Das Perfekte Haus

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Kapitel fünf

Das Betreten der NRD-Einheit war genau so, wie sie sich erinnerte. Nachdem sie die Erlaubnis erhalten hatte, den eingezäunten Krankenhauscampus durch ein Wachtor zu befahren, fuhr sie hinter das Hauptgebäude zu einem zweiten, kleineren, unscheinbaren Gebäude.

Es handelte sich um ein einstöckiges Gebäude aus Leichtbeton und Stahl in der Mitte eines unbefestigten Parkplatzes. Nur das Dach war hinter einem großen, grünmaschigen Stacheldrahtzaun sichtbar, der das ganze Grundstück umgab.

Sie fuhr durch ein zweites Tor, um Zugang zur NRD zu erhalten. Nachdem sie geparkt hatte ging sie zum Haupteingang und ignorierte die unzähligen Überwachungskameras, die ihr auf jedem Schritt folgten. Als sie an der Außentür ankam, wartete sie darauf, dass sie hineingelassen wird. Im Gegensatz zu ihrem ersten Besuch, wurde sie nun vom Personal erkannt und ihr wurde auf Anhieb Zutritt gewährt.

Aber das galt nur für die Außentür. Nachdem sie einen kleinen Innenhof passiert hatte, erreichte sie den Haupteingang der Anlage mit dicken, kugelsicheren Glastüren. Sie scannte ihre Karte, wodurch das Panel-Licht grün wurde. Dann öffnete ihr der Sicherheitsbeamte hinter dem Schreibtisch im Inneren, der auch den Farbwechsel sehen konnte, die Tür und beendete so den Eintrittsprozess.

Jessie stand in einem kleinen Vorraum und wartete darauf, dass sich die Außentür schloss. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass die innere Tür erst geöffnet werden konnte, sobald sich die äußere vollständig geschlossen hatte. Sobald sie hörbar verriegelt war, öffnete der Wachmann die Innentür.

Jessie trat ein, dort wartete ein zweiter bewaffneter Offizier auf sie. Er nahm ihr ihre persönlichen Gegenstände ab, allerdings hatte sie nicht wirklich viel dabei. Sie hatte im Laufe der Zeit gelernt, dass es besser ist, fast alles im Auto zu lassen, schließlich bestand keine Einbruchgefahr.

Die Wache tastete sie ab und deutete ihr dann an, durch den Scanner im Sicherheitsstil eines Flughafens zu gehen, der ihren gesamten Körper scannte. Nachdem sie den Scanner passiert hatte, wurden ihr ihre Gegenstände wortlos zurückgegeben. Es war der einzige Hinweis darauf, dass sie nun weitergehen konnte.

„Werde ich Offizier Gentry sehen?“ fragte sie den Officer hinter dem Schreibtisch.

Die Frau blickte zu ihr auf, in ihrem Gesicht war ein Ausdruck völliger Desinteresse zu sehen. „Sie wird gleich hier sein. Warten Sie einfach an der Tür zum Übergangsbereich auf sie.“

Jessie tat, was ihr befohlen wurde. Der Übergangsbereich war der Raum, in dem sich alle Besucher umziehen mussten, bevor sie mit einem Patienten interagierten. Sobald sie sich in dem Raum befanden, mussten sie sich graue Krankenhaus-ähnliche Kittel anziehen, jeglichen Schmuck entfernen und sich abschminken. Sie wurde gewarnt, schließlich bräuchten diese Männer keine zusätzliche Stimulation.

Einen Moment später kam Offizier Katherine «Kat» Gentry durch die Tür, um sie zu begrüßen. Sie war eine Augenweide. Obwohl sie bei ihrem ersten Treffen im vergangenen Sommer nicht gerade einen guten Start hatten, waren die beiden Frauen jetzt Freundinnen, verbunden durch ein gemeinsames Bewusstsein für die Dunkelheit in einigen Menschen. Jessie vertraute ihr mittlerweile so sehr, dass Kat eine von weniger als fünf Menschen auf der Welt war, die wussten, dass sie die Tochter des Henkers der Ozarks war.

