt kennen würden. Das würde nicht jeden interessieren.“

„Ich mag deine Gedanken“, sagte sie. „Aber wir können es vermutlich noch nicht hundertprozentig verwerfen.“

Sie näherten sich Barnes Point und die Tatsache, dass ihnen ein Fall mit potenziell politischer Verknüpfung anvertraut worden war, war ihr nicht entgangen. Es war für sie beide eine großartige Chance und sie musste sicherstellen, dass sie sich für den Moment darauf konzentrierten. Vorerst war nichts anderes wichtiger als dieser Fall – keine plötzlich auftauchenden Väter, nicht die Stimme ihrer hartnäckigen und freudlosen Schwester … nicht einmal eine potenziell perfekte Romanze mit dem Mann, der neben ihr saß.

Zunächst ging es jetzt um den Fall und nur um den Fall. Und das war mehr als genug für sie.

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