Als Kat auf sie zuging, bemerkte Jessie erneut, welch respektvolle Sicherheitschefin der NRD sie doch war. Sie war körperlich imposant und obwohl sie 1,70 Meter groß war, bestand ihr 70 Kilo schwerer Körper fast ausschließlich aus Muskeln. Sie war eine ehemalige Soldatin, die zwei Einsätze in Afghanistan hatte, die Überreste jener Tage waren in ihrem Gesicht sichtbar, das von Verbrennungen geprägt war und eine lange Narbe aufwies, die direkt unter ihrem linken Auge begann und senkrecht über ihre Wange verlief. Ihre grauen Augen nahmen alles, was sie sahen, gründlich auf, um festzustellen, ob irgend etwas eine Bedrohung darstellte.

Sie hielt Jessie offensichtlich nicht für eine Bedrohung. Sie fing an zu grinsen und umarmte sie kräftig.

„Lange nicht gesehen, FBI–Lady“, sagte sie begeistert.

Jessie schnappte während der engen Umarmung nach Luft und sprach erst, als sie ausgelassen worden war.

„Ich bin nicht beim FBI“, erinnerte sie Kat. „Es war nur ein Trainingsprogramm. Ich bin immer noch beim LAPD.“

„Wie auch immer“, sagte Kat abweisend. „Du warst in Quantico, hast mit den Behörden in deinem Bereich zusammengearbeitet und ausgefallene FBI-Techniken gelernt. Wenn ich dich eine FBI–Lady nennen will, dann tue ich das.“

„Wenn du mir nicht meine Wirbelsäule brichst, kannst du mich nennen, wie du willst.“

„Apropos, ich glaube nicht, dass ich das noch schaffen würde“, bemerkte Kat. „Du scheinst stärker zu sein als zuvor. Ich schätze, sie haben nicht nur dein Gehirn trainiert, während du da warst.“

„Sechs Tage die Woche“, sagte Jessie. „Lange Rennen, Hindernisparcours, Selbstverteidigung und Waffenübung. Sie haben meinen Hintern definitiv in eine halbwegs anständige Form gebracht.“

„Sollte ich mir Sorgen machen?“ fragte Kat mit vorgetäuschter Sorge, trat zurück und hob ihre Arme in eine defensive Haltung.

„Ich glaube nicht, dass ich eine Bedrohung für dich bin“, gab Jessie zu. „Aber ich habe das Gefühl, dass ich mich vor einem Verdächtigen schützen könnte, was vorher definitiv nicht der Fall war. Rückblickend hatte ich wirklich Glück, einige meiner letzten Begegnungen überlebt zu haben.“

„Das ist fantastisch, Jessie“, sagte Kat. „Vielleicht sollten wir uns irgendwann mal für ein paar Runden treffen, nur um dich fit zu halten.“

„Wenn du mit ein paar Runden ein paar Runden trinken meinst, bin ich dabei. Ansonsten mache ich vielleicht eine kleine Pause vom täglichen Laufen und so.“

„Ich nehme alles zurück“, sagte Kat. „Du bist immer noch dasselbe Weichei, das du immer schon warst.“

„Das ist die Kat Gentry, die ich kennen und lieben gelernt habe. Ich wusste, dass es einen Grund gab, warum du die erste Person warst, die ich sehen wollte, wenn ich wieder in der Stadt bin.“

„Ich fühle mich geschmeichelt“, sagte Kat. „Aber ich glaube, wir beide wissen, dass ich nicht die Person bin, die du hier wirklich sehen willst. Sollen wir aufhören zu quatschen und reingehen?“

Jessie nickte und folgte Kat in den Übergangsbereich, wo die Sterilität und Stille die angenehme Stimmung des Besuchs beendete.

* * *

Fünfzehn Minuten später führte Kat Jessie zu der Tür, die den NRD-Sicherheitsbereich öffnete und damit die Tür zu einigen der gefährlichsten Menschen auf dem Planeten. Sie waren bereits in ihr Büro gegangen, um eine Nachbesprechung über die letzten Monate zu machen, die überraschend ereignislos verlaufen waren.

Kat informierte sie darüber, dass, nachdem Crutchfield ein bevorstehendes Treffen mit ihrem Vater angedroht hatte, die ohnehin schon strengen Sicherheitsvorkehrungen noch weiter erhöht worden waren. Die Einrichtung hatte zusätzliche Sicherheitskameras und eine noch bessere Identitätsprüfung für die Besucher installiert.

Es gab keine Beweise dafür, dass Xander Thurman versucht hatte, Crutchfield zu besuchen. Seine einzigen Gäste waren der Arzt, der jeden Monat kam, um seine Vitalwerte zu überprüfen, der Psychiater, mit dem er fast nie sprach, ein Detektiv des LAPD, der hoffte, Crutchfield würde ihm Informationen zu einem ungelösten Fall liefern und sein vom Gericht ernannter Anwalt, der nur auftauchte, um sicherzustellen, dass er nicht gefoltert wurde. Er hatte sich kaum mit einem von ihnen beschäftigt.

Laut Kat hatte er Jessie gegenüber dem Personal nicht erwähnt, nicht einmal gegenüber Ernie Cortez, dem unkomplizierten Offizier, der seine wöchentlichen Duschen überwachte. Es war, als würde sie nicht existieren. Sie fragte sich, ob er sauer auf sie war.

„Ich weiß, dass du dich daran erinnerst“, sagte Kat, als sie an der Sicherheitstür standen. „Aber es ist schon ein paar Monate her, also lass uns die Sicherheitsvorschriften nochmals durchgehen. Nähere dich nicht dem Gefangenen. Berühre nicht die Glasbarriere. Ich weiß, dass das in deinem Falle hinfällig ist, aber offiziell darfst du keine persönlichen Informationen weitergeben. Verstanden?“

„Jep“, sagte Jessie und freute sich über die Erinnerungen. Es war hilfreich, um sie in die richtige Stimmung zu bringen.

Kat scannte ihre Karte und nickte der Kamera über der Tür zu. Jemand von drinnen öffnete ihnen die Tür. Jessie war sofort überwältigt von der überraschenden Flut an Sicherheitsmaßnahmen. Anstelle der üblichen vier Sicherheitskräfte standen dort sechs. Außerdem gingen drei Männer in Uniformen mit verschiedenen technischen Ausrüstungen auf und ab.

„Was ist hier los?“, fragte sie.

„Oh, ich habe vergessen zu erwähnen, dass wir zur Wochenmitte ein paar neue Bewohner bekommen. Alle zehn Zellen werden belegt sein. Also überprüfen wir die Überwachungseinrichtungen in den leeren Zellen, um sicherzustellen, dass alles funktioniert. Wir haben auch das Sicherheitspersonal in jeder Schicht von vier Offizieren auf sechs tagsüber und nachts von drei auf vier erhöht.“

„Das klingt… riskant“, sagte Jessie diplomatisch.

„Ich habe dagegen gekämpft“, gab Kat zu. „Aber das Land hatte Bedarf und wir hatten verfügbare Zellen. Es war ein aussichtsloser Kampf.“

Jessie nickte, als sie sich umsah. Die Umgebung schien die gleiche zu sein. Die Einheit war wie ein Rad mit einer Kommandozentrale in der Mitte und Speichen, die sich in alle Richtungen erstreckten und zu Insassenzellen führten, aufgebaut. Derzeit befanden sich sechs Offiziere in der engen Kommandozentrale, die wie eine äußerst belebte Station eines Krankenhauses aussah.

Einige der Gesichter waren neu für sie, aber die meisten waren vertraut, einschließlich Ernie Cortez. Ernie war ein massives Exemplar eines Mannes, etwa zwei Meter groß und 125 Kilo Muskeln pur. Er war in den Dreißigern und fing gerade erst an, in seinem kurzen schwarzen Haar graue Strähnen zu bekommen. Er grinste sehr, als er Jessie sah.

 

„Mode-Tussi“, rief er ihr mit dem liebevollen Spitznamen zu, den er ihr bei ihrem ersten Treffen verpasst hatte. Damals hatte er versucht, sie anzugraben und ihr eingeredet, sie solle als Model arbeiten. Sie hatte ihm ziemlich schnell klargemacht, dass er nicht bei ihr landen konnte, aber er schien keinen Groll zu hegen.

„Wie geht es dir, Ernie?“ fragte sie und lächelte zurück.

„Du weißt schon, wie immer. Sicherstellen, dass Pädophile, Vergewaltiger und Mörder sich anständig benehmen. Was gibt’s bei dir Neues?“

„Eigentlich nichts Neues“, sagte sie und beschloss in Anwesenheit so vieler unbekannter Gesichter nicht auf ihre Unternehmungen in den letzten Monaten einzugehen.

„Jetzt, wo du ein paar Monate Zeit hattest, um über deine Scheidung hinwegzukommen, willst du ein wenig Zeit mit dem Ernst verbringen? Ich plane, dieses Wochenende nach Tijuana zu fahren.“

„Ernst“? wiederholte Jessie, unfähig, sich selbst vom Kichern abzuhalten.

„Was?“, sagte er defensiv. „Es ist ein Spitzname.“

„Es tut mir leid, Ernst, aber ich habe dieses Wochenende bereits etwas vor. Aber dir viel Spaß auf der Jai-Alai-Bahn.“

„Autsch“, antwortete er und packte seine Brust, als hätte sie einen Pfeil in sein Herz geschossen. „Weißt du, große Jungs haben auch Gefühle. Wir sind eben auch, du weißt schon… große Jungs.“

„In Ordnung, Cortez“, mischte Kat sich ein, „genug davon. Du hast mich eben dazu gebracht, innerlich zu kotzen. Und Jessie hat Geschäftliches zu tun.“

„Wie verletzend“, murmelte Ernie, als er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Monitor vor ihm richtete. Trotz seiner Worte deutete sein Ton darauf hin, dass er nicht allzu verletzt war. Kat bewegte sich, damit Jessie ihr zu dem Gespräch in Crutchfields Zelle folgen konnte.

„Das wirst du brauchen“, sagte sie und hielt den kleinen Schlüsselanhänger mit dem roten Knopf in der Mitte hoch. Es war der „Notfall“-Knopf. Jessie betrachtete es als eine Art digitale Sicherheitsdecke.

Wenn Crutchfield sich zu sehr in ihre Gedanken mischte und sie den Raum verlassen wollte, ohne ihn über seine Auswirkungen zu informieren, sollte sie den Knopf drücken, der in ihrer Hand versteckt war. Das würde Kat alarmieren, die sie aus irgendeinem offiziellen, erfundenen Grund aus dem Raum entfernen lassen könnte. Jessie war sich ziemlich sicher, dass Crutchfield das Gerät kannte, aber sie war froh, es trotzdem zu haben.

Sie packte den Schlüsselanhänger, nickte Kat zu, dass sie bereit war, einzutreten, und atmete tief durch. Kat öffnete die Tür und Jessie trat ein.

Anscheinend hatte Crutchfield ihre Ankunft erwartet. Er stand auf und war nur wenige Zentimeter von der Glaswand entfernt, die den Raum in zwei Hälften teilte. Er lächelte sie breit an.

Kapitel sechs

Jessie brauchte eine Sekunde, um ihren Blick von seinen schiefen Zähnen abzuwenden und die Situation zu beurteilen.

Auf den ersten Blick sah er nicht anders aus, als sie sich erinnerte. Er hatte noch immer die kurz geschorenen blonden Haare. Er trug immer noch den gleichen obligatorischen blauen Kittel. Er hatte noch immer das etwas pummeligere Gesicht, das man von einem Mann erwartete, der etwa 1,72 Meter groß und 75 Kilo schwer war. Er sah eher aus wie 25 als 35, tatsächlich war er aber 35 Jahre alt.

Und er hatte immer noch die bohrenden, fast stechenden braunen Augen. Sie waren der einzige Hinweis darauf, dass der Mann gegenüber von ihr mindestens neunzehn Menschen oder vielleicht sogar doppelt so viele getötet hatte.

Auch die Zelle hatte sich nicht verändert. Sie war klein, mit einem schmalen, deckenlosen Bett, das an der hinteren Wand verschraubt war. Ein kleiner Schreibtisch mit einem daran befestigten Stuhl befand sich in der hinteren rechten Ecke neben einem kleinen Metallwaschbecken. Dahinter befand sich eine Toilette hinter einer Kunststoffschiebetür für ein wenig Privatsphäre.

„Fräulein Jessie“, schnurrte er leise. „Was für eine unerwartete Überraschung, dass ich Sie hier treffe.“

„Und doch stehen Sie da, als hätten Sie meine bevorstehende Ankunft erwartet“, antwortete Jessie und wollte Crutchfield nicht einmal einen Moment Vorsprung gewähren. Sie ging hinüber und setzte sich auf den Stuhl hinter einem kleinen Schreibtisch auf der anderen Seite der Glasfront. Kat nahm ihre übliche Position ein und stand wachsam in der Ecke des Raumes.

„Ich habe eine Veränderung in der Energie dieser Einrichtung verspürt“, antwortete er, sein Louisiana-Akzent war so stark wie eh und je. „Die Luft schien süßer zu sein und ich dachte, ich könnte einen Vogel draußen zwitschern hören.“

„Normalerweise sind Sie nicht so schmeichelnd aufgelegt“, bemerkte Jessie. „Möchten Sie mir mitteilen, warum Sie in einer so höflichen Stimmung sind?“

„Nichts Besonderes, Fräulein Jessie. Kann ein Mann nicht einfach die kleine Freude schätzen, die entsteht, wenn er einen unerwarteten Besuch erhält?“

Etwas in der Art und Weise, wie er den letzten Satz formuliert hatte, ließ Jessies Kopfhaut zum Kribbeln bringen, als ob hinter dem Kommentar mehr steckte. Sie saß einen Moment lang ruhig da und ließ ihre Gedanken arbeiten, unbekümmert der Zeitvorgaben. Sie wusste, dass Kat sie das Interview führen lassen würde, wie auch immer sie es wollte.

Als sie Crutchfields Worte in ihrem Kopf durchging, wurde ihr klar, dass sie mehr als eine Bedeutung haben könnten.

„Wenn Sie von einem unerwarteten Besuch sprechen, sprechen Sie von mir, Herr Crutchfield?“

Er starrte sie einige Sekunden lang an, ohne zu sprechen. Schließlich verwandelte sich das breite, erzwungene Lächeln auf seinem Gesicht langsam in ein bösartiges – und glaubhafteres – Grinsen.

„Wir haben die Grundregeln für diesen Besuch noch nicht festgelegt“, sagte er und drehte ihr plötzlich den Rücken zu.

„Ich glaube, die Zeiten der Grundregeln sind längst vorbei, nicht wahr, Herr Crutchfield?“, fragte sie. „Wir kennen uns schon so lange, dass wir einfach reden können, oder?“

Er ging zurück zu dem Bett, das an der Rückwand der Zelle befestigt war, und setzte sich hin, sein Gesichtsausdruck war nun leicht im Schatten versteckt.

„Aber wie kann ich sicher sein, dass Sie so entgegenkommend sind, wie Sie es von mir erwarten?“, fragte er.

„Nachdem Sie einem Ihrer Lakaien befohlen haben, in die Wohnung meiner Freundin einzubrechen und sie so erschreckt haben, dass sie immer noch nicht schlafen kann, bin ich mir nicht sicher, ob Sie mein Vertrauen oder meine Bereitschaft, Ihnen entgegenzukommen, vollständig verdient haben.“

„Sie haben diesen Vorfall erwähnt“, sagte er, „aber Sie lassen die vielen Male, in denen ich Ihnen in beruflichen und persönlichen Angelegenheiten geholfen habe völlig außer Acht. Jede so genannte Indiskretion meinerseits habe ich mit Informationen kompensiert, die sich für Sie von unschätzbarem Wert erwiesen haben. Alles, worum ich bitte, sind Zusicherungen, dass dies keine Sackgasse sein wird.“

Jessie sah ihn genau an und versuchte herauszufinden, wie zuvorkommend sie sein konnte, während sie gleichzeitig einen professionellen Abstand hielt.

„Wonach suchen Sie genau?“

„Im Moment? Das ist genau Ihre Zeit, Fräulein Jessie. Ich würde es vorziehen, wenn Sie sich nicht so fremd fühlten. Es ist sechsundsiebzig Tage her, seit Sie mich das letzte Mal mit Ihrer Anwesenheit beehrt haben. Ein weniger selbstbewusster Mann als ich könnte angesichts der langen Abwesenheit beleidigt sein.“

„Okay“, sagte Jessie. „Ich verspreche, Sie regelmäßiger zu besuchen. Genauer gesagt werde ich sicherstellen, dass ich diese Woche mindestens noch einmal vorbeikomme. Wie klingt das?“

„Es ist ein Anfang“, antwortete er unverbindlich.

„Großartig. Dann lassen Sie uns auf meine Frage zurückkommen. Sie haben vorhin gesagt, dass Sie die Freude schätzen, die dadurch entsteht, dass Sie einen unerwarteten Besuch bekommen haben. Haben Sie sich auf mich bezogen?“

„Fräulein Jessie, es ist zwar immer eine Freude, in Ihrer Gesellschaft zu schwelgen, aber ich muss gestehen, dass mein Kommentar tatsächlich auf einen anderen Besucher verweist.“

Jessie konnte spüren, wie Kat sich in der Ecke hinter ihr versteifte.

„Und auf wen beziehen Sie sich?“, fragte sie und hielt ihre Stimme ruhig.

„Ich glaube, das wissen Sie.“

„Ich möchte, dass Sie es mir sagen“, bestand Jessie darauf.

Bolton Crutchfield stand wieder auf und war jetzt im vollen Licht besser sichtbar, und Jessie konnte sehen, dass er seine Zunge in seinem Mund herumrollte, als wäre sie ein Fisch an einer Leine, mit dem er spielte.

„Wie ich Ihnen beim letzten Mal, als wir uns unterhielten, versichert habe, würde ich mich mit Ihrem Vater unterhalten.“

„Und das haben Sie?“

„Das habe ich in der Tat“, antwortete er so beiläufig, als würde er ihr die Zeit mitteilen. „Er bat mich, seine Grüße zu bestellen, nachdem ich Ihre überbracht hatte.“

Jessie starrte ihn genau an und suchte nach einem Hauch von Täuschung in seinem Gesicht.

„Sie haben mit Xander Thurman gesprochen“, bestätigte sie erneut, „in diesem Raum, irgendwann in den letzten elf Wochen?“

„Das habe ich.“

Jessie wusste, dass Kat unbedingt ihre eigenen Fragen hätte stellen wollen, um zu versuchen, die Wahrhaftigkeit seiner Behauptung zu bestätigen und wie es hatte passieren können. Aber in ihrem Kopf war das zweitrangig und konnte später angesprochen werden. Sie wollte nicht, dass das Gespräch abgelenkt wird, also fuhr sie fort, bevor ihre Freundin etwas sagen konnte.

„Was haben Sie besprochen?“, fragte sie und versuchte, das Urteil aus ihrer Stimme fernzuhalten.

„Nun, wir mussten ziemlich kryptisch sein, um seine wahre Identität den Zuhörern nicht preiszugeben. Aber im Grunde genommen ging es in unserem Gesprächs um Sie, Fräulein Jessie.“

„Um mich?“

„Ja. Wenn Sie sich erinnern, haben er und ich vor ein paar Jahren bereits geplaudert und er hatte mich gewarnt, dass Sie mich eines Tages besuchen könnten. Aber dass Sie einen anderen Namen haben als Jessica Thurman. Der Name, den er Ihnen gegeben hat.“

Jessie zuckte unwillkürlich vor dem Namen zurück, den sie seit zwei Jahrzehnten von niemandem mehr laut ausgesprochen gehört hatte, mit Ausnahme von sich selbst. Sie wusste, dass er ihre Reaktion bemerkte, aber sie konnte nichts dagegen tun. Crutchfield lächelte wissentlich und fuhr fort.

„Er wollte wissen, wie es seiner längst verlorenen Tochter geht. Er interessierte sich für alle möglichen Details – was Sie beruflich machen, wo Sie leben, wie Sie jetzt aussehen, wie Ihr neuer Name lautet. Er würde gerne wieder Kontakt mit Ihnen aufnehmen, Fräulein Jessie.“

Während er sprach, befahl sich Jessie, langsam ein- und auszuatmen. Sie erinnerte sich daran, ihren Körper zu öffnen und ihr Bestes zu geben, um ruhig auszusehen, auch wenn es nur eine Fassade war. Sie musste unbeirrt erscheinen, wenn sie ihre nächste Frage stellte.

„Haben Sie ihm irgendwelche dieser Details preisgegeben?“

„Nur eines“, sagte er schelmisch.

„Und was war das?“

„Zuhause ist, wo das Herz ist“, sagte er.

„Was zum Teufel soll das bedeuten?“, fragte sie, ihr Herz schlug plötzlich schnell.

„Ich habe ihm den Standort mitgeteilt, den Sie Ihr Zuhause nennen“, sagte er nüchtern.

„Sie haben ihm meine Adresse gegeben?“

„Ich war nicht so genau. Um ehrlich zu sein, kenne ich Ihre genaue Adresse gar nicht, und das trotz meiner Bemühungen, sie herauszufinden. Aber er weiß genug, damit er den Weg zu Ihnen finden kann, wenn er klug ist. Und wie wir beide wissen, Fräulein Jessie, ist Ihr Daddy sehr klug.“

Jessie schluckte kräftig und bekämpfte den Drang, ihn anzuschreien. Er beantwortete immer noch ihre Fragen und sie benötigte so viele Informationen wie möglich, bevor er aufhörte.

„Also, wie lange habe ich Zeit, bis er an meine Tür klopft?“

„Das hängt davon ab, wie lange es dauert, bis er die Puzzleteile zusammengesetzt hat“, sagte Crutchfield mit einem übertriebenen Achselzucken. „Wie gesagt, ich musste ein wenig kryptisch sein. Wenn ich zu konkret gewesen wäre, hätte das die Leute, die mich überwachen, in Alarmbereitschaft versetzt. Das wäre nicht produktiv gewesen.“

„Warum sagen Sie mir nicht genau, was Sie ihm gesagt haben? Auf diese Weise kann ich den wahrscheinlichen Zeitpunkt für mich selbst herausfinden.“

„Wo bleibt da der Spaß, Fräulein Jessie? Ich bin sehr angetan von Ihnen. Aber das erscheint mir als unangemessener Vorteil. Wir müssen dem Mann eine Chance geben.“

 

„Eine Chance?“ wiederholte Jessie ungläubig. „Wofür? Damit er einen Vorsprung hat und mich umbringen kann wie meine Mutter?“

„Das scheint nicht fair zu sein“, antwortete er und schien sich zu beruhigen, je aufgeregter Jessie wurde. „Das hätte er in dieser verschneiten Hütte vor all den Jahren tun können. Aber das hat er nicht. Warum also annehmen, dass er Sie jetzt verletzen will? Vielleicht will er nur einen Tagesausflug ins Disneyland mit seinem kleinen Mädchen machen.“

„Sie müssen mir verzeihen, wenn ich nicht so geneigt bin, ihm den Vorteil des Zweifels zu geben“, fauchte sie. „Das ist kein Spiel, Bolton. Sie wollen, dass ich Sie wieder besuche? Ich muss am Leben sein, um das tun zu können. Ich werde nicht mehr sehr gesprächig sein, sobald Ihr Mentor Ihr Lieblingsmädchen zerstückelt hat.“

„Zwei Dinge, Fräulein Jessie: Erstens verstehe ich, dass dies eine verstörende Nachricht ist, aber ich würde es vorziehen, wenn Sie nicht so einen vertrauten Ton mit mir annehmen würden. Mich mit meinem Vornamen anzusprechen? Das ist nicht nur unprofessionell, es ist unhöflich von Ihnen.“

Jessie seufzte leise. Noch bevor er ihr die zweite Sache sagte, wusste sie, dass er ihr nicht sagen würde, was sie wollte. Dennoch blieb sie still und biss sich buchstäblich auf die Zunge, falls er einen Sinneswandel erleiden würde.

„Und zweitens“, fuhr er fort und genoss es deutlich, ihr zuzusehen, wie sie sich wand, „während ich Ihre Gesellschaft durchaus genieße, nehmen Sie bitte nicht an, dass Sie mein Lieblingsmädchen sind. Vergessen wir nicht die wachsame Kat Gentry hinter Ihnen. Sie ist ein echter Pfirsich – ein verrottender, ranziger Pfirsich. Wie ich ihr mehr als einmal gesagt habe, beabsichtige ich, wenn ich diese Zelle verlasse, ihr einen besonderen Abschied darzubieten, wenn Sie verstehen was ich meine. Also bitte sehen Sie sich nicht als mein Lieblingsmädchen.“

„Ich…“ fing Jessie an, in der Hoffnung, seine Meinung zu ändern.

„Unsere Zeit ist leider abgelaufen“, sagte er knapp. Damit drehte er sich um und ging zu der winzigen Nische der Zelle mit der Toilette darin, zog die Plastiktür zu und beendete so das Gespräch.